Kolumne

Noch 21’177 Tage bis zum unverkrampften Sterben

Was wohl Isa jetzt wieder umtreibt? (Bild: Mike Bislin)

Hast du schon mal ausgerechnet, wie lange du noch leben wirst? Vermutlich nicht. Ist ja auch ganz schön gruslig. Rechnen muss nicht sein – aber wir sollten unverkrampfter übers Sterben reden. Die neueste «Isa, garantiert komplizert»-Kolumne.

Ich habe also dieses Totenkopf-Emoji gesehen. Und die Worte «Tag» und «Tod». Darunter eine ominöse Zahl – sie war fünfstellig. Zum Glück. In einem Horrorfilm würde sich jetzt bestimmt das Ticken des Sekundenzeigers einer Uhr in unseren Kopf bohren, vom irrendschnellen Herzschlag übertönt, meine Pupillen würden sich weiten. Die Kamera würde reinzoomen, durch die Augen hindurchgleiten, bis man im Gehirn irgendwelche Synapsen vor dem Kurzschluss sähe.

Aber wir sind ja nicht in einem Horrorfilm. Wir sitzen einfach nur da, auf diesen viel zu unbequemen Stühlen in dieser viel zu lauten Stadtluzerner Bar. Zwei Bier vor uns auf dem Tisch, seins leerer als meins. Tom Petty dröhnt aus den Musikboxen in den Ecken, er widmet Mary Jane einen letzten Tanz. Eine Frau fünf Tische weiter hinten erzählt ihrer Kollegin wutentbrannt von eventuellen Fremdgehereien ihres Partners und ja, es sei jetzt aus, sie habe das ja schon öfters gesagt.

Mein Blick schweift zurück aufs Handy-Display meines Kumpels. Zurück zu dieser Zahl, die «Tage bis zum Tod».

Ausrechnen, wie viele Tage es noch sind

Ich nehme einen grossen Schluck meines Biers. Ob denn alles okay sei bei ihm, frage ich ihn, er hatte doch mal so Probleme mit seinem Magen.

«Ach das», sagt er schliesslich, nachdem er mir vier Minuten lang die Geschehnisse und Erfolgserlebnisse rund um seine Gedärme erzählt hat, bis ich schliesslich Tacheles rede und auf sein Handy tippe. «Ach das meinst du.» Ganz ausgeglichen erzählt er mir, wie er letzthin ausgerechnet habe, wie lange er als heute 28-Jähriger, der wirklich versucht, mit dem Rauchen aufzuhören, noch leben wird. Er hat also die Lebenserwartung genommen, die Zigaretten und den Alkohol subtrahiert. Grosszügig nochmals addiert, weil er eigentlich ganz gesund lebe, «wir sind ja hier optimistisch.» Er holt Luft. Dann lebe er eben plus minus diese sechsstellige, digitale Zahl auf seinem Handy-Screen. «Jeden Tag wird’s ein Tag weniger – das pusht mich voll!» Aus jedem Tag wolle er seither das Maximum rausholen, egal ob heartbroken, verkatert, mies gelaunt.

Ich bin so bitzli irritiert, schockiert und fasziniert zugleich. Sage dann «ah, krass.» Mein 17-jähriges Ich hätte jetzt «Yolo» gesagt. Zu Zeiten, als wir aufgetakelten Teenies am «Pyjama-Abend bei der Kollegin» an der Whisky-Bar der Eltern von jeder Flasche einen Schluck in eine Pet-Flasche füllten und uns später durch einen Hintereingang in einen Stadtluzerner Club schmuggelten. Damals jedenfalls hätten wir in so einem Moment jetzt «Yolo» gesagt. You only live once, du lebst nur einmal.

«Es klingt jetzt vielleicht makaber …», sagte mir letzthin eine Finanz-Bloggerin. Aber es lohne sich, als junge Frau einmal auszurechnen, wie viel Geld man nach der Pension bis zum ungefähren Lebensende brauche. Altersvorsorge und so.

… ganz schön unheimlich

So nüchtern mit dem Sterben umgehen, das finde ich unheimlich. Altersvorsorge, Sterben und Tod sind Themen, die ich einfach vor mich hinschiebe, bis es vermutlich irgendwann zu spät ist. Spricht jemand das Thema an, umschiffe ich es gekonnt. Wie letzthin, als meine Mutter bei einem Nachtessen ganz beiläufig sagte, dass meine Schwester und ich ein Dokument unterschreiben müssten, sie sagte Wörter wie Erben und Haus, mal nicht mehr da sein. Mir schnürte es die Kehle zu. Und die Ohrmuscheln gleich dazu.

Stirbt es sich leichter, wenn wir darüber sprechen? Vermutlich schon. Irgendwie. Wenn man sich selbst Gedanken darüber gemacht hat, was mit den eigenen Organen nach dem Tod passiert, wie und wo man beerdigt werden will, wer was erbt – und das alles niederschreibt. Weil sich das Umfeld dann nicht damit abmühen muss und Wünsche eines anderen rekonstruieren muss, die nie geäussert wurden.

Unverkrampfter über den Tod reden

Sterben ist für mich etwas Abstraktes. Die Pandemie hat den Tod zwar näher gebracht, aber er ist etwas Abstraktes geblieben. Zahlen in Zeitungen und als Pushs auf unseren Handy-Bildschirmen, laborbestätigte Todesfälle. Doch das Sterben blieb abstrakt, schwarz auf weiss eben.

Es gab Todesfälle, die mich aufwühlten, weil es Menschen waren, die viel zu früh aus dem Leben gerissen wurden. Suizid, Drogen, Lungenkrebs. Aber ich habe noch nie einen Menschen verloren, der mir wirklich nahe war.

«Aus dem Leben gerissen werden». Oder schöner gesagt: «Die Augen für immer schliessen», «das Zeitliche segnen», «dahinscheiden», «seine letzte Fahrt antreten». Alles Ausdrücke, die angenehmer und leichter über unsere Lippen gehen. Ausdrücke, die es uns erträglicher machen sollen, übers Sterben zu reden.

Früher war der Tod etwas völlig Normales. Etwas, mit dem man völlig unaufgeregt umging. Kranke merkten, wenn sie an ihr Lebensende kamen. Familie und Freunde versammelten sich um das Bett der Sterbenden, um sich zu verabschieden. Die Hinterbliebenen wuschen sie, kleideten sie ein, bis sie aufgebahrt wurde. Um sie wieder zu besuchen, zu trauern, sich zu verabschieden. Der Tod war nichts, was man totschweigen wollte. Nach dem Tod eines Angehörigen musste man sich nicht erst mit administrativen Formalitäten herumschlagen, wie zum Beispiel den Totenschein besorgen oder Versicherungen informieren. Der Rest wird heute an ein Bestattungsunternehmen delegiert. Fürs Verabschieden und Trauern lassen sich die meisten nur wenig Zeit.

Tage nach dem Bier mit meinem Kumpel fällt an der Bushaltestelle – nur zwei Schritte neben mir – ein morscher Ast mit einem Knall zu Boden. Im Büro habe ich dann mal ausgerechnet, wie viele Tage es bei mir noch sein könnten. 21'177 Tage sind es. Habe ich einen Countdown auf meinem Handy eingerichtet? Nein. Aber vielleicht sollte ich einfach ein wenig unverkrampfter über den Tod sprechen.

Deine Ideefür das Community-Voting

Die Redaktion sichtet die Ideen regelmässig und erstellt daraus monatliche Votings. Mehr zu unseren Regeln, wenn du dich an unseren Redaktionstisch setzt.

Deine Meinung ist gefragt
Deine E-Mailadresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert. Bitte beachte unsere Netiquette.
Zeichenanzahl: 0 / 1500.


0 Kommentare
    Apple Store IconGoogle Play Store Icon