Über die Macht der Medien und den Kampf für eine bessere Welt

Jolanda Spiess-Hegglin: «Heute fühle ich mich so stark wie noch nie»

«Irgendwann ging es nicht mehr um meine Geschichte und mein Trauma, sondern darum, die Situation für Frauen zu verbessern», sagt die ehemalige Zuger Kantonsrätin Jolanda Spiess-Hegglin zu zentralplus. (Bild: Screenshot 3sat)

Einst war sie Zuger Grünen-Kantonsrätin, hatte eine politische Karriere vor sich: Doch eine Nacht vor sechseinhalb Jahren veränderte das Leben von Jolanda Spiess-Hegglin schlagartig. In der aktuellen Reportage «Frauen und Medien» erzählt sie von ihrem erbitterten Kampf und ihrem Umgang mit Hass. Mit zentralplus hat sie über ihre Vergangenheit und ihre Zukunft gesprochen.

Die einstige Zuger Politikerin Jolanda Spiess-Hegglin hat die Macht der Medien und deren Folgen am eigenen Leib erfahren. Alles begann im Winter 2014, nach der Zuger Landammannfeier. Spiess-Hegglin war damals gerade frisch gewählte Grünen-Kantonsrätin, hat selbst auch an der Feier teilgenommen. Die Nacht veränderte ihr Leben.

«Alles wurde komisch, alles wurde vernebelt und ich habe die Leute nicht mehr erkannt. Und dann nach zehn Minuten weiss ich nichts mehr», erinnert sich Jolanda Spiess-Hegglin in dem am Mittwoch erschienenen «3sat»-Film «Starke Frauen: Frauen und Medien», die von der SRG produziert wurde. Tagsdarauf wacht sie zuhause auf, hat Erinnerungslücken und Unterleibsschmerzen. Zwei fremde DNA-Spuren wurden gefunden. «Es wurde damals festgehalten, dass ich davon ausgehen durfte, Opfer eines Sexualdelikts geworden zu sein und nichts falsch gemacht habe», sagt Spiess-Hegglin im Gespräch mit zentralplus.

«Es war vorverurteilend und sexistisch»

Bis heute ist unklar, wie die intimen Details jener Nacht an die Presse gelangten. Es ist ein dunkles Kapitel des Schweizer Journalismus, das damals geschrieben wurde. Der Fall Spiess-Hegglin gehört zu einem der grössten Medienskandale der Schweiz. Heute sagt Spiess-Hegglin: «Ich glaube, ich hätte diese Geschichte nicht einmal meinen Eltern erzählt.»

Das Verfahren gegen die beiden Verdächtigen, unter ihnen der damalige Zuger SVP-Präsident Markus Hürlimann, wurde später eingestellt. «Juristisch ist klar: Es gibt keinen Täter», so Spiess-Hegglin. Da die Persönlichkeitsrechte des SVP-Politikers durch die Presse ebenfalls massiv verletzt worden seien, nenne sie selbst seinen Namen nirgendwo.

Von Medienberichten aufgestachelt, wird die damalige Politikerin von einer Hasswelle überrollt und für die Geschehnisse jener Nacht verantwortlich gemacht. «Es war vorverurteilend und sexistisch, was damals passierte», sagt Spiess-Hegglin.

«Damals musste einfach ein Sündenbock her»

Bis heute wurden rund um den Fall Spiess-Hegglin über 3'000 Artikel publiziert. Was damals geschrieben wurde, sei «einfach nur ekelhaft» gewesen, so Spiess-Hegglin. «Ziemlich schnell wurde ich zur Täterin gemacht. Da wurde so viel Geld verdient mit dieser Art von Schlagzeilen», sagt sie. Täglich wird sie damals mit hasserfüllten Kommentaren bombardiert – und das über Jahre hinweg. Der damaligen Politikerin wird unterstellt, dass sie einen Seitensprung hätte vertuschen wollen. 2015 gehörte Spiess-Hegglin zur meist gegoogelten Person der Schweiz.

Infolge des Drucks der Medienkampagne habe sie sich gezwungen gefühlt, ihre politische Karriere aufzugeben. «Ich wurde aufgrund falscher Annahmen und Verleumdungen durch Journalisten, welche inzwischen rechtskräftig verurteilt sind, aus dem Kantonsrat gedrängt», so Spiess-Hegglin. Sie ist überzeugt: «Dieses Verhalten wirft noch heute ein komisches Licht auf die Zuger Politik.» Die Interviewsequenzen von damals seien «eindrückliche Zeitdokumente». Die Aussagen damaliger Mitglieder des Kantonsrats, die in «Frauen und Medien» gezeigt werden, würden heute, nach #Metoo, so die Ex-Politikerin, wie aus der Zeit gefallen wirken. «Damals musste einfach ein Sündenbock her», sagt sie.

Zu verdrängen, das war für Spiess-Hegglin nie eine Option. Zwei Jahre nach ihrem Rücktritt aus der Politik, im Jahr 2017, holt sie zum Gegenangriff aus, beginnt gegen Medienunternehmen und Journalisten zu prozessieren. Und noch dauert ihr juristischer Kampf an. «Ein Gewinnherausgabe-Urteil zu meinen Gunsten würde im Kampf gegen Persönlichkeitsverletzungen durch die Presse wegweisend sein.» Sie ist überzeugt: «Einen Fall wie den ihren wird es heute so nicht mehr geben.»

«Der Rückhalt meiner Familie war für mich damals sehr wichtig»

Auch heute noch prangert sie das Verhalten der Medien von damals an: «Die Kontrollinstanz hat gefehlt. Es hat niemand die Reissleine gezogen.» Es sei eine harte Zeit gewesen, die sie damals durchlebte. «Ich musste Antidepressiva nehmen, obwohl ich stets ein sehr fröhlicher Mensch war», sagt sie. Sie weiss sie nicht, ob sie ohne die Medikamente heute noch leben würde.

Die Familie leidet damals. Schliesslich sei es so schlimm gewesen, dass die ganze Familie ihr Zuhause sogar für eine Weile verlassen musste. «Das war eine Katastrophe. Wenn man merkt, dass man einfach ins Bodenlose stürzt, sich Dinge ereignen, die man sich in den schlimmsten Träumen nicht hätte vorstellen können, das zerstört etwas im Inneren», sagt auch ihr Mann in der 3sat-Reportage.

Doch der Zusammenhalt der Familie gibt Spiess-Hegglin Kraft. «Der Rückhalt meiner Familie war für mich damals sehr wichtig. Es war essentiell, dass mein Mann zusammen mit mir das Ganze aufarbeiten wollte. Es war nicht immer leicht, aber heute sind wir alle glücklich, dass wir es durchgemacht und überlebt haben.»

Ihre ganz persönlichen Erfahrungen haben ihr Engagement im Kampf gegen Hass im Netz erst richtig entfacht. «Die Aufarbeitung habe ich nur bekommen, weil ich darüber geredet habe, obwohl mir alle geraten haben, zu schweigen. Und irgendwann ging es dann nicht mehr um meine Geschichte und mein Trauma, sondern darum, die Situation für Frauen zu verbessern», sagt Spiess-Hegglin.

«Heute kann ich 100-mal mehr bewegen als damals im Kantonsrat»

«Betroffene müssen den Mut haben, aufzustehen, sich zu wehren und standhaft zu bleiben», sagt sie. Mit ihrem 2016 gegründeten Verein Netzcourage will sie eben dazu beitragen. Längst wurde sie mit ihrem Engagement zur Schweizer Ikone des Feminismus.

Über sechseinhalb Jahre sind seit der Zuger Landammanfeier vergangen. «Heute fühle ich mich so stark wie noch nie», sagt Spiess-Hegglin. Sie ist allen Widrigkeiten zum Trotz standhaft geblieben. «Ich versuche in jeder Situation, das Gute zu sehen. Wäre all das nicht passiert, gäbe es Netzcourage heute so wohl nicht. Ich will die Welt für Schwächere besser machen. Und heute kann ich 100-mal mehr bewegen als damals im Kantonsrat als Linksaussen-Politikerin», sagt Spiess-Hegglin.

Eine Rückkehr in die Politik kommt derzeit für sie nicht in Frage. Sie weiss: «Ich würde heute noch viel mehr anecken als damals. Damit ich wieder ein offizielles politisches Amt übernehmen würde, müsste ich wohl erst eine neue Partei gründen oder das politische System müsste von Grund auf über den Haufen geworfen werden.»

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10 Kommentare
  • Profilfoto von Goeggeler
    Goeggeler, 06.06.2021, 18:03 Uhr

    Ja, wie man in den Wald ruft, so tönt es zurück!

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    Thomas, 05.06.2021, 21:46 Uhr

    Warum ist sie nicht endlich still? Dann hört auch das Interesse auf.
    Vorab: ihr heutiges Engagement finde ich super. Gewalt und Hass im Netz sind verachtenswert und müssen bekämpft werden.
    Aber: in ihrem Fall hat sie sich zumindest über eine lange Zeit naiv, schlecht beraten und falsch verhalten. Fakt war damals: eine Anzahl Kantonsräte, die im selben Raum waren, haben ausgesagt, dass sie und Herr Hürlimann den Abend sehr vertraut miteinander getrunken hatten. Bilder belegen dies zweifelsfrei. Sie sind gesehen worden, wie sie zusammen die Treppe hoch gegangen sind. Sie ist dabei nicht an Ihren Haaren gezogen oder gestützt worden. K.o. Tropfen müssen irgendwo beschafft werden. Hätte die Polizei dies nicht ermitteln können? Warum wurde nichts bei ihr nachgewiesen? Bitte wo im Kaff Kanton Zug sollte das verfügbar sein? Gab es diesbezüglich eine Historie im Umfeld von Herrn Hürlimann? Warum musste sie über ihre sexuellen Vorlieben und ihre Handicabs aussagen, um sich zu rechtfertigen? Das zeugt nicht von hoher sozialer Kompetenz. Wenn sie damals zugegeben hätte, sie hätte einfach zuviel getrunken, wäre alles schnell vergessen gewesen. Ich wünsche ihr aber sehr, dass sie heute anders agiert!

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    Regula, 04.06.2021, 12:30 Uhr

    Eine Frau die es wagte am Machtgerüst von Männern zu rütteln und Recht einzufordern. Davon braucht es mehr. GleichbeRECHTtigung jetzt!

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      Peter Bitterli, 04.06.2021, 13:23 Uhr

      Sie haben gleiche Rechte, Regula. Und gleiche Chancen. Ob Sie sie nutzen, ist eine andere Frage. Niemand kann Ihnen verbieten, Körpersäfte auszutauschen. Auch mit politischen Gegnern.

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    Laetizia Häfliger, 04.06.2021, 11:23 Uhr

    Wann hört dieses Gejammer endlich auf? Die K.-o.-Tropfen sind offenbar Fantasie, medizinisch widerlegt. Sie ist kein Opfer. Sie macht die Welt auch nicht besser. Im Gegenteil, sie sät Hass, indem sie z.B. einen Journalisten als «Arschloch des Jahres» betitelt. Sie verbietet einer Journalistin, ein Buch zu schreiben, obwohl sie den Inhalt gar nicht kennen kann. Unglaublich!

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      Gruesse vom Einhorn Schlachthaus, 04.06.2021, 13:00 Uhr

      Frau Häfliger, JSH steht unter dem allmächtigen Schutz des Regenbogens!

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      Anna Meier, 04.06.2021, 16:47 Uhr

      Die K.-o.-Tropfen konnten nicht mehr nachgewiesen, sie wurden nicht medizinisch widerlegt. Es gilt die Unschuldsvermutung für alle! Und es ist allen gestattet, das ihnen zustehende Recht einzufordern. JSH hat dies offenbar mit Erfolg getan. Ich verstehe das Bedürfnis einfach nicht, als Aussenstehender hierüber ein Urteil fällen zu müssen.

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      Peter Bitterli, 04.06.2021, 19:13 Uhr

      Sie, Anna Meier, wissen aber schon, was ihr Satz mit der Unschuldsvermutung bedeutet und auf wen er sich vorab bezieht?

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    Joseph de Mol, 04.06.2021, 11:16 Uhr

    Was eine «bessere Welt» ist, ist massgeblich abhängig vom Betrachter. Es gibt nicht DIE für alle gleichermassen gültige «bessere Welt». Die Pachtung einer vermeintlich universellen Moral in solchen Angelegenheiten finde ich brisant und verwerflich. Wie schon Novalis sagte: «Begeisterung ohne Verstand» ist gefährlich!!

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  • Profilfoto von Peter Bitterli
    Peter Bitterli, 04.06.2021, 10:46 Uhr

    Make love, not war!

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