Die Luzerner Sans-Papiers sind empört. Mit der Aktion «Würde statt Hürde» machten sie am Montag mit Hilfe von Aktivisten auf die menschenunwürdige Situation als Papierlose aufmerksam. Die Aussagen vor Ort erschüttern.
«Wir sind empört über die Migrationspolitik der Schweiz. Und wir sind im Speziellen empört über die Luzerner Migrationsbehörde, wie sie uns mit negativen Asylentscheiden schikaniert.» Mit diesen Worten gaben Sans-Papiers ihren Unmut preis. Aktivisten aus verschiedenen Organisationen trugen die Erfahrungen von Papierlosen vor und dienten so als Sprachrohr für jene, die nichts zu sagen haben. Die Demonstration fand vor den Toren des Amtes für Migration (Amigra) in Luzern statt. Für Aufruhr unter den Betroffenen sorgten insbesondere zwei, innerhalb der letzten vier Monaten begangene, Suizidversuche von Sans-Papiers. Diese würden lieber den Freitod als das Leben in der Illegalität vorziehen, heisst es im Manifest.
Und tatsächlich ist die Situation der Sans-Papiers nicht ganz einfach. So schrieb die Eidgenössische Kommission für Migrationsfragen (EKM) im Februar 2014, dass die rechtliche Situation der Sans-Papiers «sehr komplex, teilweise widersprüchlich und nur schwer nachvollziehbar» sei (siehe Box).
Prekäre Lebensbedingungen und Alltagssituationen
Am Montag folgten auf die Worte Taten in Form eines Protests im und um das Amt für Migration (Amigra) in Luzern. «Um unsere Trauer und Empörung über die Suizidversuche mitzuteilen, tragen wir heute Montag Stimmen des Protests in Form von Stimmaufnahmen in das Amt für Migration.»
Rund 25 Personen versammelten sich vor dem Amigra, um mit Transparenten auf die Missstände von Sans-Papiers aufmerksam zu machen. Ein Teil der Solidarisierenden trugen im Amt für Migration die Wortlaute der Luzerner Sans-Papiers vor, die per Lautsprecher übertragen wurden. Zwar sichtlich gestört, liessen die Beamten jedoch gewähren und gingen weiter ihrer Arbeit nach. Gegen Mittag zogen die Aktivisten wieder ab.
Am Samstag, 28. März, solidiarisieren sich erneut lokale Organisationen mit den Sans-Papiers in einer bewilligten Bleiberechts-Demonstration als Folgeaktion vom Montag. Diese findet am Samstag um 16 Uhr beim Theaterplatz statt.
Gemäss Schätzungen leben im Kanton Luzern zwischen 6’300 und 9’400 Papierlose, für die die Kontakt- und Beratungsstelle für Sans-Papiers Luzern als Ansprechsperson dient. Diese schrieb, dass sich Sans-Papiers grundsätzlich in extrem prekären Lebensbedingungen und Alltagssituationen wiederfänden, die durch grosse Abhängigkeit vom «Goodwill» im Beziehungsumfeld gekennzeichnet seien. «Neben der ständigen Gefahr der Inhaftierung oder Wegweisung sind sie generell in allen Lebensbereichen der ständigen Gefahr vor Ausbeutung, Erpressung, Diskriminierung und Gewalt ausgesetzt», heisst es dort weiter.
Luzerner Sans-Papiers fänden sich immer wieder in solchen Situationen. Es folgen Auszüge von Gesprächen mit Sans-Papiers, die in Luzern leben:
«Für mich ist es schwierig, ohne Bewilligung, ohne Arbeit und ohne Wohnung. Es ist schwierig, wenn ich, der seit sechs bis sieben Jahren in der Schweiz lebt, nicht arbeiten darf. Ohne Bewilligung und ohne Arbeit ist das Leben ein Gefängnis. Wir sind Menschen, keine Tiere. Wir brauchen Freiheit. Wenn jemand kein Problem in seiner Heimat hat, weshalb sollte er sich dazu entscheiden, in dieser schwierigen Situation als Person in der Nothilfe zu leben? Ich denke, niemand verlässt das Land, wo er die Sprache versteht, verlässt seine Familie, einfach so. Sondern vielmehr, weil ihm keine andere Wahl bleibt.»
«Ich fühle mich hier wie ein Tier im Käfig. Ich hatte früher viel Angst, wenn ich zum Amigra ging. Sie sagen, dass ich die Schweiz verlassen müsse, dass ich hier keine Chance hätte. Ich sage, dass ich nicht gehen kann. Wenn ich in mein Land gehe, werde ich ermordet. Ich wünsche mir, dass ich hier arbeiten und leben kann. Ich wünsche mir, dass ich eine Bewilligung bekomme, damit ich endlich wie ein Mensch leben kann.»
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«Es frustriert mich, dass ich nicht in die Schule gehen kann und nur zu Hause rumsitze. Der Ort, an dem ich leben muss, ist nicht gut für mich. Nicht für mich und sowieso nicht für mein Kind. Und das Geld: Ich kann nicht sagen, dass es nicht in Ordnung ist, dass wir Geld bekommen, aber sind wir ehrlich: Es ist nicht viel. Es ist zu wenig für uns, um zu essen und zu leben.»
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«Am meisten stört mich momentan, dass ich keine offizielle Adresse habe und mich so nirgends registrieren kann. Ich mache zwar eine Lehre, doch meine Eltern dürfen nicht arbeiten. Sie bekommen zehn Franken pro Tag. Es wäre gut, wenn sie arbeiten dürften. Wir haben gefragt, ob ich einen Hausarzt haben kann. Sie haben Nein gesagt, weil ich eine Lehre mache und somit arbeite. Ich verdiene 800 Franken im Monat – wie soll ich da die Krankenkasse bezahlen? Ich wünsche mir, dass ich meine Lehre fertig machen kann. Ich will ein normals Leben, indem ich selber Geld verdienen kann und nicht auf Hilfe angewiesen bin.»
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«Das Schwierigste ist, dass man ohne Ziel, ohne Rythmus im Leben ist. Mit der Zeit werden die Leute krank. Aber das können wir nicht ändern. Das ist systematisch, weshalb es in der Politik eine Veränderung geben müsste. Vor sechs Jahren beispielsweise durfte jemand, der ins Gefängnis gehen musste, dort arbeiten. Sogar das wurde aufgehoben.»
«Vor allem sollte das Amigra in diesen Situationen mit uns als Menschen umgehen. Nicht so, als wären wir nur Papier. Meine Erfahrung mit dem Amigra: Jemand hat mir einmal im Büro gesagt: «Wir wollen euch begraben.» Solche Sachen sind psychischer Terror – psychische Folter. Von einem Freund habe ich gehört, dass sie ihm gesagt hätten, er mache mit seiner Farbe die Schweiz schmutzig. Jeder hat eigene Erfahrungen. Manche haben Angst, diese zu sagen. Ich finde es wichtig, dass Menschenrechte mehr als die Wirtschaft zählen.»
«Wir haben keine Perspektive, kein Geld und keine Möglichkeiten.»
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«Leben in der Nothilfe ist schwierig und mühsam. Wir haben eine begrenzte Umgebung. Wir sind nicht frei. Wir haben ganz wenige Möglichkeiten, uns zu bewegen. Wir haben keine Perspektive, kein Geld und keine Möglichkeiten. Wir haben keinen Plan für die Zukunft. Meine Hoffnung ist, ein normales Leben zu führen. Am morgen früh aufstehen und zur Arbeit gehen. Ich hatte im letzten Jahr schon mehrere Depressionen.»
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«Alles ist schlimm, wenn man keine Papiere hat. Ich bekomme jeden Tag zehn Franken in Gutscheinen. Aber ich darf nicht arbeiten. Alles ist «du darfst nicht». Ich sehe keinen positiven Punkt. Leute im Amigra sagen immer: «Du musst die Schweiz verlassen und gehen. Ich antworte immer: Ich kann nicht. Sie sagen: Du bist illegal und musst die Schweiz verlassen. Sie wollen nicht zuhören. In diesen fünf Jahren ist es immer dasselbe: Sie fragen, ich antworte, sie fragen, ich antworte. Aber alles bleibt immer gleich. Sie hören mir nie zu, ich bekomme keine Antworten. Diese Situation macht mich kaputt.»
«Da sich die Demonstranten friedlich verhalten haben, bestand auch kein Anlass, einzugreifen.»
Alexander Lieb, Leiter des Amtes für Migration Luzern
Beim Amt für Migration Luzern sei die Aktion auf Verständnis gestossen, wie der Leiter Alexander Lieb auf Anfrage sagt. Er verweist auf die in der Schweiz verankerte Meinungsäusserungsfreiheit. Sie seien jedoch etwas überrumpelt worden. «Die Aktion wurde gestartet, bevor das Amigra überhaupt gemerkt hat, was da abläuft. Da sich die Demonstranten friedlich verhalten haben, bestand auch kein Anlass, einzugreifen.» Für solche Aktionen sei zudem die Polizei zuständig, die zwar anwesend war, jedoch zurückhaltend die Situation beobachtete.
Zur Kritik, die ins Amigra getragen wurde, sagt Lieb: «Die Stimmen haben sich vor allem zur Nothilfe geäussert. Dafür ist das Amigra nicht zuständig», sagt er und verweist damit an das Gesundheits- und Sozialdepartement (GSD). Auf jegliche weitere kritische Frage angesprochen, verweist der Leiter des Amigra an die Stadt Luzern.
Rechte der Sans-Papiers |
«Papierlos» bedeutet nicht rechtlos. Die im Völkerrecht, in internationalen Konventionen sowie der Schweizerischen Bundesverfassung verankerten Menschen- und Grundrechte gelten für alle sich in der Schweiz aufhaltenden Personen – demnach auch für Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus. Diesbezüglich sind – basierend auf der Schweizerischen Bundesverfassung – die wichtigsten Grundrechte:
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