Gesellschaft
Über 11'000 Tote in der Türkei und Syrien

Erdbeben: So gross ist das Leid auch in der Zentralschweiz

Zerstörte Häuser nach dem Erdbeben in der Türkei. (Bild: Adobe Stock)

Ohnmacht, Wut und endlose Trauer: Eine kurdischstämmige Luzernerin beschreibt stellvertretend die Hilflosigkeit all ihrer Landsleute in der Zentralschweiz – und bittet um weitere Hilfe, um das unvorstellbare Leid zu mildern.

Asel* steht in der Tür und grüsst freundlich. Ihren Namen möchte sie nicht in der Zeitung lesen. Zu gross ist die Angst, dass sie etwas Falsches sagen könnte. Asel hat einen Türkischen Pass und spricht akzentfreies Schweizerdeutsch, wie nur wenige des Kurdischen Kultur- und Integrationsvereins in Luzern, in dem sie Mitglied ist.

Betroffene teilen Adressen eingestürzter Häuser in Chats

Sie bietet Tee an, ihr Mobiltelefon hält sie andauernd in der Hand. «Seit Montagmorgen bin ich nur am Handy. Alle Minuten werden Videos geteilt», sagt Asel. Per WhatsApp-Chat verbreiten Betroffene Bilder und Videos der kriegsversehrten Region. Mehr als 1'000 Personen sind bereits Mitglied des Chats. Die meisten Nachrichten haben eine ähnliche Struktur: Einheimische teilen ein Bild oder ein Video eines Hauses, das der gewaltige Erdstoss dem Erdboden gleichgemacht hat. Darunter der Aufruf, dass doch jemand nach Überlebenden unter dem Trümmerhaufen suchen möge. Sie selbst hat eine Aufnahme des zerstörten Wohnblocks geteilt, in dem ihre Tante wohnte.

Manche Bilder, die Asel zeigt, möchte niemand sehen. Sie tun auch ihr nicht gut, wie sie sagt. «Doch die Hoffnung bleibt bestehen, dass es positive Neuigkeiten gibt und ich diese so doch noch erfahren werde», sagt Asel. Sie zeigt den Chatverlauf mit ihrem Onkel. Wie die meisten hat der erste grosse Erdstoss auch ihn während der Nacht überrascht. Nach dem Erdbeben tauschte sie sich mit ihm aus. Er sendet ihr Sprachnachrichten und erklärt, dass es im gut gehe.

«Wir haben nicht mal richtige Informationen. Es ist alles in Schutt und Asche. In vielen Regionen ist die Hilfe gar nicht angekommen.»

Doch ein fast ebenso starkes Nachbeben überrascht Stunden später den Südosten der Türkei und den Norden Syriens. Asel scrollt im Chatverlauf weiter nach unten. Sie fragt erneut nach, wie es ihm geht. Doch die Nachrichten, die sie an ihn versandte, haben nur ein Häkchen auf der Seite. Seit dem zweiten Erbeben erreichen ihn die Nachrichten nicht mehr.

Obschon Asel seit über dreissig Jahren in der Schweiz lebt, hat sie noch immer eine grosse Verbindung zur Türkei, dem Land, in dem sie geboren ist. Sie reise jährlich ein- bis zweimal dorthin, zuletzt im Frühling des vergangenen Jahres. Sie ist hart getroffen und verspürt einen gewissen Groll gegenüber dem türkischen Staat. «Wir haben keine richtige Informationen. Es ist alles in Schutt und Asche. In vielen Regionen ist die Hilfe gar nicht angekommen.»

Erdbebenschutz ist ungenügend

Erdbeben muten wie Schicksalsschläge an, sie kommen aus heiterem Himmel. Für Asel ist aber klar: Auch der Zustand der Gebäude ist verantwortlich dafür, dass solche Schäden erst ermöglicht waren. Daher sagt sie dezidiert: «Vom türkischen Staat erhoffe ich mir gar nichts.»

Tatsächlich wird die türkische Regierung wohl bald Fragen beantworten müssen, was aus der Erdbebensteuer wurde, welche die Türkei im Jahr 1999 nach dem letzten verheerenden Erbeben eingeführt hat. Die Opposition vermutet schon länger, dass fast die Hälfte der Einnahmen aus der Steuer nicht in den Schutz von Wohnhäusern flossen. Dies berichtete der «Tages-Anzeiger» am Montag.

«Viele Menschen in Nordsyrien sind vom IS und vom Krieg geflüchtet. Jetzt haben sie nochmals einen Schicksalsschlag erlitten.»

Asel ist im Jahr 1992 als politisch Flüchtende von der Türkei in die Schweiz gekommen. Mittlerweile ist sie Doppelbürgerin. Zu schaffen macht ihr auch, dass die ebenfalls betroffene syrische Bevölkerung in Vergessenheit gerate. «Viele Menschen in Nordsyrien sind vom IS und vom Krieg geflüchtet. Jetzt haben sie nochmals einen Schicksalsschlag erlitten.»

Luzernerin überlegt sich, selbst in die Region zu reisen

Asel selbst überlegt sich seit dem Beben, selbst in die Region zu reisen. Sie ist gelernte Pharmaassistentin und glaubt, dass sie noch in der Lage sei, «einen einfachen Verband» zu binden. Heute arbeitet Asel nicht mehr auf dem Beruf, sondern bei der öffentlichen Hand.

Wieso Asel noch nicht in die Krisenregion geflogen ist? Sie gibt zu bedenken, dass eine Reise schwer zu planen sei. Sie wisse nicht einmal, ob der Flughafen Malatya erreichbar ist und ob sie in das Krisengebiet gelangen könnte. «Ich weiss auch nicht, was mich erwartet und ob ich das psychisch aushalte», sagt sie weiter.

Dass sie im Wohnzimmer sitzt, während ihre Heimatregion in Trümmern liegt, lässt sie eine gewisse Ohnmacht verspüren. «Es wird sich nichts verändern. Frühere Erdbeben haben das gezeigt. Die Menschen sind auf sich allein gestellt.»

Sie erhofft sich daher eine grosse internationale Solidarität. Am Montag hat die Schweiz 80 Spezialisten mit Suchhunden in die Südtürkei entsandt. «Ich bin sehr dankbar, dass die Schweiz bereits Hilfe entsendet hat. Aber wir benötigen noch mehr Hilfe.»

So kann man den Opfern der Erdbebenkatastrophe helfen

Mehrere grosse Schweizer Hilfswerke sammeln Geld für die Opfer der Erdbeben in der Türkei und in Syrien. So unter anderem Caritas Schweiz, das Schweizerische Rote Kreuz, Ärzte ohne Grenzen oder die Glückskette.

* Name geändert.

Verwendete Quellen
  • Ständige ausländische Wohnbevölkerung, Bundesamt für Statistik
  • Artikel im «Tages-Anzeiger»
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