Michael Jucker ergründet die Schattenseiten des Sports

Luzerner Sporthistoriker: «Frauen ging es nicht um Emanzipation – sie wollten einfach Fussball spielen»

Michael Jucker forscht und lehrt an der Universität Luzern und ist Co-Leiter des FCZ-Museums in Zürich. (Bild: ida)

Historiker Michael Jucker forscht seit einigen Jahren über die düsteren Seiten des Sports. Er weiss: Sport ist viel mehr als gewinnen und verlieren. Ein Gespräch, an dem auch Sportmuffel Gefallen finden könnten.

Für welchen Fussballclub sein Herz schlägt, daraus macht Michael Jucker keinen Hehl. Im FCZ-Pullover erscheint er lässig gekleidet zum Interview. Der an der Universität Luzern forschende und lehrende Sporthistoriker gewährt uns Einblick in die momentan geschlossene, von ihm mit kuratierte Sonderausstellung zu 50 Jahre Schweizer Frauenfussball im FCZ-Museum an der Zürcher Werdstrasse.

zentralplus: Michael Jucker, wie kommt man als Mittelalter- und Frühneuzeithistoriker auf die Idee, sich so intensiv mit Sportgeschichte zu befassen, wie Sie es tun?

Michael Jucker: Schweizer Sportgeschichte ist nicht nur Vereinsgeschichte mit Siegen und Niederlagen. Es steckt so viel mehr dahinter: Sportgeschichte ist auch Sozial-, Kultur-, Geschlechter- und Wirtschaftsgeschichte. Historikerinnen und Historiker haben in der Schweiz durchaus gute Sportgeschichte betrieben. Ich realisierte jedoch, dass es in der Geschichte des vormodernen Schweizer Sports eine Forschungslücke gibt, und ich wollte dort mein akademisches Wissen einbringen. Mittlerweile faszinieren mich die modernen Sportarten aber genauso. Zudem habe ich mich schon immer für Sport interessiert, ich habe Handball gespielt und bin grosser Fussballfan.

zentralplus: Immer wieder heisst es: Sport verbindet. Ihre Forschung offenbart aber gerade auch die Schattenseiten des Sports. Das ist folglich paradox.

Jucker: Es ist ein Widerspruch, das stimmt. Sport ist eine riesige Integrationsmaschine, aber Sport exkludiert auch. Gerade beim Schwingen zeigte sich die Frage, wer mitmachen darf, schon sehr lange. Frauenschwingen ist erst seit den 80er-Jahren möglich. Für mich ist es auch überhaupt nicht erstaunlich, dass sich der Schwinger Curdin Orlik erst jetzt outete. Doch der Schwingerverband hat gut reagiert darauf. Sport hat aber auch ein enormes Integrationspotenzial und gerade der Profifussball gilt als Aufstiegsmöglichkeit für Secondas und Secondos. Die Schweizer Fussballnationalmannschaft etwa ist extrem divers.

«Wir haben praktisch keine Skifahrerin oder keinen Skifahrer in der Schweiz mit Migrationshintergrund im Nationalkader.»

zentralplus: Wie sieht es bei anderen Sportarten aus?

Jucker: Bei anderen Sportarten kann die soziale und regionale Herkunft schon eine Rolle spielen. Beispielsweise haben wir praktisch keine Skifahrerin oder keinen Skifahrer in der Schweiz mit Migrationshintergrund im Nationalkader. Das hat vermutlich auch mit der Tradition und den hohen Kosten dieser Sportart zu tun. Aber auch für Skifahrerinnen und -fahrer aus dem Unterland ist es schwieriger als für solche aus Bergregionen. Interessant ist ja auch, dass bei Roger Federer, der eine südafrikanische Mutter hat, die Herkunft medial völlig ausgeblendet wird, bei Fussballern mit afrikanischem Hintergrund aber immer betont wird. Warum eigentlich?

zentralplus: Die Vorkommnisse in Magglingen haben die Schweiz erschüttert. Schnell wurde von einem systemischen Problem gesprochen und vom Druck, der in den verschiedenen Ebenen der Verbände herrscht. Waren solche Entwicklungen aus der Retrospektive des Historikers absehbar?

Zur Person

Michael Jucker ist Privatdozent und Lehrbeauftragter für Sportgeschichte, Geschichte des Mittelalters und der Renaissance an der Universität Luzern.

Er hat das Portal Swiss Sports History ins Leben gerufen. Mit diesem Portal will Jucker mit seinen Mitarbeitenden die Vernetzung der Forschung in der Schweizer Sportgeschichte vorantreiben. Die digitale Plattform soll zudem den Zugang zur Sportgeschichte erleichtern, sie in Schulen vermitteln und dafür sorgen, dass das kulturelle Erbe des Sports erhalten bleibt.

Jucker ist zudem seit August 2019 Co-Leiter des FCZ-Museums in Zürich, wo der 50-Jährige auch wohnt.

Jucker: Nein, absehbar war das aus historischer Sicht vielleicht nicht auf den ersten Blick. Als Historiker ist man ja durchaus auch immer ein wenig verspätet dran, weil erst die Medien und dann die Geschichtswissenschaften darüber schreiben. (Er lacht.) Die Gefahr von Missbrauch ist im Leistungssport häufig gegeben. Vermutlich wollte man in der Schweiz die Warnsignale aus dem Ausland nicht wahrnehmen.

zentralplus: Gab es solche?

Jucker: Ja, es gab einige: Vor etwa drei Jahren wurden in England die Missbräuche von Fussballjungen aufgedeckt. In England gab es ähnlichen Psychoterror wie im Kunstturnen, aber auch sexuellen Missbrauch. Dann folgten die amerikanischen Fälle von Missbrauch im Kunstturnen. Spätestens dann hätte man genauer hinschauen müssen. In der Schweiz hat man kein Sensorium entwickelt, dass das ein System ist, das sehr viel Drill verlangt und deswegen besonders anfällig ist gegenüber Psychoterror und Missbrauch. Im Kunsturnen gibt es jedoch eine Entwicklung, die man historisch erklären kann.

zentralplus: Wie meinen Sie das?

Jucker: Vor allem das Kunstturnen wurde von einem Frauen- zu einem Kindersport. Insbesondere Rumänien, die Sowjetunion, Russland und China haben während des Kalten Krieges und danach damit begonnen, immer jüngere Athletinnen zu pushen und an Olympiaden und Weltmeisterschaften zu schicken. Dadurch haben sich das Körperbild und der Drill im Kunstturnen massiv in eine gefährliche Richtung verändert. Hinzu kam das Lolita-Phänomen: Trotz ihres jungen Alters tragen die Athletinnen sehr enge und kurze Trainingsanzüge. Und gerade kleine Kinder – wir reden von Sechs- und Siebenjährigen, wenn sie in Leistungszentren geschickt wurden – können solchen Psychoterror nicht einordnen, sie können sich nicht wehren. Diese Zustände werden zur Normalität – die keine Normalität sein sollte.

zentralplus: Frauen wurden oftmals aus dem Sport ausgeschlossen. So auch beim Bobfahren, wo es 1920 hiess: «Bei einer Fahrt bäuchlings und bei hoher Geschwindigkeit soll das Brustkrebsrisiko stark erhöht sein.» Welche kuriosen Behauptungen machten früher sonst noch so die Runde?

Jucker: Beim Fussball hiess es, dass dieser für Frauen physisch nicht zumutbar sei. Helmar Bauer – einer der grössten Förderer des Frauenfussballs im Raum Zürich – erzählte uns, dass man sich an einer der ersten Sitzungen bei der Gründung der 1. Frauenfussballliga 1970 tatsächlich fragte, ob man Metall-BHs konstruieren müsse. Oft hiess es, dass Leistungssport die Gebärfähigkeit beeinträchtigen könne. Leistungssport sei zudem nicht ästhetisch genug für das weibliche Geschecht, es entspreche nicht dem weiblichen Wesen, wenn Frauen einen grobschlächtigen Sport wie Fussball ausübten. Und dass eine Frau für Mann und Kind sorgen und nicht auf den Platz oder in die Sporthalle soll. Solche Meinungen kursierten weit bis in die 70er-Jahre.

Einblick in den Dark Room der Sonderausstellung «Eine eigene Liga! 50 Jahre Frauenfussball in der Schweiz» im FCZ-Museum.

zentralplus: Warum wurden Frauen exkludiert?

Jucker: Männer hatten teilweise Angst vor einer «Vermännlichung» der Frau. Dass Frauen körperlich zu Mannsweibern werden würden. Und man befürchtete, dass Frauen in Männerdomänen eindringen.

zentralplus: Ist das heute noch der Fall?

Jucker: Am klassischsten zeigt sich das bei der Rudersektion des Grasshopper Clubs, der noch heute keine Frauen als Vereinsmitglieder zulässt. Ruth Wood ist eine britische Steuerfrau, die zwei Jahre mit den GC-Ruderern verbrachte und sehr erfolgreich war. Der Club hat ihre Mitgliedschaft abgelehnt. Das ist ein sehr krasses Beispiel aus der Gegenwart.

zentralplus: Ende der 60er-Jahre entstanden in der Schweiz die ersten Frauenfussballvereine. Insbesondere in der Romandie war man progressiv. Hinkte der Kanton Luzern nach?

Jucker: Nein. Das finde ich eben auch erstaunlich: Der Frauenfussball war kein protestantisch-urbanes Phänomen, wie man es erwarten würde. Beispielsweise wurde 1970 in Emmenbrücke ein Frauenfussballverein gegründet. Oder mitten in der katholischen Innerschweiz in Alpnach oder in Sion, eine ebenfalls eher konservativ und ländlich geprägte Region. Und genau hier entstanden vor 50 Jahren erste Fussballvereine, die Frauen akzeptierten. Klar gab es viele Widerstände, aber die gab es auch an protestantisch-urban geprägten Orten wie Zürich, Basel und Bern.

«Der Frauenfussball war eine Bewegung, die von unten her kam, er war von Einzelkämpferinnen selbst initiiert.»

zentralplus: Warum war es möglich, dass Frauensportvereine an ebendiesen Orten entstanden?

Jucker: Der Frauenfussball war eine Bewegung, die von unten her kam, er war von Einzelkämpferinnen selbst initiiert. Das war offensichtlich stärker als übergeordnete Kategorien wie die religiöse Zugehörigkeit oder politischer Konservatismus. Zum Beispiel gründeten die Stahel-Schwestern 1965 im Aargau den ersten Fussballverein der Schweiz, den FC Goitschel. Sie wollten einfach Fussball spielen und haben ihr Engagement nicht als Teil der damaligen Frauenbewegung verstanden. Neben den Pionierinnen und Kämpferinnen, die sich ihren Raum erkämpfen mussten, brauchte es auch Förderer. Häufig waren das Väter, wie bei Madeleine Boll, oder Trainer und Funktionäre.

zentralplus: Sie erwähnten im Vorgespräch bereits, dass sich die Pionierinnen nicht als Emanzen sahen …

Jucker: Nein, den Pionierinnen um 1970 ging es nicht um Emanzipation. Obwohl es der damalige Zeitgeist vermuten lassen könnte, mit der 68er-Bewegung und dem Kampf fürs Frauenstimmrecht. Die meisten Pionierinnen sagen heute: Wir waren nicht Teil einer Frauenbewegung, wir wollten nicht als politisch emanzipiert betrachtet werden. Wir wollten einfach Fussball spielen. Das hat auch mich extrem erstaunt. Heute gibt es einige Frauen, die den Sport und ihre Bekanntheit durchaus als Vehikel gebrauchen, um ihre politischen Botschaften zu verbreiten. Wie beispielsweise die Fussballerinnen Megan Rapinoe, Meriame Terchoun und Sarah Akanji, die sich auch sportpolitisch klar äussern.

Originaltransparente von Fussballspielerinnen am Frauenstreik 2019.

zentralplus: Männliche Fussballspieler scheinen da zurückhaltender zu sein. Weshalb?

Jucker: Im Schweizer Fussball fehlen noch professionelle Strukturen und Möglichkeiten für Frauen: Schweizer Profifussballspielerinnen können anders als Männer nicht vom Sport leben, sie studieren parallel oder sind berufstätig und sind daher häufig breiter interessiert. Die Vorurteile gegenüber ihnen sind teils noch gross, die mediale Berichterstattung ist im Vergleich mit den Männern immer noch viel weniger ausgeprägt. Vermutlich brennt es den Frauen deshalb mehr unter den Nägeln, wenn wir im 21. Jahrhundert noch immer Lohnungleichheiten haben. Männer erleben diese Ungerechtigkeiten im Sport ja nicht. Es gab aber auch immer wieder Fussballspieler, die sich politisch geäussert haben. Wie die Schweizerische Fussballnationalmannschaft 1995. Während der Nationalhymne entfalteten sie ein Banner mit den Worten «Stop it Chirac». Damit protestierten sie gegen die Nuklearversuche des damaligen französischen Präsidenten Jacques Chirac im Südpazifik. Dieser Protest war damals ein Riesenskandal.

zentralplus: Sie sind Hardcore-FCZ-Fan. Wenn Sie im Stadion sitzen …

Jucker: Ich sitze nicht, ich stehe. (Er lacht.) In der Zürcher Südkurve.

zentralplus: Pardon, Sie stehen also in der Südkurve. Nehmen Sie Unterschiede zwischen den weiblichen und den männlichen Fans wahr?

Jucker: Frauen singen auch, sie schwingen Fahnen und sind sehr engagierte Fans. Der Frauenanteil ist extrem gestiegen in den letzten rund zehn Jahren. Beim FCZ sind es sicher etwa 30 Prozent Frauen. Weibliche Fussballfans sind aktiv, aber sie sind nicht Teil der Gruppierungen. Diese sind rein männlich strukturiert. Wie lange es dauert, bis es weibliche Gruppierungen gibt, wie beispielsweise in Deutschland schon, kann ich nicht sagen.

«Wie wäre die Karriere von Martina Hingis verlaufen, wenn sie nie Kokain konsumiert hätte, wie das angeblich der Fall war?»

zentralplus: Erachten Sie den heutigen Sport als gleichberechtigt?

Jucker: (Er überlegt.) Der Sport wurde professioneller, gleichberechtigter, integrativer. Der Frauenfussball hat sich in den letzten 50 Jahren sehr schnell entwickelt, technisch wie taktisch. Der Männerfussball war nach den ersten 50 Jahren noch nicht so weit. Aber es gibt Diskrepanzen zwischen Sportlern und Sportlerinnen. Gerade bei der Vermarktung und bei der Entlöhnung. Es gibt nach wie vor gesellschaftliche Widerstände, beispielsweise, was Frauen in Kampfsportarten anbelangt. Auch die sexuelle Orientierung kann ein Ausschlusskriterium sein oder einen Karriereentscheide beeinflussen. Ich habe gerade letztens gelesen, dass die Eltern gegen die Karriere ihres Sohnes – ein Balletttänzer – waren. Weil sie Angst hatten, er werde schwul. Und warum gibt es keine Männernationalmannschaft im Synchronschwimmen?

zentralplus: Denken Sie, dass es eine Tennisspielerin heute auf dasselbe Level bringen könnte wie Roger Federer, was gesellschaftliches Ansehen, Medienpräsenz und Anerkennung betrifft?

Jucker: Ja, das glaube ich. Roger Federer ist sicherlich ein Ausnahmetalent. Und zwei weitere Dinge waren für seine Karriere entscheidend: Er war sehr lange nicht verletzt und sehr erfolgreich und hat nie auch nur einen Skandal produziert. Man kann auch umgekehrt fragen: Wie wäre die Karriere von Martina Hingis verlaufen, wenn sie nie Kokain konsumiert hätte, wie das angeblich der Fall war? Grundsätzlich ist es aber eine gesellschaftliche und ökonomische Frage, ob sich eine Sportlerin genauso gut vermarkten und präsentieren kann wie Federer. Alisha Lehmann mit über einer Million Followern auf Instagram oder Megan Rapinoe sind gute Beispiele, dass es funktionieren kann.

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