Reportage aus dem Erdbebengebiet

Luzernerin in Marrakesch: «Wir müssen hier raus»

Auf Plätzen wie diesen suchen die Bewohnerinnen Marrakeschs nach dem Erdbeben Schutz. (Bild: Leserreporterin)

In Marokko ist es zu einem starken, folgenschweren Erdbeben mit bislang mehr als 1000 bestätigten Todesopfern gekommen. Eine Luzernerin schildert die Eindrücke einer turbulenten Nacht in der Altstadt Marrakeschs.

Sie liegt seit zehn Minuten im Bett, das Zimmer durch die Klimaanlage angenehm heruntergekühlt. Im Innenhof ihres Hotels, einem für Marrakesch typischen Riad an der Chariaa-Antaki-Strasse, ist es nach einem heissen Tag nur noch 24 Grad warm.

Mit ihrem Freund ist die 21-jährige Luzernerin in einem Mietwagen zwei Wochen lang durch ganz Marokko gereist. Von Casablanca über Fès bis zu ihrer letzten Station: Marrakesch. Es ist die letzte Übernachtung der beiden, bevor es am Samstagmittag wieder zurück in die Schweiz gehen soll.

Der Boden schwingt hin und her

Doch kurz nach 23 Uhr am vergangenen Freitagabend wird es plötzlich laut. So, als ob ein Kampfjet tief über die Stadt hinwegflöge. «Nichts Unübliches», denkt sie sich, hat es während ihrer Reise doch schon einige Male aus dem Nichts heraus geknallt. Doch dann folgt ein Ruckeln – das sehr schnell sehr stark wird. «Uns wurde klar: Das muss ein Erdbeben sein», blickt die Luzernerin am nächsten Tag gegenüber zentralplus zurück.

Sie hat so etwas noch nie erlebt, fühlt sich hilflos, ein Anflug von Panik macht sich in ihr breit. Die Vase in der einen Zimmerecke stürzt vom Tischchen und zerbricht. Dem Schweizer Paar wird klar: «Wir müssen hier raus.» Das Erdbeben lässt den Boden, das ganze Zimmer hin und her schwingen. Irgendwie gelingt es den beiden, ihre Reisepässe einzustecken, sich irgendwas unter die Füsse zu klemmen und im Pyjama das Hotelzimmer zu verlassen. Sie befinden sich im zweiten Stock. Unter ihnen: ein riesiger, horizontaler Riss im Boden.

Gäste stürmen in Unterwäsche aus den Zimmern

Die beiden rennen hinunter in das Foyer, den Innenhof, wo der Boden stabiler ist als im zweiten Stock. Dort wartet der ebenfalls hilflos wirkende Rezeptionist. Er sei aus der Gegend, doch so etwas habe auch er noch nie erlebt, erzählt er den Gästen. Diese sind teilweise in Unterwäsche aus ihren Zimmern gestürmt, während andere das Wasser des Pools hätten überschwappen sehen.

Noch hält das Gemäuer. Das Riad solle erst vor Kurzem renoviert worden sein, meint der Rezeptionist beruhigend.

Nach einer sich endlos lang anfühlenden, knappen Minute ist der Spuk vorbei. Medienberichten zufolge soll es sich um ein Erdbeben der Stärke 6,8 gehandelt haben. Das weiss die Luzernerin zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Nur, dass es sich «extrem stark» angefühlt hat.

Flucht durch die baufällige Altstadt

Im Wissen um die Gefahr potenzieller Nachbeben kriechen sie und ihr Freund unter einen Tisch. Eine Viertelstunde später kommt es denn auch zum ersten Nachbeben. Spürbar, aber weniger heftig, als das erste Erdbeben. Infolgedessen ergreift der Rezeptionist die Initiative. «Alle raus aus dem Riad», lautet seine Anweisung, der die Gäste Folge leisten.

«Es fühlt sich merkwürdig an, einfach wegfliegen zu können, während die Menschen hier um ihre Angehörigen bangen.»

Luzerner Touristin in Marrakesch

Doch vor dem Riad befinden sich keine breiten Strassen oder schutzbietende Plätze. Sondern enge Gassen mit steilen Häuserwänden aus bröckeligem Material. Die Kulisse wirkt für einmal nicht hübsch, sondern äusserst bedrohlich. Mit ihrem Freund und den anderen Gästen des Riads rennt die Luzernerin durch die verwinkelte Altstadt, bis sie endlich auf einem grösseren Platz ein erstes Mal durchatmen kann.

Chaos herrscht

Der Platz ist voller Menschen, die von überall herströmen. Manche scheinen auf der Suche zu sein – wonach, das kann die Luzernerin nur vermuten. Sie sieht das Chaos, hört die Kinder schreien, beobachtet, wie einer alten Frau aus einem Haus herausgeholfen wird.

Wer kann, verlässt die Stadt. Bald kommt der Verkehr zum Erliegen. Auch, weil die Stadt offensichtlich nicht auf eine solche Ausnahmesituation vorbereitet ist. Denn die Erdbebengefahr wurde in Marokko bislang als gering eingestuft. Weder die Polizei noch Rettungswagen sollte die Luzernerin in dieser Nacht sehen.

Zurück durch die Trümmer

Als der Hotelrezeptionist dem Schweizer Paar eine App zeigt und ihnen versichert, dass die Gefahrenstufe von Rot über Gelb auf Grün gesunken ist, ist deren Erleichterung gross. Die beiden beschliessen, ihr Gepäck im Riad zu holen, um dann zum Flughafen zu fahren.

Als sie sich abermals durch die engen Gassen schlängeln, zeigt sich dort das Ausmass der Schäden: Mauern sind eingestürzt, später sollten sie von Trümmern völlig zerquetschte Autos sehen. Hätte das Beben länger angedauert, wäre wohl auch ihr Hotel, das Riad an der Chariaa-Antaki-Strasse, schwerer beschädigt worden. Mit ihren Koffern verlassen sie die Altstadt auf dem schnellstmöglichen Weg und fahren mit dem Taxi zum Flughafen.

«Es fühlt sich merkwürdig an, einfach wegfliegen zu können»

Dieser ist überfüllt, soll während der Nacht gar geschlossen worden sein. Am Boden schlafen Menschen. Doch für die Luzernerin und ihren Freund heisst es nun definitiv: durchatmen. Das Gebäude wirkt sicher, modern, stabil. Und ihre Fluggesellschaft wird sie – mit etwas Verspätung – am Samstagmittag zurück in die Schweiz fliegen.

«Es fühlt sich merkwürdig an, einfach wegfliegen zu können, während die Menschen hier um ihre Angehörigen bangen», sagt die Luzernerin gegenüber zentralplus.

Ersten Medienberichten zufolge soll das Erdbeben mehr als 1000 Menschen das Leben gekostet haben.

Verwendete Quellen
  • Telefonat mit einer Luzerner Touristin in Marrakesch
  • Artikel auf «SRF»
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1 Kommentar
  • Profilfoto von Hanswurst
    Hanswurst, 10.09.2023, 11:46 Uhr

    Eindrückliche Schilderungen und gut, dass ihr wieder im vermeintlich sicheren Luzern seid. Auch für Luzern wird die Erdbebengefährdung von Einwohnern/ -innen und Behörden gleichermassen als gering wahrgenommen. Das letzte grössere Erdbeben war 1601, mit geschätzter Magnitude 6, Epizentrum S des Stanserhorns, das den Bergsturz Bürgenstock mit Tsunami bis Luzern ausgelöst hatte. Dann möchte ich definitiv nicht in der auf schwabbeligem Boden gebauten Neustadt oder Talebene Horw, aber sicher auch nicht in Stansstad oder Buochs wohnen.

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