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Das vermeintliche Paradies entpuppte sich als Alptraum

Als 140 Luzerner auszogen, um in Brasilien neu anzufangen

Symbolbild. (Bild: Flickr/Peter Durand/Creative Commons)

Im Jahr 1819 fand die grösste Auswanderung der Schweizer Geschichte statt. Rund 2000 Schweizer wollten in Brasilien in einer eigenen Kolonie neu anfangen. Darunter waren auch 140 Luzerner. Wie nervenaufreibend dieses Unterfangen war, zeigen Aufzeichnungen.

Anfang der 1810er-Jahre hat es die Schweizer Bevölkerung nicht leicht. Das Wetter ist grösstenteils so schlecht, dass fast nichts wächst. Die wenigen Lebensmittel reichen nicht annähernd für die Bevölkerung aus, was dazu führt, dass viele verhungern. Eine Lösung musste her.

Wenn man zu viele Mäuler zu stopfen hat, muss man diese eben loswerden. Das zumindest scheint sich der Freiburger Konsul gedacht zu haben. Er schliesst mit dem Portugiesisch-Brasilianischen König einen Vertrag ab, denn dieser herrscht über ein Land in der neuen Welt, das kaum besiedelt ist. Die Idee: Schweizer Siedler nach Brasilien verfrachten. Eine Win-win-Situation für beide, so scheint es. Am 16. Mai 1818 erlaubt König João VI. offiziell die Gründung einer Schweizer Kolonie im Bundesstaat Rio de Janeiro. Ihr Name: Nova Friburgo.

Von Beginn an schlecht geplant

An der vom Kanton Fribourg initiierten Aktion beteiligt sich auch der Kanton Luzern. Nebst der Organisation entsenden sie 140 Personen, die am Schweizer Neuanfang mitwirken sollen. Dafür müssen sie allerdings auf ihre Bürgerrechte verzichten. Am 12. Juli 1819 verlässt die Gruppe die Stadt Luzern und geht nach Basel, wo das Unterfangen starten sollte. Insgesamt sind 2006 Personen aus elf Kantonen dem verlockenden Ruf der Ferne erlegen.

Doch schon die erste Etappe – via Rhein von Basel nach Holland – verläuft nicht nach Plan. Die Reise ist schlecht organisiert, und so kommt es zu Verzögerungen. Am 10. Oktober sticht schliesslich das erste von acht Schiffen mit den Schweizer Kolonisten in See. Die Überfahrt nach Rio de Janeiro dauert 69 Tage und ist ebenfalls schlecht organisiert. Dies lässt sich etlichen Briefen entnehmen, die sich im Staatsarchiv Luzern befinden.

In diesen ist unter anderem zu lesen, dass die Leute nicht erhalten haben, was ihnen versprochen worden war, vor allem, was die Verpflegung auf dem Meer anbelangte.

Das Menü auf der Überfahrt der Luzerner Auswanderer nach Nova Friburgo.
Die Verpflegung, die den Reisenden für die Überfahrt versprochen worden war.

Auch die hygienischen Bedingungen sind alles andere als angenehm. Vor allem Parasiten bietet sich ein wahres Festmahl dar:

Nichts ist auf dem Meer zu fürchten als bei einem solchen Transport von Menschen, so dass viele Ungeziefer, alles, niemand ausgenommen wird voll Läuse und Flöch.

Zu guter Letzt verlässt auch noch das Glück die Luzerner Abenteurer. In einem Bericht, der 1820 in Luzern ankam, schilderte der Auswanderer Franz Hunkeler die Überfahrt so:

Wir hatten immer guten Wind und würden gewiss in 7 Wochen in Rio Janeiro angekommen sein, wenn uns nicht auf dem Canarischen Meer nicht alle 3 Mastbäume abgebrochen wären.

Das führt dazu, dass etliche Personen bereits auf der Überfahrt versterben. Von der Luzerner Delegation kommen am Ende nur 123 Menschen lebend in Brasilien an. Was sie da allerdings noch nicht wissen: Es sollte nur noch schlimmer werden.

Ein vermeintlich perfekter Standort

Die Gemeinschaft findet Nova Friburgo schliesslich 150 Kilometer östlich von Rio de Janeiro vor. Das Gebiet scheint auf den ersten Blick perfekt zu sein: Eine kühle, eher bergige Region, die an Schweizer Verhältnisse erinnert. In einem Brief beschreibt ein Kolonist die Gegend als «wie Bündten-Glarus,-Uri,-Wallis, etc. zusammengesetzt».

Doch schnell stellt es sich heraus, dass die Region keinesfalls ein idealer Ort ist, um eine neue Stadt zu gründen. Die karge Landschaft gibt wenig her und auch der Ackerbau gestaltet sich trotz finanzieller Unterstützung des brasilianischen Königs schwer. Es ist zwar möglich, Mais, Kartoffeln oder Bohnen zu pflanzen, doch die tropischen Gewächse bleiben den Kolonisten verwehrt. Obwohl Ananas, Zitronen oder Bananen wachsen, gehen sie ein, sobald es kälter wird, heisst es in einem von mehreren erhaltenen Briefen. So schreibt Josef Wendelin Rüttimann 1825 in einem mehrseitigen Bericht unter anderem:

Viele Colonisten haben schrekliche Mühe verwendet und grosse Kosten gehabt auf ihren Land-Numeros und wollten es mit Gewalt zwingen, gute und schöne Pflanzungen zu machen, aber umsonst.

In seinem Brief schildert er weiter, dass immer mehr Kolonisten aus Verzweiflung wegzögen, in der Hoffnung, ihr Glück in einer anderen Region Brasiliens zu finden.

Brief eines Luzerner Kolonisten aus Nova Friburgo.
Auszug aus einem Brief den Josef Wendelin Rüttimann 1825 an Eduard Fpyffer, Präsident des Polizeirates von Luzern, sandte.

Auch die wenigen einheimischen Bauern zeugen davon, dass die Standortwahl für Nova Friburgo denkbar schlecht ist. Sie leben in eher ärmlichen Verhältnissen und halten sich vor allem mit Sklavenhandel über Wasser:

Man hat hier kein Luxus die Bauern gehen beinahe alle baarfuss, haben sehr schlechte Hütten und schlechte Bett. Sie arbeiten nichts, die Schwarzen nämlich die Neger machen alles. Diese werden wie das Vieh gebraucht und man handelt um sie wie bei uns um das Vieh. Ein Neger kostet 20 – 30 – 40 – 50 – bis 60 und 70 Louid'or.

Harte Arbeit für etwas Lebensqualität

Dennoch schaffen es einige Luzerner, sich zumindest eine minimale Lebensgrundlage zu erarbeiten:

«Habe aber von Glük zu reden, dass ich noch so durchgekommen. Habe doch keine Schulden, kann mit Weib und Kind recht leben und sind alle immer recht gekleidet. Was soviel unsere Kameraden in der Colonie nicht haben, die da kaum für's Maul fortkommen können um nicht zu hungern.»

Doch dies ist mit viel harter Arbeit verbunden, die viele nicht leisten wollen. Unter den 140 Luzernern, die ausgezogen waren, befinden sich nämlich auch viele, die sich ein einfaches Leben in Saus und Braus ausgemalt hatten. An harter Arbeit sind sie wenig interessiert und machen stattdessen ihren Mitmenschen das Leben schwer:

Dass aber auch viele unter den Ausgezogenen alte Saufer, Tagdieben, Vagabonden sind und geblieben, und aus eigner Schuld nicht aufkommen mögen, oder wollen, und viele derselben mit Ihrem schlechten Betragen denen gut angesehnen an Ihrem Etablissements-Orts Schaden und Schande verursachen, = wie wir's erfahren.

Nova Friburgo heute

Trotz aller dieser Widrigkeiten bleibt Nova Friburgo bestehen und wächst langsam, aber stetig weiter. In den folgenden Jahren kommen neue Auswanderer hinzu, vor allem aus Deutschland, Österreich, Italien und Portugal. Schliesslich sorgt die aufkommende Industrie für einen ersten wirtschaftlichen Aufschwung. Im 20. Jahrhundert sorgen dann die steigende Bildung und erste Touristen für weiteren Wohlstand. Vor allem der Schweizer Ursprung wird dabei immer stärker im Tourismusbereich vermarktet.

Heute ist Nova Friburgo eine Stadt mit rund 190'000 Einwohnern (Stand 2022). Die Schweizer Wurzeln des Orts sind indes noch immer sichtbar. Zum einen an gewissen Gebäuden, aber auch anhand der Nachnamen einiger Einwohner.

Verwendete Quellen
  • Staatsarchiv Luzern
  • SRF Beitrag «Nova Friburgo – Ziel der grössten Schweizer Auswanderung»
  • Offizielle Website der Statistikbehörde Brasiliens
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Ob Hintergründe zu alten Gebäuden, Geschichten zu Plätzen, stadtbekannte Personen, bedeutende Ereignisse oder der Wandel von Stadtteilen – im «Damals»-Blog werden historische Veränderungen und Gegebenheiten thematisiert.
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