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Live-Kick ist plötzlich wieder da

Die Rückkehr der Gänsehaut nach dem Lockdown

Rock’n’Roll ist verdammt bequem geworden, den Kick gibt es nur noch in Ausnahmefällen. (Bild: Simon den Otter)

Letzte Woche stand ich endlich wieder einmal vor einer Bühne. Unter freiem Himmel, den Geruch von getrocknetem Schlamm in der Luft. Ein überteuertes Pitabrot in der einen und ein dürftig gekühltes Bier in der anderen Hand. Open Air halt – alles wie immer, aber doch so anders. Denn es war mein erstes Konzert seit dem Lockdown und sollte zu meiner Rehabilitierung werden.

Ich hatte da nämlich so ein Problem. Los ging es wohl mit elf oder zwölf Jahren, an meinem ersten Club-Konzert. Und mit «Club» ist hier die provisorisch geräumte Werkhalle einer hiesigen Schlosserei gemeint.

Mein Bruder hatte mich mitgenommen, die Band war offenbar schon damals recht bekannt. So stand ich da nun in der ersten Reihe. Ein Pre-Teenie, völlig überfordert und gleichzeitig fasziniert. Nicht nur spielte die Band mitreissende Musik, der lustige Frontmann erzählte dazwischen auch noch spassige Geschichten und zog damit mich und das ganze Publikum in seinen Bann. Entertainment pur, ich war «angefixt».

Don't get high on your own supply

In der meiner darauffolgenden Frühphase spürte ich immer eine unglaubliche Energie, sobald es um das Thema Live-Musik ging. Kein Weg zu weit, kein Wetter zu schlecht und kein Sound zu schräg. Ich holte mir den Kick, je lauter und je näher an der Bühne, desto besser. Hauptsache weg vom Alltag.

Und wenn besagter Kick mal ausblieb, griff ich halt zu härterem (Genre-)Stoff oder erhöhte die Dosis. Das ging damals noch wesentlich leichter, als ich später, inzwischen Mitarbeiter einer grossen Musikfirma, direkt an der Quelle sass.

Ehe ich mich versah, steckte ich mittendrin und wackelte jede Woche mindestens zwei- bis dreimal um irgendeine Bühne herum. Musik wurde zur Arbeit, das Live-Erlebnis zum feucht-fröhlichen Aussenbüro. Den Live-Kick durch immer noch grössere, noch lautere, noch fulminantere Shows gab es nun frei Haus.

Ich habs im Griff. Ehrlich!

Irgendwann ertappte ich mich dabei, wie der Genuss der dargebotenen Kunst in den Hintergrund rückte. Nicht, dass sie weniger gut geworden wäre, im Gegenteil. Nur: Ganz langsam wurde sie zu einem Bestandteil des Alltags, vor dem man ja eigentlich genau fliehen wollte. Und damit – per Definition – alltäglich.

Also verdrückt man sich immer öfter aus der Menge, um zu rauchen, zu trinken, zu plaudern und so ziemlich alles zu machen – ausser Musik zu geniessen. «Die Industrie tanzt nicht», war ein Spruch, den ich einmal aus Spass äusserte und der mir danach immer wieder genüsslich vorgehalten wurde.

Lösten früher schon die ersten Gitarrenakkorde oder der noch hinter der Bühne ins Mikrofon grölende Sänger Gänsehaut aus, gab es den Kick jetzt nur noch in Ausnahmefällen. So zum Beispiel bei meinem bislang letzten Aufeinandertreffen mit der Band aus der Schlosserei.

Es war 2019 auf dem Gurten und 20’000 Menschen sangen aus voller Kehle mit. Ich habe auch heute noch keine Ahnung, was Patent Ochsner über 20 Jahre zuvor in die leergeräumte Werkhalle getrieben hatte. Nun ihrem triumphalen Heimspiel beiwohnen zu dürfen, war natürlich die Steigerung ins Unermessliche.

Doch: Selbst hier stand ich abseits, möglichst nah beim Seitenausgang. Da hat es Platz und der Weg zur Bar (und zu einem sauberen WC) ist jeweils kurz. Zudem ist man da schnell wieder weg in Richtung Hotel, sobald das Konzert vorbei ist. Rock’n’Roll ist verdammt bequem geworden und an diesem Tag sah ich es endlich ein.

High on live (sic!)

Ich hielt mich für einen hoffnungslosen Fall – doch letzte Woche ist es tatsächlich passiert. Im tiefsten Aargau. Vor einer kleinen Bühne mit Tonproblemen.

Ich war gerade beim letzten Schluck Bier, als neben mir eine barfüssige Reggae-Polonaise vorbeizog. Vor der Pandemie hätte ich unter diesen Umständen wohl längst den geordneten Rückzug angetreten, aber nun war das alles egal.

Es war einfach wieder da! Das Kitzeln, die Aufregung, dieses unmittelbare und nicht reproduzierbare Erlebnis. Keine Flucht, sondern einfach nur ein paar schöne Stunden mit guten Menschen und Musik.

Auf der Heimfahrt beschloss ich, meinen nächsten Kulturblock diesem Thema zu widmen. Hoffend, dass es nicht nur mir so geht. Dass all die Menschen, die früher rund um die Bühnen anzutreffen waren, sich nicht von dieser grässlichen Pandemie haben abschrecken lassen. Dass sie alle, wir alle, dabei helfen, die Musiklandschaft möglichst bald wieder aufblühen zu lassen. Vom Gartenfest bis zum Gurten.

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