Gesellschaft
Luzerner Gesundheitsdirektor hat schlaflose Nächte

«Zu viele Leute sind immer noch zu sorglos»

«Noch nie sowas erlebt»: Regierungsrat Guido Graf informiert über die Vorkehrungen gegen das Coronavirus. (Bild: jal)

Die Luzerner Spitäler erwarten einen deutlichen Anstieg an Corona-Patienten. Entsprechend wird aufgerüstet. Gesundheitsdirektor Guido Graf sagt im Interview, wieso der Schein trügt, was er von einer Ausgangssperre hält und womit er seine Töchter nervt.

Die Corona-Pandemie hat im Kanton Luzern ihr zweites Todesopfer gefordert. Und die Verantwortlichen rechnen mit einem weiteren Anstieg der Fälle. Die Spitäler bereiten sich vor: In Nottwil wird ein Zentrum für den Notfall aus dem Boden gestampft, das Kantonsspital und die Klinik St. Anna haben die Zahl der Intensivplätze mehr als verdoppelt und seit Mittwoch sind Soldaten in Luzern im Einsatz (zentralplus berichtete).

Wir haben mit Luzerner Gesundheitsdirektor Guido Graf (CVP) über die aktuelle Lage gesprochen.

zentralplus: Guido Graf, wie viele bestätigte Fälle gibt es im Kanton Luzern aktuell?

Guido Graf: Derzeit liegt die Zahl bei rund 230. Die Zahl ist allerdings nie ganz aktuell und man muss generell vorsichtig sein mit diesen Angaben.

zentralplus: Wieso?

Graf: Der Schein trügt: Bei den oben genannten Fallzahlen handelt es sich um die Personen, die sich vor rund zwei Wochen mit dem neuen Coronavirus angesteckt haben und die auch tatsächlich getestet wurden. Viele Menschen tragen das Virus in sich und wissen es nicht – weil sie keine oder noch keine Symptome zeigen. Das Virus hat also quasi stets einen zeitlichen Vorsprung und getestet werden nur Personen mit Symptomen.

zentralplus: Sie rechnen mit einem deutlichen Anstieg der Fälle. Können Sie das beziffern?

Graf: Wir haben Modellrechnungen gemacht, basierend auf den Erfahrungen aus der Lombardei, dem Tessin und anderen Kantonen. Was diese Regionen erleben, zwingt uns zum Handeln. Prognosen sind jedoch immer schwierig und wir möchten auch nicht Ängste schüren. Wichtig ist und bleibt, dass sich jede Person an die Hygiene- und Abstandsregeln des Bundes hält. Das ist ein wichtiger Beitrag zur Bewältigung der Krise.

«Ich will nicht Baustellen und Betriebe schliessen, denn wir brauchen die Wirtschaft.»

zentralplus: Sie sagten an der Pressekonferenz am Mittwoch, ohne die Abstands- und Hygieneregeln drohe vielleicht auch im Kanton Luzern das Szenario Norditalien. Wir alle kennen die Bilder der dortigen Lazarette, der Armeefahrzeuge, welche die Toten abholen. Das schürt doch Angst.

Graf: Würden wir nichts unternehmen oder uns nicht an die Empfehlungen halten, hätten wir wohl ähnliche Verhältnisse. Die Bilder haben auch mich sehr beschäftigt. Das einfachste, effektivste und günstigste Mittel ist: Distanz halten und Hände waschen. Meine Töchter regen sich inzwischen auf, wenn ich ständig davon spreche. Aber ich sage es deutlich: Zu viele Leute sind immer noch zu sorglos und halten sich nicht daran. Diese Leute handeln unverantwortlich und gefährden sich und andere.

Kanton stellt Wirtschaftspaket vor

Der Kanton Zug hat am Dienstag sein Corona-Hilfspaket präsentiert, das unter anderem eine temporäre Steuersenkung vorsieht. Zieht der Kanton Luzern nach? Dazu wollte sich der Regierungsrat am Mittwoch nicht äussern. Er präsentiert sein Paket zugunsten der Wirtschaft diesen Donnerstag um 10 Uhr. Die Pressekonferenz wird auf www.lu.ch im Livestream übertragen. zentralplus wird natürlich darüber berichten.

zentralplus: Im «Sonntagsblick» haben Sie kürzlich für mehr Restriktionen plädiert. Braucht es Ihrer Meinung nach eine Ausgangssperre?

Graf: Was ich damit meinte: Wenn sich die gesamte Bevölkerung zwei Wochen lang möglichst nicht mehr ausser Haus bewegen würde, würde der Verlauf der Patienten-Kurve viel stärker abflachen. Aber ich will nicht Baustellen und Betriebe schliessen, denn wir brauchen die Wirtschaft, auch um die Versorgung sicherzustellen.

zentralplus: Das heisst, die jetzigen Massnahmen sind ausreichend?

Graf: Ich bin froh, dass der Bundesrat das Zepter in die Hand genommen hat. Die aktuellen Massnahmen würden genügen, wenn sich die Menschen daran halten. Es geht also darum, dass die Menschen sich verantwortungsvoll verhalten, damit der Bund keine weitergehenden Massnahmen verordnen muss.

zentralplus: In Zukunft werden in Luzern mehr Menschen getestet, seit diesem Mittwoch ist das Drive-in-Testcenter in Betrieb. Mit welcher Erwartung?

Graf: Im Drive-in-Testcenter werden nur Personen auf eine ärztliche Überweisung hin getestet. Mit der neuen Infrastruktur können mehr Menschen effizient und schnell getestet werden. Das hilft, um die Verbreitung des Virus einzudämmen und verletzliche Personengruppen zu schützen – und es entlastet das Personal und die Infrastruktur im Gesundheitswesen.

Die Luzerner Spitäler rüsten sich: Angestellte vor der Isolierungsstation in Sursee. (Bild: zvg)

zentralplus: Sie haben vor knapp einer Woche gesagt, die Welle komme in 5 bis 8 Tagen. Das heisst, die Spitze steht nun vor der Tür?

Graf: Die Spitäler haben derzeit noch freie Kapazitäten bei den Betten, aber die Welle rollt auf uns zu. Deshalb bauen wir jetzt aus: In Nottwil entsteht ein Medical Center mit 200 Betten in einer ersten Phase, das Paraplegiker-Zentrum Nottwil könnte uns weitere 100 Betten zur Verfügung stellen und die Rehaklinik Sonnmatt, die neu als Akutspital gilt, bietet 80 Plätze. In der Klinik St. Anna stehen mehr als 100 Betten für Corona-Patienten bereit und an den drei Standorten des Kantonsspitals sind es aktuell über 120 Betten, 200 zusätzliche sind in Planung und könnten schnell realisiert werden. Je mehr sich die Leute an die Empfehlungen halten, desto besser kann die Welle abgeflacht und in die Länge gezogen werden.

zentralplus: Das sind alles in allem rund 800 Betten. Reicht das?

Graf: Wir haben alles vorbereitet, damit wir reagieren können. Ich stelle mir immer die Frage: Machen wir zu viel, machen wir zu wenig? Wir geben das Beste und machen im Zweifelsfall lieber zu viel als zu wenig.

«Vieles geht mir nahe und manchmal frage ich mich: Ist das noch die Realität?»

zentralplus: Vor einigen Monaten gab es im Zentrum für Intensivmedizin am Luzerner Kantonsspital personelle Engpässe (zentralplus berichtete). Wie sieht es derzeit aus?

Graf: Das Problem ist gelöst. Ja mehr noch: Das LUKS hat die Zahl der Intensivplätze verdoppelt, die Klinik St. Anna ebenso.

zentralplus: Hat Luzern genügend Personal im Gesundheitsbereich?

Graf: Ich bin zuversichtlich. Wir bilden Schwerpunkte, damit personelle Ressourcen frei werden. Zum Beispiel, indem wir die Geburtshilfe in einem ersten Schritt von Wolhusen nach Luzern verlagern. Seit Mittwoch sind zudem 84 Soldaten im Einsatz. Die Herausforderung ist eher, zu verhindern, dass die Angestellten krank werden oder ihre Kräfte nicht ausreichen.

zentralplus: Wie hat sich Ihr persönlicher Alltag verändert?

Graf: (überlegt). Es ist eine sehr spezielle Situation. Seit vier Wochen bin ich tagtäglich wegen dieser Krise unterwegs, auch am Wochenende. Vieles geht mir nahe. Und manchmal frage ich mich: Ist das noch die Realität? Wenn ich draussen das schöne Wetter sehe und gleichzeitig realisiere, was wir aktuell machen, wähne ich mich manchmal in einer verkehrten Welt. Ich hätte nie mit einem solchen Ereignis gerechnet und habe auch noch nie so etwas erlebt. Und ich bin ehrlich: Ich schlafe nicht mehr gut. Ich bin jede Nacht ab 3 Uhr wach und beginne, den kommenden Tag vorzubereiten. Aber ich weiss, es geht vorbei. Wir müssen einfach durchhalten.

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