Erste Ergebnisse von HSLU-Studie

Gewalt gegen Kinder hat nach dem Lockdown zugenommen

Insbesondere psychische Gewalt nahm während der Pandemie zu. (Bild: Symbolbild: Unsplash/Siavash Ghanbari)

Familien, die einen Balkon oder eine Terrasse haben, kamen bisher friedlicher durch die Pandemie als andere. Dennoch nahm die Gewalt gegenüber Kindern nach dem Lockdown zu. Das sind die ersten Erkenntnisse einer Langzeitstudie der Hochschule Luzern.

Die Corona-Pandemie stellt nicht nur die Wirtschaft vor grosse Herausforderungen. Von einem Moment auf den anderen hiess es plötzlich: Lockdown. Alle zu Hause bleiben. Geschäfte schliessen. Homeoffice ist angesagt. Erst im Juni kam das öffentliche Leben wieder in die Gänge, auch wenn nach wie vor strikte Regeln galten.

Schon früh wurde befürchtet, dass die Massnahmen zu mehr häuslicher Gewalt führen könnten. Repräsentative Zahlen gibt es dazu bisher kaum. Zwei Forscherinnen der Hochschule Luzern wollen das ändern. Sie haben eine repräsentative Langzeitstudie lanciert, wie es in einer Mitteilung heisst. Sie läuft weiter, bis die Massnahmen zur Bekämpfung der Pandemie eingestellt werden. Gemeinsam mit dem gfs.Bern wurden schweizweit bisher 1'037 Erwachsene befragt, wie sich das familiäre Zusammenleben während des Lockdowns und der vier Wochen danach entwickelt hat.

Je besser das Einkommen, desto weniger Gewalt

Wegen des kurzen untersuchten Zeitraums seien zuverlässige Aussagen derzeit noch schwierig, dennoch liegen bereits erste vor. Zuerst die gute Nachricht: Die meisten gaben an, dass das Klima innerhalb der Familie eher harmonisch war. Doch bei rund einem Viertel der Befragten kam es in den beiden Zeiträumen zu Spannungen oder Reibereien.

Dabei spielt auch die Wohnsituation eine grosse Rolle. «Familien, die in einem Haus oder einer Wohnung mit Garten oder Terrasse wohnen, haben ihr Familienleben während des Lockdowns als harmonischer beschrieben als solche ohne», sagt Paula Krüger, Gewaltforscherin an der Hochschule Luzern. Das Einkommen ist ein weiterer Faktor: Je mehr finanzielle Schwierigkeiten eine Familie hat, desto weniger harmonisch wird das Zusammenleben beschrieben. Es kam auch häufiger zu Spannungen. Gleiches gilt auch für Familien, bei denen Eltern die Kinder neben der Arbeit betreuen mussten.

Nach dem Lockdown nahm Gewalt gegen Kinder zu

Insgesamt 5,5 Prozent der Befragten sagten aus, dass sie während des Lockdowns einer Form innerfamiliärer Gewalt durch eine erwachsene Person ausgesetzt waren – Frauen waren dabei etwas häufiger das Opfer als Männer. Im Sommer ging diese Zahl auf 5,2 zurück, allerdings ist der untersuchte Zeitraum halb so lang wie jener im Lockdown.

Anders sieht es bei Kindern aus: 4,5 Prozent der Befragten, die Kinder im Haushalt haben, gaben an, während des Lockdowns gegenüber einem Kind gewalttätig geworden zu sein. Im Sommer stieg dieser Anteil sogar auf 5,6 Prozent.

«Die Resultate deuten darauf hin, dass die lange Dauer der Pandemie an den Nerven der Bevölkerung nagt.»

Paula Krüger, Gewaltforscherin der HSLU

Erstaunlich ist hier besonders ein Punkt: Obwohl eine Wohnung ohne Terrasse oder Balkon sich generell eher negativ auf das Zusammenleben auswirkte, gab es bei den betroffenen Familien nicht etwa während des Lockdowns deutlich mehr Gewalt gegen Kinder, sondern erst in der Zeit danach. Bei Gewalt gegen Erwachsene ist das Bild hingegen nicht so klar. «Das hat uns überrascht», sagt Krüger gegenüber zentralplus. Schliesslich hätten nach dem Lockdown deutlich weniger Beschränkungen gegolten. «Es gibt noch viele offene Fragen.» Um Ursachen zu benennen, sei es noch zu früh.

Trotz vieler offener Fragen haben die Forscherinnen erste Schlüsse gezogen: «Die Pandemie erzeugt keine neuen Risikofaktoren, sie setzt bei bekannten Faktoren an und wirkt verstärkend.» Es ist der Druck, der zum Anstieg beiträgt. Der Lockdown selbst sei aber scheinbar nicht unbedingt der Knackpunkt gewesen. Krüger: «Die Resultate deuten darauf hin, dass die lange Dauer der Pandemie an den Nerven der Bevölkerung nagt, was zu mehr Spannungen und Konflikten bis hin zu Gewalt in den Familien führen kann.» Die negativen Folgen des Lockdowns dürften deshalb auch zeitversetzt erst im Sommer spürbar geworden sein, was die Zunahme der Gewalt gegen Kinder in den vier Wochen im Sommer erklären würde.

Doch wer ist eigentlich Opfer und wer Täter? Viele Studienteilnehmer gaben an, von ihrem Partner oder der Partnerin Gewalt erfahren zu haben. Doch die Befragten haben auch durch andere Familienangehörige Gewalt erlebt – etwa durch ihre Eltern oder erwachsenen Kinder. Berichtet wurde auch von Beschimpfungen oder körperlicher Gewalt durch Minderjährige gegen ihre Eltern. Meist handelte es sich dabei um Kleinkinder bis 5 Jahre, die ihre Eltern mehrfach beschimpft oder geschlagen haben, heisst es im Kurzbericht. Das hat laut Krüger aber vor allem mit dem Entwicklungsstand der Kinder zu tun.

Dunkelziffer bei sexueller Gewalt

Nur selten kam es hingegen zu körperlicher oder sexueller Gewalt. Die meisten Befragten berichteten von psychischer Gewalt, etwa wiederholte Beschimpfungen. Besonders häufig kamen solche Situationen in einkommensschwachen Haushalten vor.

Hier muss allerdings festgehalten werden, dass es nach wie vor eine Dunkelziffer gibt. Es sei «davon auszugehen, dass die Befunde immer noch eine Unterschätzung des tatsächlichen Ausmasses innerfamiliärer Gewalt während der Pandemie in der Schweiz darstellen, da viele Personen unter anderem aus Scham nicht davon berichten». Das betrifft insbesondere sexuelle Übergriffe – lediglich ein Prozent der Befragten gab an, diese Form von Gewalt erlebt zu haben. Auch bei der anonymen Befragung dürften einige Hemmungen haben, die Übergriffe zu melden. «Das muss man immer mitberücksichtigen», sagt Krüger. Ob es eine Zunahme gab, kann auch sie zum jetzigen Zeitpunkt nicht abschliessend sagen.

«Der anhaltende Druck ist sicher nicht förderlich.»

Paula Krüger, Gewaltforscherin der HSLU

Und noch ist die Pandemie nicht ausgestanden. Gerade für jene, die beispielsweise ihren Arbeitsplatz verloren haben oder bei denen finanzielle Sorgen mit der Dauer zunehmen, stehen unter grossem Druck. Krüger rechnet deshalb auch damit, dass die Spannungen zunehmen könnten. «Der anhaltende Druck ist sicher nicht förderlich.» Dennoch sei es gut, dass die Behörden in Sachen Lockdown ihre Entscheidungen sorgfältig abzuwägen scheinen. Solange beispielsweise die Schulen offen sind, können Kinder auch ihre sozialen Kontakte wahrnehmen, was das Zusammenleben entlastet.

Die Nerven liegen blank – was tun?

Doch was soll man tun, wenn man an seine eigenen Grenzen stösst? Wie kann diese Gewalt verhindert werden? Krüger rät unabhängig von der Pandemie dazu, auf sich selbst und die Menschen im Umfeld zu achten. Entlastungsmöglichkeiten helfen, Gewalt zu verhindern. «Sofern dies möglich ist, sollte man sich auch mal ewas Gutes tun. Und es ist wichtig, sich abzusprechen. Reichen diese Massnahmen nicht aus, sollte man sich fachliche Unterstützung holen. Es gibt viele Beratungsangebote, die spezialisiert sind auf innerfamiliäre Konflikte und Gewalt.»

Hast du selbst während der Pandemie Gewalt in der Familie erlebt und möchtest uns davon berichten? Melde dich unter [email protected]!

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