Kinder müssen «Raserstrecke» überqueren

Kampf um Ex-Fussgängerstreifen auf Hünenberger Schulweg

Mitte-Kantonsrätin Anna Bieri fordert, dass der Fussgängerstreifen bei der Kreuzung Matten in Hünenberg wieder markiert wird. (Bild: Andreas Busslinger / Die Mitte Zug)

Ein einzelner Fussgängerstreifen gibt in Hünenberg seit Monaten zu reden. Dass dieser ausgerechnet zugunsten der Sicherheit entfernt wurde, sorgt in der Gemeinde für Unverständnis.

«Luege, lose, laufe.» Dieser Grundsatz des Strassenverkehrs wird Kindern schon ganz früh beigebracht. Er soll ihnen helfen, auf einem Fussgängerstreifen ohne Ampel sicher und selbstständig über die Strasse zu kommen.

So lernen wir früh, dass Fussgängerstreifen sichere Orte sind im Verkehr. Sozusagen das «Bänkli» beim Brettspiel «Eile mit Weile», wo man im Gegensatz zu allen anderen Feldern nicht gefressen werden kann. Doch in Hünenberg gilt dieser Grundsatz plötzlich nicht mehr.

Fussgängerstreifen ist Teil eines Schulwegs

Denn hier hat der Kanton im Rahmen der Sanierung der Sinserstrasse den Fussgängerstreifen bei der Kreuzung Matten entfernt – und dies ausgerechnet aus Gründen der Sicherheit (zentralplus berichtete). Stattdessen gibt es jetzt nur noch eine Mittelinsel, um die Strasse zu überqueren. Dieser Entscheid stütze sich auf «schweizweite Erkenntnisse und geltende Normen und Richtlinien im Strassenverkehrsrecht», wie der Kanton mitteilte.

Kinder vor dem Schulhaus Matten in Hünenberg. (Bild: Andreas Busslinger)

Doch der Entscheid sorgte in Hünenberg für Unverständnis. Denn in unmittelbarer Nähe der Kreuzung liegt das Schulhaus Matten. Die Kinder müssen den Schulweg über die Sinserstrasse nun ohne die Hilfe eines Fussgängerstreifens bewältigen. Das missfällt sowohl den Eltern als auch dem Hünenberger Gemeinderat.

«Als der Kanton das Projekt aufgelegt hat, hatten wir im Namen der Gemeinde wegen des fehlenden Fussgängerstreifens bereits Einsprache eingereicht», sagt Hubert Schuler, Gemeinderat und Vorsteher Sicherheit und Umwelt. Der Kanton hat diese jedoch abgewiesen und der Gemeinderat verzichtete darauf, sie weiterzuziehen.

«Das Gutachten schützt eher die Autofahrer, als die Fussgänger. Das ist für uns nicht logisch.»

Hubert Schuler, Gemeinderat Hünenberg

Doch bei den betroffenen Eltern und Anwohnerinnen regte sich Protest. Diese forderten den Kanton auf, den Fussgängerstreifen wieder zu markieren – und den Gemeinderat, sich ebenfalls für dieses Anliegen einzusetzen. Die Gemeinde hat daraufhin nochmals beim Kanton interveniert, worauf dieser bei der Beratungsstelle für Unfallverhütung (BFU) ein externes Gutachten erstellen liess. Und dieses kommt zum Schluss: Der Kanton hat richtig gehandelt, aus Sicherheitsgründen soll der Fussgängerstreifen nicht wieder markiert werden.

BFU-Gutachten sorgt für Kritik

Damit hat sich die BFU in Hünenberg keine Freunde gemacht: «Wir sind mit dem Gutachten überhaupt nicht einverstanden», sagt Gemeinderat Hubert Schuler. Er erklärt: «Das Gutachten schützt eher die Autofahrer, als die Fussgänger. Das ist für uns nicht logisch.»

Der Fussgängerstreifen am Knoten «Matten» ist verschwunden. (Bild: Kanton Zug)

Tatsächlich ist das Gutachten nicht ganz einfach zu verstehen, zumal wir ein Fussgängerstreifen erfahrungsgemäss mit Sicherheit für Fussgängerinnen verbinden. Doch BFU-Mediensprecherin Mara Zenhäusern relativiert: «Grundsätzlich bedeutet ein Fussgängerstreifen nicht automatisch mehr Sicherheit für die Fussgängerinnen und Fussgänger, sondern es wird lediglich der Vortritt geregelt.»

Zu wenig Fussgänger, zu schnelle Autos

Im Fall Hünenberg sind zwei Gründe ausschlaggebend für den Entscheid der BFU: Erstens wird der Fussgängerstreifen zu wenig oft frequentiert. Gemäss Norm müssten während der fünf meistfrequentierten Stunden insgesamt 75 Personen über den Fussgängerstreifen laufen. Bei der Kreuzung Matten sind es aber im Durchschnitt nur 26. «Wird die Frequenz unterschritten, rechnen die Autofahrenden nicht mit querenden Personen», erklärt Mara Zenhäusern. Die Frequenz gilt als eines der «Big Five»-Kriterien, die bei der Markierung eines Fussgängerstreifens ausschlaggebend sind. Hinzu kommen Kriterien wie die Sichtverhältnisse oder die Beleuchtung.

«An der besagten Stelle ergibt eine Anforderung wie Fussgängerfrequenzen beim besten Willen keinen Sinn.»

Anna Bieri, Mitte-Kantonsrätin Hünenberg

Kein Big Five-Kriterium, für die BFU im Fall Hünenberg aber dennoch ausschlaggebend, ist die Geschwindigkeit der Autos. Diese fahren auf der Sinserstrasse nämlich zu schnell. Die Strasse hat im Dorf den Ruf, eine Raserstrecke zu sein. Die Höchstgeschwindigkeit beträgt auf dem betroffenen Abschnitt 60 km/h, aber ein Grossteil der Autos fährt hier über 70 km/h schnell. In einem solchen Fall führe ein Fussgängerstreifen für ein falsches Sicherheitsgefühl bei Fussgängerinnen, wie es im Gutachten heisst. Deswegen ist es laut der BFU-Sprecherin sicherer, die Strasse über eine Mittelinsel zu überqueren.

Gemeinderat Hubert Schuler ist mit diesen Erklärungen nicht einverstanden. Zu den Frequenzen sagt er: «Ja, es sind nicht viele Kinder, die hier die Strasse überqueren. Aber bei jedem Einzelnen ist es wichtig, dass die Verkehrssicherheit gewährleistet ist.» Und auch vom Kriterienkatalog hält er wenig: «Vier der fünf Kriterien, die für einen Fussgängerstreifen sprechen, sind hier erfüllt. Wegen des einen nicht erfüllten Kriteriums auf den Fussgängerstreifen zu verzichten, macht aus unserer Sicht keinen Sinn.»

Jetzt beschäftigt sich auch der Kantonsrat mit dem Fussgängerstreifen

Mittlerweile hat die Diskussion auch den Zuger Kantonsrat erreicht. Mittels dringlichem Postulat fordern die sechs Hünenberger Kantonsräte – von ALG bis SVP – die erneute Markierung des Fussgängerstreifens. Postulantin Anna Bieri (Die Mitte) bestätigt, dass auf der Sinserstrasse zu schnell gefahren wird. «Doch selbst wenn die Tempolimiten eingehalten werden, ist die Querung der Sinserstrasse ohne Fussgängerstreifen problematisch bis unmöglich – sogar für Erwachsene.» Für die Sorge der Anwohner hat sie darum Verständnis. «Als Mutter von drei kleinen Kindern verstehe ich alle, die ihre Kinder nicht alleine auf diesen Schulweg schicken. Es würde mir genau gleich ergehen.»

Ob sie dem Gutachten der BFU – die Schweizer Anlaufstelle für Fragen zur Verkehrssicherheit schlechthin – nicht traue? «Wir wollen uns nicht als Expertinnen aufspielen», relativiert Bieri. Doch die Hünenberger hätten im Gegensatz zur BFU Erfahrung mit dieser Stelle. «Das Gutachten richtet sich nach Normen, die wohl für den ‹Norm›-Fall Sinn machen, sie entbinden jedoch nicht davon, den Einzelfall genau zu prüfen. Und an der besagten Stelle ergibt eine Anforderung wie Fussgängerfrequenzen beim besten Willen keinen Sinn.»

Doch immerhin in einem Punkt decke sich die Haltung der Hünenberger mit jener des Gutachtens. So heisst es dort im Fazit, «dass die Querung für 4- bis 12-jährige Kinder aufgrund der Verkehrsmengen und Komplexität im Knoten nicht selbstständig bewältigbar ist.» Und nur ein paar Sätze weiter: «Ziel sollte jedoch sein, dass möglichst viele Kinder über zumutbare Schulwege verfügen.»

Der Regierungsrat wird sich nun noch ein weiteres Mal mit dem Fussgängerstreifen beschäftigen dürfen. Gut möglich, dass er nach all der Kritik aus Hünenberg doch noch einknickt und den Streifen wieder markiert.

Verwendete Quellen
  • Telefonat mit Hubert Schuler
  • Schriftlicher Austausch mit Anna Bieri
  • Schriftlicher Austausch mit Mara Zenhäusern
  • Gutachten der BFU
  • Medienmitteilung der Zuger Sicherheitsdirektion
  • Postulat zum Fussgängerstreifen
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4 Kommentare
  • Profilfoto von Rahel
    Rahel, 14.12.2022, 08:08 Uhr

    Keine Fahrzeuge? Ich begleite täglich meine Kinder über diese Strasse. Leider sind die Schulzeiten mitten in den Hauptverkehrszeiten. Kein Auto in Sicht ist höchstens mal Mittags. Sehr selten. Und die Autofahrer stehen nie still (Rad steht, Kind geht) sie winken uns rüber, geben leuchthupen aber immer rollend. Moll liegt bestimmt an uns Eltern 😒 uff

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  • Profilfoto von Roli Greter
    Roli Greter, 13.12.2022, 07:04 Uhr

    Anna Bieri könnte ihren drei Kindern beibringen die Strasse erst dann zu überqueren, wenn keine Fahrzeuge zu sehen sind. Bei uns hat das bestens geklappt, liegt wohl an den Eltern.

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    • Profilfoto von Windlin Anita
      Windlin Anita, 13.12.2022, 13:52 Uhr

      Ok. Und wann kommt an dieser Stelle mal kein Fahrzeug😏das ist eine stark befahrene Strasse und wenn die Kinder warten müssen bis sie kein Auto mehr sehen, dann 🙏🙏

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      • Profilfoto von Roli Greter
        Roli Greter, 13.12.2022, 20:23 Uhr

        Am besten stellen Sie Sich während den entsprechenden Zeiten mal dort hin, dann beantwortet sich Ihre Frage von selbst.

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