«Der Alkohol war meine Krücke»

«An manchen Tagen hatte ich schon bis morgens um zehn sechs Dosen Bier getrunken. Ich war gar kein Mensch mehr, sondern nur noch ein sich fortbewegender, leerer Rahmen.» Wenn Derek über seine überwundenen, schweren Alkoholprobleme spricht, sprudelt es förmlich aus ihm heraus.

Der 60-jährige, der in England geboren wurde und seit 26 Jahren in Luzern und in Zug lebt, möchte seinen vollen Namen lieber nicht nennen. Gleichzeitig hat der Familienvater von drei erwachsenen Kindern keine Hemmungen, gegenüber zentralplus offen zu seiner Suchtvergangenheit Stellung zu nehmen. Er lässt sich sogar fotografieren – ein Mut, der bewundernswert ist.

Der erste Schluck Sherry

«Ich hatte mit 13 den ersten Kontakt mit Alkohol, indem ich zu Hause bei meinen Eltern mal einen Schluck Sherry nahm oder halt etwas anderes probierte – was eben gerade da war», erzählt Derek. Später mit 15 sei er aufgrund seiner grossen Statur problemlos an Alkohol in den sogenannten «off-license»-Läden herangekommen – Geschäfte, in denen man in Grossbritannien ab 18 Jahren Alkohol kaufen kann.

«Als 20-Jähriger konnte ich an einem Abend ohne Weiteres zehn Bier trinken und einige Whiskys noch dazu – ohne ins Lallen zu verfallen.»

Derek J., ehemaliger Alkoholiker

«Und mit 16 bin ich dann schon regelmässig ins Pub um die Ecke gegangen und habe Bier getrunken», sagt er. Er habe einfach den Führerschein seines älteren Bruders vorgezeigt – auf dem damals noch kein Foto war.

Alkoholkonsum unter Jugendlichen ist in England nichts Aussergewöhnliches. «In der Pubertät probiert man ja vieles aus», sagt Derek. Ausserdem habe er mit 16 als Lehrling eines Maschinenbaubetriebs schon Geld verdient und sich deshalb am Wochenende im Ausgang einige Drinks locker leisten können.

Wobei Derek sich nicht nur durch den frühen Kontakt mit Bier an Alkohol gewöhnte. «Ich habe auch immer viel vertragen, ohne betrunken zu werden. «Als 20-Jähriger konnte ich an einem Abend ohne Weiteres zehn Bier trinken und einige Whiskys noch dazu – ohne ins Lallen zu verfallen.»

«In meinem Job war ich stets selbstbewusst und erfolgreich.»

Derek J.

Derek fühlte sich auch wie ein anderer Mensch, wenn er nicht arbeitete. «In meinem Job war ich stets selbstbewusst und erfolgreich.» Will heissen: Er arbeitete 36 Jahre lang für ein internationales Unternehmen: 1991 wechselte er sogar in die Schweizer Dependance dieser Firma. Er machte Karriere und stieg auf bis zum stellvertretenden Direktor für wirtschaftliche Entwicklung.

Doch privat hing er durch. Auch nach seiner Heirat mit einer Schweizerin und nach der Geburt seiner drei Kinder. Er kam sich orientierungslos vor. Labil. Unsicher. Nach Feierabend wartete stets der Alkohol auf ihn. Er trank zu Hause. Immer mehr und immer öfter. «Der Alkohol war meine Krücke. Ich war wie zwei verschiedene Personen.»

Im Aussendienst abends einsam im Hotel

Das Ganze verschlimmerte sich, als er auch noch in den Aussendienst kam und unter der Woche in den Hotels abends einsam vor sich hin trank. Längst war er alkoholsüchtig geworden. «Ich glaubte, ich hätte die Sache im Griff.» Aber dem war nicht mehr so.

Irgendwann häufte sich wie aus dem Nichts ein Schuldenberg an, weil Derek hemmungslos Geld ausgab, immer mehr kaufte – denn er verdiente gut. Die Schulden wuchsen ihm und seiner Familie schliesslich über den Kopf. Das Betreibungsamt stand plötzlich vor der Tür. Irgendwann setzte ihm seine Frau ein Ultimatum.

Er ging zur Suchtberatung Zug. Von dort aus wies man ihn in eine Klinik ein. Doch als er zurückkam, «war ich schnell wieder dort, wo ich aufgehört hatte. Nur wurde es jetzt noch viel schlimmer».

«Seit dem 10. Dezember 2014 habe ich keinen Tropfen Alkohol mehr getrunken.»

Derek J.

Inzwischen funktionierte auch die Ablenkung durch die Arbeit nicht mehr. Wegen seiner Alkoholprobleme verlor er schliesslich seinen Job. Er war am Boden. Aber seine Frau stand ihm weiterhin treu zur Seite, um ihn bei der Überwindung seiner Sucht zu unterstützen. Zusammen mit der Suchtberatung Zug schaffte er es am Ende doch noch, sauber zu werden. «Seit dem 10. Dezember 2014 habe ich keinen Tropfen Alkohol mehr getrunken», sagt Derek. Und er ist stolz darauf.

«Der Alkohol deckte alles zu in meinem Leben, jetzt fühle ich mich wieder wie eine freie Person», freut sich Derek. Er kann sogar inzwischen mit Leuten an einem Tisch sitzen, die Alkohol trinken, ohne sich in Gefahr zu wähnen, einen Rückfall zu erleiden. Und trotzdem ist er sich bewusst: «Als Ex-Alkoholiker bleibt man immer ein Alkoholiker – nur trinke ich jetzt nicht mehr.»