Verzögertes Megaprojekt in Luzern?

Steinzeitfunde kommen Durchgangsbahnhof in die Quere

Archäologische Taucher bei Untersuchungen im Seebecken vor dem Luzerner Bahnhof. (Bild: zvg)

Im Seegrund der Luzerner Bucht stecken seltene Pfähle von Hütten aus der Steinzeit. Sie werden den Bau des Tunnels für den Durchgangsbahnhof beeinflussen.

Dichte Reihen an steinzeitlichen Pfählen stecken in der Luzerner Seebucht, meldet die Kantonsarchäologie. Sie stützt sich dabei auf jüngste Untersuchungen. An drei Orten im Vierwaldstättersee vor Luzern fanden Forscher Zeugnisse aus der Bronzezeit und der Steinzeit. Was für Archäologen eine Sensation ist, hat mehr als wissenschaftliche Relevanz. Denn wo die steinzeitlichen Pfähle stecken, sollen bald schon Züge fahren.

Für den Durchgangsbahnhof wird ein Tunnel im See versenkt

Der Durchgangsbahnhof Luzern (DBL) gilt als Jahrhundertprojekt für die gesamte Zentralschweiz. Auf vier unterirdischen Gleisen können Züge in Luzern künftig halten und in gleicher Richtung weiterfahren. Die Ergänzung des heutigen Kopfbahnhofs wird voraussichtlich 3,3 Milliarden Franken kosten. Den Entscheid über die Realisierung fällt das eidgenössische Parlament im Jahr 2026.

Für die 3,8 Kilometer lange Verbindung zwischen Ebikon und dem Bahnhof planen die SBB eine Technik, die in der Schweiz ein Novum ist. Fünf vorgefertigte Elemente der Tunnelröhre werden in den Grund des Vierwaldstättersees abgesenkt und dann zusammengesetzt. So muss das Seebecken nicht aufwendig trockengelegt werden (zentralplus berichtete).

Doch der DBL sorgt auch für Kopfzerbrechen. Politikerinnen aus der ganzen Zentralschweiz fürchten, dass der Bund das Megaprojekt auf die lange Bank schieben könnte. Eigentlich sollte der Bau 2030 starten, doch das Bundesamt für Verkehr hat mitgeteilt, bis 2033 keine zusätzlichen Projekte realisieren zu können (zentralplus berichtete).

Zentralschweizer Politiker haben daher diesen Herbst eine Petition lanciert, um Druck aufzubauen. Darin fordern sie, dass der DBL in einem Stück gebaut wird und spätestens 2040 in Betrieb genommen wird (zentralplus berichtete). Fast zeitgleich meldete die Luzerner Kantonsarchäologie einen Sensationsfund im See vor dem Bahnhofsplatz.

Beim künftigen Tunnel gibt es Pfähle aus der Steinzeit

Im Rahmen eines Vorprojektes für den DBL war ein internationales Forscherteam im Herbst 2021 auf Pfähle aus der Steinzeit gestossen. Die Geschichte Luzerns beginne also mit einer jungsteinzeitlichen Pfahlbausiedlung, teilte der Kantonsarchäologe Jürg Manser diesen Herbst erfreut mit. Mit einem Schlag war die Stadt Luzern 2400 Jahre älter als angenommen (zentralplus berichtete). Das zweite Mal in zwei Jahren.

Denn bereits im Jahr 2020 wurde Luzern 2000 Jahre älter. Archäologische Taucher fanden im See zwischen der Ufschötti und der Lidowiese erstmals Reste einer spätbronzezeitlichen Pfahlbausiedlung. Die Experten datierten die Funde auf das Jahr 1000 v. Christus. Nach einem Jahrhundert der Vermutungen war dies der erste Beweis für die prähistorische Besiedlung von Luzern (zentralplus berichtete).

Fundorte prähistorischer Pfähle: Nummer 3 liegt im Bereich des künftigen Tunnels für den DBL (türkis markiert). (Bild: Kantonsarchäologie Luzern)

Die neusten Funde sind nun eine Sensation der Extraklasse. Die Pfähle vor der Seebrücke datierten die Archäologen auf etwa 3400 v. Christus und damit in die Jungsteinzeit. Damals lebten die Menschen am Rande des Sees, der damals noch 5 Meter tiefer lag. Gefunden wurden die Pfähle 1,5 Meter unter dem Seegrund im Schlick. Zudem fanden die Forscher dort Keramikfragmente und verbrannte Getreidekörner.

Doch der Fundort ist – gelinde gesagt – ungünstig. Denn an Ort und Stelle soll dereinst der Absenktunnel für den DBL entstehen.

Ausgrabungen vor dem Baustart des Durchgangsbahnhofs

Drei Funde im Luzerner Seebecken in nur zwei Jahren werfen Fragen auf. Wie viel schlummert noch unter der Seeoberfläche? Und wie stark betreffen die Funde das Megaprojekt? Anna Kienholz von der Luzerner Kantonsarchäologie spricht von einer «grösseren Dichte an bisher unentdeckten Fundstellen im ganzen Flachwasserbereich des Seebeckens».

Auch im nördlichen Teil des künftigen Tunnels für den DBL sei mit weiteren Funden zu rechnen. «Hier sind zahlreiche Pfähle in dichten Pfahlreihen vorhanden, die genauer datiert und interpretiert werden sollen», erklärt die Expertin. Daher seien nun Rettungsgrabungen geplant.

Der Tunnel für den DBL wird die Luzerner Seebucht auf einer Länge von 400 Meter unterqueren. (Bild: Kanton Luzern)

Die archäologische Ausgrabung soll vor dem Baustart des DBL geschehen. Seine Bauphase werde «beeinflusst, aber nicht verzögert oder verhindert», schreibt der Kanton in einer Mitteilung. Die Kantonsarchäologie ergänzt auf Anfrage, dass rechtzeitig angekündigte Grabungen in der Regel Projekte nicht verzögern.

Dauer und Kosten der Grabungen sind unklar

Klar ist, dass die Forscher bei den Untersuchungen Neuland betreten, wie die Kantonsarchäologie anhand von drei Punkten ausführt. Erstens fehle in der Schweiz die Erfahrung mit Funden unterhalb des Seebodens an Flussmündungen mit Strömung. Ausserdem könnten im nördlichen Teil des künftigen Tunnels nicht nur mehr Pfähle, sondern auch Funde aus anderen Epochen auftauchen, wie etwa der Römerzeit. Zuletzt sei unklar, wie aufwendig das Ganze werde.  

Taucher der Unterwasserarchäologie Zürich beim Untersuchen der Bohrkerne aus dem Seebecken im Jahr 2021. (Bild: Kantonsarchäologie Luzern)

«Erst wenn die weiteren Untersuchungsergebnisse vorliegen, können die Befunde priorisiert, die Grabungsdauer bestimmt und die Grabungskosten berechnet werden», erklärt die Kantonsarchäologie in einer Mitteilung. Wer die Grabungen zahle, sei «Gegenstand weiterer Abklärungen zwischen dem Kanton und der SBB». Das Vorprojekt, das 2021 die ersten Pfähle vor der Seebrücke zutage förderte, hatte der Kanton gezahlt.

Erste Erkenntnisse in der Baugrube des Casino-Parkhauses

Klar ist ausserdem, dass archäologische Funde auf Megabaustellen keine Seltenheit sind. Beim Bau des Bahnhofs Stuttgart 21 fanden die Arbeiter in der deutschen Grossstadt historische Siedlungsspuren, die im Jahr 2014 aufwendig ausgegraben wurden. Ob das zur gigantischen Verzögerung des Projekts beigetragen hat, ist unklar. Fast zeitgleich wurde bekannt, dass beim Bau der Bosporus-Brücke in Istanbul archäologische Funde verschwiegen wurden, um bauliche Verzögerungen zu umgehen.

Auch in Luzern gab es archäologische Befunde auf Baustellen: zum Beispiel beim Bau des Casino-Parkhauses 1998. «Als die Baugrube beinahe ausgeräumt war, wurde die Kantonsarchäologie von Vertretern der Bauherrschaft auf Holzpfähle aufmerksam gemacht», steht in den Unterlagen der Kantonsarchäologie. Vor Ort waren allfällige «tiefere Strukturen» allerdings bereits mit frischem Beton überdeckt. In der Grube gelang den Experten nur noch der Beweis, dass der See früher tiefer lag.

Beim Bau des Tunnels für den DBL stehen die Zeichen für einen rechtzeitigen Baustart und eine fundierte archäologische Untersuchung gut. Kantonsarchäologie, Kanton und SBB arbeiten Hand in Hand – und das bereits Jahre vor dem Spatenstich, wie das Vorprojekt gezeigt hat. Spannend bleibt es allemal: Was werden die Forscher bei den geplanten Grabungen aus der Seebucht ziehen? Vielleicht ja die nächste Sensation.

Verwendete Quellen
  • Schriftlicher Austausch mit Anna Kienholz von der Luzerner Kantonsarchäologie
  • Unterlagen der Luzerner Kantonsarchäologie zum Casino-Parkhaus
  • Artikel auf Research Gate «Lake Lucerne and its Spectacular Landscape»
  • Medienmitteilung des Kantons Luzern zu den archäologischen Funden im Seebecken 2021
  • Medienmitteilung des Kantons Luzern zu den archäologischen Funden im Seebecken 2023
  • Medienmitteilung der SBB zu archäologischen Untersuchungen im Seebecken
  • Blog der Kantonsarchäologie Luzern zu Pfahlbauten im Seebecken
  • Telefonate und schriftlicher Austausch mit nicht genannten Experten
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