Luzerner in den USA

Route 66 mit dem Velo: Warum ihm einmal nicht reichte

Hinter Marcus Fihlon liegen drei Monate auf dem Velo. (Bild: zvg)

Frisch zurück aus den USA, erzählt ein Luzerner, warum er mit dem Velo die legendäre Route 66 vom Atlantik zum Pazifik gefahren ist. Und das zum zweiten Mal.

Es ist Oktober 2023, als ein Mann mit rot kariertem Hemd auf dem St. Monica Pier in Los Angeles steht. Die Palmen wehen, der Pazifik schäumt, die Sonne brennt auf den Steg. Plötzlich überkommt ihn eine Welle von Glücksgefühlen und Trauer. Im Trubel der Touristen steht er da, braun gebrannt neben einem grünen Velo, und Tränen steigen auf.

Drei Monate später sitzt Marcus Fihlon in der Bäckerei Bachmann in Luzern und erzählt, wie es dazu kam. «Oft träumt man von Dingen, bis es zu spät ist», sagt der 50-Jährige und blickt aus dem Fenster auf die grauen Fassaden. «Machen! Einfach machen!» Das sei im Leben wichtig. Die Lautsprechermusik wummert zu seiner Botschaft.

Hunderte Male sei er über seinen Schatten gesprungen, sagt der Luzerner. In den Tiefen der USA, auf hohen Gebirgspässen und in menschenfeindlichen Wüsten begegnete er seinen persönlichen Grenzen. Und hat sich, nur mit dem Velo, bewiesen, was er als Kind für unmöglich gehalten hätte.  

Schüchternheit überwinden als Lebensaufgabe

Marcus Fihlon war zwölf Jahre alt, als er sein erstes Computerprogramm schrieb. Als schüchterner Junge aus schwierigen Verhältnissen fand er Zuflucht in der digitalen Welt. Auf der Strasse nach der Uhrzeit zu fragen, traute er sich nicht. Anfang der 2010er-Jahre kam der Autodidakt nach Luzern, als Softwareentwickler für die CSS.

Seine Schüchternheit nahm er mit – das hinderte ihn. «Früher arbeiteten Programmierer in der dunklen Kammer. Heute musst du auf Gruppen zugehen können», sagt er. Also wollte er sich verändern, mutiger werden, über seinen Schatten springen.

Nach Jahren gelang ihm ein erster Durchbruch. Bei einer internationalen Messe stand er vor 400 Zuschauern auf der Bühne. «Trotz meiner Angst lief es gut», sagt Marcus Fihlon stolz. «Von da an habe ich meine Komfortzone immer öfter verlassen.» Zurück in der Schweiz begann er, IT-Treffen zu organisieren, an einer Zeitung mitzuwirken und öfter auf Bühnen zu gehen.

Noch wusste Marcus Fihlon nicht, dass er bald mit dem Velo in der Wüste stehen würde. (Bild: zvg)

Kein Jahr später wollte er über grössere Schatten springen. Mit dem Velo durch die USA, vom Atlantik zum Pazifik, entlang der verzweigten Route 66. Die Idee sei ihm bei einer Reise nach San Francisco gekommen, als er ein Schild der legendären Strecke gesehen hätte, erinnert er sich. «Aber ich hatte Zweifel wegen meiner Körperfülle.»

2019, die erste Reise: Mit dem E-Velo die Route 66

Er überwindet die Sorgen. Es ist August 2019, als Marcus Fihlon ein Frachtschiff am Hafen von Philadelphia verlässt. Elf Tage Überfahrt seit Amsterdam liegen hinter ihm, 4500 Kilometer vor ihm. Dabei hat er wenig Gepäck und ein E-Bike. Denn sich und seine Sachen durch das hüglige Ohio und über die Appalachen zu bewegen, ist für den 130-Kilo-Mann auch mit Motor herausfordernd.

Seine Route 2019. (Bild: zvg)

«Wenn man ganz allein ist, bis zum Horizont niemanden sieht, kein Auto, keinen Zug, keinen Menschen, kein Tier, ist das psychisch eine Herausforderung», erinnert sich Marcus Fihlon an die einsamen Wochen, die folgten. Teils meldete er sich beim Sheriff eines Dorfs ab, bevor er in die Leere fuhr. Nachts schlief er in Motels.

An einem Rastplatz bei einer stillgelegten Bahnlinie schenkte ihm ein Mädchen einen bemalten Stein. «Keep going» stand darauf. Wenn er fortan das schwere E-Bike die Berge hochschob oder die Sonne beim Flicken eines Reifens auf seinen Nacken brannte, griff er zum Stein in seiner Hosentasche.  

Am 17. Oktober erreichte der Luzerner Los Angeles. Er war eine Woche früher dort als geplant, also fuhr er weiter nach San Francisco. Dort angekommen, war er stolz auf sich – ruhen konnte er nicht. «Mein Ehrgeiz war geweckt. Ich wollte noch einmal durch die USA fahren. Aber ohne Motor», sagt er heute.

2023, die zweite Reise: Nur mit Muskelkraft die Route 66

Januar 2024, Bäckerei Bachmann in Luzern. Marcus Fihlon hat eine Stunde erzählt, sein Gipfeli liegt unangetastet in der Tüte. Rund 35 Kilogramm hat er im vergangenen Jahr abgenommen. Auch seinen Job bei der CSS hat er gekündigt. Für «frischen Wind», meint der 50-Jährige. Und um zu beenden, was er angefangen hat.

Marcus Fihlons zweite Reise auf der Route 66 beginnt im Central Park in New York. Ende Juli 2023 testet er dort gemeinsam mit einer Kollegin sein Velo nach dem langen Flug. Sie will ihn einen Monat auf seinem Weg in Richtung Westen begleiten. Die beiden laden ihre Velos auf eine Fähre in Richtung Long Island und starten.

Wilde Schildkröten, Rotwild und gleichgesinnte Veloreisende begegnen ihnen auf dem Weg über Pittsburgh nach Indianapolis. Die Wege sind gut ausgebaut, die Fahrt ein Genuss. Doch der fehlende Motor macht sich bemerkbar. «Ich war am Anfang absolut nicht fit und hatte nicht trainiert», erinnert sich Marcus Fihlon grinsend.

Nach vier Wochen bringt er seine Kollegin zum Flughafen in Chicago und ist wieder allein. Ohne Austausch mit seiner Begleiterin werden lange Etappen wieder schwerer. Umso wichtiger werden ihm Begegnungen. Einmal wird er gefragt, ob er das «Rote Kreuz» sei, wegen der Schweizer Flagge an seinem Lenker. Die Offenheit der Amerikaner steckt ihn an.

Am St. Monica Pier wartet ein langersehntes Ziel

Es folgen Hunderte Kilometer durch wilde Landschaften, über Pässe und Berge und vorbei an Autoskeletten und Diners. «Ungefähr ab der Hälfte merkte ich, ich packe es nach LA.» Kurz vor Hollywood quält sich Marcus Fihlon ein zweites Mal über den Cajon Pass, dann rollt er durch Beverly Hills und die Viertel der legendären Stadt der Träume.

Zweieinhalb Tage braucht er für die Metropole, den Pazifik kann er nicht sehen. Dann biegt er auf eine palmengesäumte Strasse ein und fährt auf den St. Monica Pier zu. Er trägt ein rot kariertes Hemd an diesem Tag. Auf dem Steg überkommt ihn Glück, über das Erreichen eines Ziels, das er seit Jahren verfolgt. Und Trauer über das Ende seiner langen Reise.

Hinweis für Velobegeisterte und Interessierte

Marcus Fihlon hat seine beiden Reisen auf der Website Komoot detailliert veröffentlicht, mit Angabe jeder einzelnen Tagesetappe und Bildern. Wer es ihm gleichtun will, kann die öffentlichen Daten für die Reise 2019 hier und für die Reise 2023 hier einsehen.

Hinweis: In einer früheren Version fuhr Marcus Fihlon über den Cahuenga Pass in LA. Tatsächlich war es der Cajon Pass.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Marcus Fihlon
Deine Ideefür das Community-Voting

Die Redaktion sichtet die Ideen regelmässig und erstellt daraus monatliche Votings. Mehr zu unseren Regeln, wenn du dich an unseren Redaktionstisch setzt.

Deine Meinung ist gefragt
Deine E-Mailadresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert. Bitte beachte unsere Netiquette.
Zeichenanzahl: 0 / 1500.


1 Kommentar
  • Profilfoto von MikeLeon
    MikeLeon, 17.02.2024, 20:24 Uhr

    Danke für den fesselnden Artikel Herr Kreibich und Hut ab Herr Fihlon, ich bewundere Ihren Mut und Durchhaltewillen. Eine sensationelle Leistung.

    👍3Gefällt mir👏0Applaus🤔0Nachdenklich👎0Daumen runter
Apple Store IconGoogle Play Store Icon