Abgewiesene Asylsuchende und Sans-Papiers

Kontrolliert, ausgegrenzt, verhaftet

Leben in ständiger Angst: abgewiesene Asylsuchende und Sans-Papiers (Bild: Emanuel Ammon/AURA)

Sie leben von Coop-Gutscheinen, wohnen in Notunterkünften und trauen sich kaum mehr auf die Strassen – aus Angst vor der Polizei. Der Nothilfestatus und die Repression gegen abgewiesene Asylbewerber und Sans-Papiers macht das Leben für die Betroffenen zum Dauerstress. 47 abgewiesene Asylsuchende leben in der Stadt Luzern derzeit von Nothilfe, weitere 22 befinden sich im Gefängnis.

Wie geht es den Frauen und Männern, den Kindern, die in Luzern um Asyl nachsuchen? Und wie geht es den Abgewiesenen, die eine Wiedererwägung beantragen, die von der Nothilfe leben oder untergetaucht sind?

Vorerst: Es ist schwierig, verlässliche Zahlen zu präsentieren, weil sie von den informierten Amtsstellen und von der Caritas nicht bekannt gegeben werden. Eine Zahl immerhin gibt es. Am 30. September 2013 lebten in der Stadt 173 Asylsuchende mit der Aufenthaltsbewilligung N. Sie sind betreut von der Caritas, die den Auftrag des Kantons erfüllt. Erwerbsarbeit ist ihnen erlaubt, doch die Mehrheit lebt von der wirtschaftlichen Sozialhilfe. Sie leben in individuellen Unterkünften oder sind kollektiv untergebracht.

Wir fragten nach der Herkunft der Menschen, nach der Anzahl Frauen, Männer, Kinder, nach der Höhe der Sozialhilfe, die ausbezahlt werden muss. Das kantonale Gesundheits- und Sozialdepartement, das diese Zahlen besitzen würde, respektive Silvia Bolliger, die persönliche Mitarbeiterin von Regierungsrat Guido Graf, verweigert jedoch die Auskunft. Man veröffentliche keine detaillierten «Wohnstatistiken», schrieb sie in der Mail. Danach hatten wir gar nicht gefragt. Und wenn schon: Es sollte kein Geheimnis sein, in welchen Gemeinden wie viele Asylsuchende leben.

47 Personen in der Nothilfe

In der Stadt Luzern leben 47 Personen, darunter sieben Kinder, in der Nothilfe. Das heisst, sie bekommen pro Tag einen Coop-Gutschein im Wert von zehn Franken, erhalten Unterkunft sowie bezahlte Krankenversicherung. Ihr Asylgesuch ist abgelehnt worden. Sie haben keinen legalen Aufenthaltsstatus und zählen zu den Sans-Papiers. Frei bewegen in Stadt und Agglomeration können sie sich nicht mehr, weil sie jederzeit damit rechnen müssen, von der Polizei aufgegriffen und in Haft gesetzt oder gleich ausgeschafft zu werden. Ihr Vergehen ist ihr rechtloser Aufenthalt in unserem Land.

Die Nothilfe für die Asylsuchenden mit Negativentscheid wird von den Sozialen Diensten der Stadt Luzern ausbezahlt. Reto Camenzind betreut die Dossiers, hält zweimal wöchentlich eine Sprechstunde für die Abgewiesenen, wo sie ihre Anliegen vorbringen können. Die Leute im Nothilferegime leben zum grossen Teil in Notunterkünften, zum Beispiel in der Notschlafstelle der Stadt, im Ibach sowie in Notwohnungen.

27 von den 47 Sans-Papiers sind Administrativ-Fälle, – so die Bezeichnung – die nicht mehr zu den Sozialen Diensten kommen. Sie sind entweder im Strafvollzug, in der Ausschaffungs- oder Durchsetzungshaft (22 Personen) oder in einer andern Institution, zum Beispiel in der Psychiatrie oder im Spital (fünf Personen).

Kritik an Ein- und Ausgrenzungen

Das Luzerner Asylnetz, das mit sehr beschränkten finanziellen und personellen Mitteln versucht, vor allem den Abgewiesenen etwas Rückhalt zu geben, kritisierte in einem Mitgliederbrief im vergangenen September die Ein- und Ausgrenzung von Menschen in der Nothilfe durch die Fremdenpolizei, die in eigener Kompetenz Rayonverbote aussprechen könne. Grundlage dieser Verbote ist das verschärfte Ausländergesetz, das die Massnahme jenen androht, welche die öffentliche Sicherheit und Ordnung störten oder gefährdeten (Art.74). Wer diese oftmals willkürlichen Auflagen nicht einhalte, schreibt das Asylnetz, riskiere eine Anzeige und hohe Busse oder einige Tage Haft.

Vier Personen sind im Strafvollzug, 18 in Ausschaffungshaft – eine beachtliche Zahl. Befragt nach den Haftgründen sagt Alexander Lieb, Leiter Amt für Migration, 80 bis 90 Prozent seien Dublin-Rückführungen. Das sind Asylbewerber, die früher in einem andern Land ein Asylgesuch gestellt haben. Dazu kämen meist mangelnde Kooperation bei der Beschaffung von Papieren und die Gefahr des Untertauchens.

Bei den Aus- und Eingrenzungsentscheiden für Asylsuchende und Abgewiesene durch Mitarbeiter des Amtes für Migration sieht Alexander Lieb keine Probleme: «Solche Verfügungen werden immer von Einzelpersonen vorgenommen. Bei unklaren Fällen wird mit dem Abteilungsleiter Rücksprache genommen. Die Entscheide können auf dem Rechtsweg angefochten werden, was allerdings sehr selten geschieht.»

Was leicht nachvollziehbar ist: Wie soll ein abgewiesener Asylbewerber, der Coop-Gutscheine als Nothilfe bekommt und wegen der Polizei Angst hat, sich in der Stadt frei zu bewegen, einen Anwalt organisieren? Die Ein- und Ausgrenzungen würden mehrheitlich aufgrund einer Handlung gegen das Betäubungsmittelgesetz oder wegen Diebstahls verfügt, sagt Alexander Lieb.

«Das Leben ist sehr, sehr schwierig»

Was empfinden und denken die Menschen, die im Nothilfestatus stecken? Gyatso* ist Tibeter und lebt zusammen mit einem Landsmann seit ein paar Monaten in einem Dorf in der Luzerner Landschaft in einer Zweizimmerwohnung. Ausser seinem Mitbewohner kennt er niemanden dort. Sein Wohnort ist Zufall. Die Caritas hatte gerade eine Wohnung frei. Mindestens einmal pro Woche kommt er nach Luzern, holt die Coop-Gutscheine, geht in den Deutschkurs. Eher selten besucht er den Mondoj-Treffpunkt im Neubad. Auf die Frage, was er sonst so mache, sagt er zwei-, dreimal das Wort «schwierig». Mehr erzählen möchte er nicht.

Vor drei Wochen hatte Rosa* wieder etwas Hoffnung gefasst, zum ersten Mal seit sie vor sechs Jahren in die Schweiz flüchtete. Ihr klagloser Aufenthalt und ihre Anstrengungen zur Integration in Luzern wurden als aussergewöhnlich anerkannt. Darum wurde ein Härtefallgesuch nach Bern eingereicht. Und zum zweiten Mal wurde es abgelehnt. Rosa muss also weiter von der Nothilfe leben.

«Es ist sehr, sehr schwierig. Ich wohne zusammen mit anderen Frauen im Ibach, fühle mich aber allein. Ich möchte selbständig sein. Ich bin ausgebildete Buchhalterin mit Universitätsdiplom. Im Brändi habe ich mehrere Monate freiwillig gearbeitet, Behinderte begleitet. Im Asylzentrum Sonnenhof der Caritas habe ich viel gearbeitet.» Rosa hat einen Deutschkurs abgeschlossen, mit Erfolg. Sie möchte weiter lernen. Im Moment sei das aber nicht möglich. «Jetzt bin ich den ganzen Tag zu Hause. Ich fühle mich ohne Zukunft. So ist das Leben schwierig, so schwierig.» Sie sagt es dreimal.

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Umstrittene Coop-Gutscheine

Die Abgabe der Coop-Gutscheine – 2008 mit der Einführung der Nothilfe für abgewiesene Asylsuchende eingeführt – wird von der Flüchtlingshilfe und vom Luzerner Asylnetz konstant kritisiert. «Die Menschen brauchen Bargeld, um ein Bus-Ticket zu kaufen, um zu telefonieren oder um wirklich das Günstigste zu erwerben», sagt Felix Kuhn vom Asylnetz. Die Gutscheine würden die ohnehin schwierige Lebenssituation erschweren. Deshalb bietet das Asylnetz einen Umtauschservice an. Es kauft den Menschen in der Nothilfe die Coop-Gutscheine ab und sichert ihnen so eine minimale Bewegungsmöglichkeit. Wer sich an diesem Tausch beteiligen möchte, kann sich auf der Webseite des Asylnetzes informieren.

zentral+ fragt beim Sozial- und Gesundheitsdepartement nach den Gründen für die Abgabe der Coop-Gutscheine. Ruedi Fahrni, neuer Abteilungsleiter Asyl und Flüchtlinge, antwortet schriftlich. Personen mit einem abgewiesenen Asylantrag hätten die Schweiz zu verlassen. Wenn die Ausreise nicht erfolge, richte der Kanton auf Gesuch hin Nothilfe aus. Das Recht auf Nothilfe umfasse nur Überlebenshilfe und soll keinen Anreiz zum weiteren Verbleib in der Schweiz schaffen. Gemäss den Empfehlungen der Konferenz der kantonalen Sozialdirektoren könne die Nothilfe in Form von Sachleistungen oder bar erfolgen. Das System mit den Gutscheinen habe sich im Kanton Luzern wie auch in anderen Kanton bewährt.

«Unser System macht die Menschen krank»

Regula Erazo (58) führt in Luzern seit Januar 2012 die Kontakt- und Beratungsstelle für Sans-Papiers und hat vor allem mit den Menschen in der Nothilfe zu tun. «Unser System macht die Menschen krank», sagt sie. Das System erlaube keine Arbeit, es schränke die Bewegungsfreiheit ein. Am Anfang fänden sich die Leute damit ab. Doch mit der Zeit werde die Spirale zwischen Hoffnung und Angst immer enger.

«Die Frauen und Männer zwischen 25 und 35, am Anfang voller Lebensenergie, werden krank, hier und dort und überall. Sie ziehen von Arzt zu Arzt. Die Krankheit ist aber vielleicht eine psychische. Die Integrität des Menschen gehe drauf», so Erazo. Es gebe keine Ziele, keine Kommunikation, kein soziales Umfeld mehr, eine geistige Lähmung. Irgendeinmal würden sie in den Strafvollzug kommen, weil sie illegal in der Schweiz leben. Wenn die 18 Monate abgelaufen sind, kann man Menschen in die sogenannte Beugungshaft versetzen, dann in Ausschaffungshaft. Unser System will den Menschen brechen, damit er «freiwillig» geht.

Regula Erazo hält kurz inne und fährt fort: «Ich habe keine Lösung. Wir könnten nicht alle aufnehmen, heisst es. Das ist wohl richtig.»

Mittagstisch und Deutschkurse

In ihrer leidvollen Situation erfahren die Fremden von wenigen, mehrheitlich jungen Luzernerinnen und Luzernern etwas Menschlichkeit und Hilfe. Eliane Amstad vom Asylnetz organisiert in der Stutzegg jeden Dienstag einen Mittagstisch. Es kochen Freiwillige, zum Teil helfen Ausländer mit. Zwischen 10 und 15 Nothilfe-Personen erhalten ein einfaches Mittagessen und etwas Geborgenheit. Jeden Dienstagabend bietet Janine Junker, auch Vorstandsmitglied im Asylnetz, Deutschkurse an, die bei den Männern äusserst beliebt sind. Auch hier helfen Freiwillige mit. Frauen haben bereits ein Angebot im Sentitreff. Die ausgebildete Sozialarbeiterin hat das Projekt im ehrenamtlichen Engagement vor drei Jahren aufgebaut. «Es kommen regelmässig 26 Leute, die Kapazität ist fast erschöpft», sagt Janine Junker.

Dunkle Hautfarbe und Baselstrasse machen verdächtig

Wie erfahren die Leute vom Luzerner Asylnetz die Repression von Polizei und Migrationsamt? Der Artikel im Ausländergesetz, der die Ein- und Ausgrenzung von Asylsuchenden ermöglicht, zielt auf die Eindämmung des Drogenhandels. Ob es weitere Kriterien gibt, ist nicht in Erfahrung zu bringen. Alexander Lieb verweist auf das Ausländergesetz.

Janine Junker erwähnt, dass Menschen mit dunkler Hautfarbe von der Polizei häufig kontrolliert würden. Das spreche sich herum. «Wer sich dann noch an der Baselstrasse aufhält, ist doppelt verdächtig.» Weiss man von Übergriffen der Polizei? «Im Migrationsamt ist ein Mann aus dem Fenster gesprungen. Das ist kein gutes Zeichen», sagt Janine Junker.

Und wie erlebt Regula Erazo Polizei und Amtsstellen? «Gegenüber dem Migrationsamt habe ich ambivalente Gefühle. Es sind Menschen, die ihre Funktion innerhalb des geschilderten Systems wahrnehmen. Es gibt wenig Spielraum des Ermessens. Trotzdem versuche ich jeweils, an den Menschen zu appellieren. Dort kann man sich treffen. Ich werde höflich und offen angehört. Das hat sich mit der Zeit aufgebaut.»

Die Politik habe mit Unterstützung einer Volksmehrheit in diesem Land eine Repression gegen Menschen aufgebaut, die nach einer besseren Existenz suchen. Diese Formel könne nicht aufgehen. «Die kleine Schweiz kann die Lösung nicht alleine finden», sagt Regula Erazo. «Wir haben die Aufgabe, über die Grenzen hinauszudenken und uns zu fragen, warum die Welt so viele Fluchtbewegungen produziert.»

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2 Kommentare
  • Profilfoto von Christian Mueller
    Christian Mueller, 30.11.2013, 17:29 Uhr

    Wo immer sich ein Journalist oder eine Journalistin um das Schicksal von Zuwanderern kümmert und sich für deren Wohl einsetzt, beginnt in den Kommentarspalten der Vergleich mit den «Armen» unserer Schweiz. Es ist ein Jammer, wie wenig sich die Schweizerinnen und Schweizer bewusst sind, dass sie im Paradies leben. Es sind noch keine 150 Jahre her, seit hungernde Schweizer Familien ausgewandert sind, weil sie hier keine Zukunft mehr sahen. Und kaum hat sich das Blatt gewendet, beginnt die Abwehr gegen Menschen, die das gleiche tun, nur in umgekehrter Richtung. Die penetrante Separierung zwischen «echten» Schweizern, Schweizer mit Migrationshintergrund, Ausländer, Asylsuchende und Asylabgelehnte gibt zu denken. Wir sind alle Menschen und möchten irgendwo auf diesem Planeten leben dürfen!
    Christian Müller, Schweizer mit Migrationshintergrund (Vorfahren mütterlicherseits waren eingewanderte Hugenotten).

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  • Profilfoto von zombie1969
    zombie1969, 30.11.2013, 12:44 Uhr

    «47 abgewiesene Asylsuchende leben in der Stadt Luzern derzeit von Nothilfe»
    Nothilfe erhalten CH-Bürger und Familie, die 25 Jahre lang ununterbrochen arbeiteten und über zwei Jahrzehnte lückenlos in sämtliche Sozialwerke einzalten, keine. Noch nicht mal Arbeitslosengeld!
    Im Gegenteil, wenn man sich dagegen gerichtlich zur Wehr setzt, wird man zumindest im Kt. TG durch die Behörden gewalttätig angegriffen und schwer verletzt und die Familie wird anhaltend massiv bedroht und andauern belästigt. Nicht anzunehmen, dass man mit Asylbewerbern die Nothilfe erhalten so umgeht.

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