Diskussion zur Begabtenförderung in Zug

Für einmal werden die Schwachen ausser Acht gelassen

Elisabeth Müller setzt sich auch nach ihrer Pensionierung für die Bildung ein. (Bild: wia)

Dass Leistung durch Motivation gefördert werden soll, klingt einleuchtend. Doch in einer Zeit, in der Lehrpläne klar strukturiert sind und der Druck auf Schüler gross ist, scheint dies ein äusserst schwieriges Unterfangen. Die ehemalige Dozentin für Bildungswissenschaften Elisabeth Müller befasst sich seit Jahren mit dem Thema. Sie findet: Kinder zu fordern ist etwas Gutes.

Elisabeth Müller ist zwar pensioniert, doch noch immer ist die Heilpädagogin im Berufsleben sehr engagiert. Nicht nur im direkten Kontakt mit Schulkindern, sondern auch bei der Organisation des jährlichen «Symposium Begabung» an der Pädagogischen Hochschule in Zug. zentral+ traf Elisabeth Müller im Café Speck in Zug auf einen Earl Grey-Tee und ein Interview zum Thema Begabtenförderung.

zentral+: Schon länger sind Begabung und insbesondere auch Hochbegabung vieldiskutierte Themen in der Schweiz. Dennoch behandelt das Symposium der Pädagogischen Hochschule Zug dieses Thema jährlich. Woran mangelt es denn?

Elisabeth Müller: Wir haben das Gefühl, in der Schule ist es schwierig, hohe Leistung kontinuierlich zu fördern. Der Tenor ist eher, dass man keine Elitenförderung betreiben wolle. Die Schule hat ein ambivalentes Verhältnis zu Hochleistung. Anders ist es im Sport und in der Musik. Dort ist Talentförderung akzeptiert. Das hat uns dazu angeregt, dieses Symposium durchzuführen.

«Begeisterung können wir nur auf dem Lernlevel wecken, wo wir gefordert, aber nicht über- oder unterfordert werden.»

zentral+: Das Symposium am kommenden Samstag steht unter dem Stern «Zur Leistung begeistern – begeistert leisten». Der Begriff Leisten steht also klar im Vordergrund. Das klingt, wie wenn es um die Frage gehen würde, wie man noch mehr Leistung aus einem Kind herausholen könnte.

Müller: So ist das überhaupt nicht gemeint. Mit Leistung meinen wir jene Form von Leistung, die mit Lernfreude gepaart ist. Und die Begeisterung können wir nur dort wecken, wo wir uns auf unserem individuellen Lernlevel bewegen, wenn wir also gefordert, aber nicht über- oder unterfordert werden. Und wenn sich ein Kind dort nicht bewegen kann, verliert es die Lernfreude und die Energie.

Beim Symposium legen wir explizit den Fokus auf die stärkeren Schüler. Bei denen hat man nämlich oft das Gefühl, die können es ja selber. Die Schwachen hat man meistens gut im Auge. Für die gibt es Heilpädagogen und die integrative Förderung. Lehrer nehmen die Schwachen viel besser wahr als die Starken. Und Starke können nur durch starke Leistungen auffallen, wenn sie den Raum haben, diese zu zeigen. Werden diese aber chronisch unterfordert, fallen sie oft durch aggressives oder depressives Verhalten auf. Solche Symptome führt man nicht gleich auf Unterforderung zurück.

zentral+: Am Symposium stellen sich vier Kinder und Jugendliche vor, die über ihre Begabungen reden, welche spezifisch gefördert werden. Zwei dieser jungen Redner werden von ihren Vätern, einem Musiker, und einem Mathematiker, unterstützt. Heisst das, Kinder mit gebildeten Eltern haben es leichter, dass ihr Talent entsprechend gefördert wird?

Müller: Wenn sich die Eltern für das Kind interessieren, dann ja. Das Interesse ist der springende Punkt. Und klar, wenn die Eltern viel Bildungshintergrund zu bieten haben, wird das natürlich spannend für die Kinder. Dazu kann ich Ihnen gleich eine Geschichte zur Illustration erzählen. Ich hatte einmal eine Gruppe von Begabten. Diese sollten jeweils selber ein Spiel erfinden. Ein Zweitklässler fragte mich, ob er für sein Spiel Plus- und Minus-Würfel machen dürfe, was ich natürlich guthiess.
Eine Woche später kam der Junge zu mir und sagte: «Sie, ich habe mit meinem Vater diskutiert. Und wir haben rausgefunden, dass man so gar nicht vorwärts kommen kann. Denn, würfelt man sehr häufig, kommt man auf gleich viele Pluspunkte wie Negativpunkte.» Von einem solchen Background rede ich. Der Vater fragt nach, denkt mit und kann einen entsprechenden Impuls geben. Wenn das nicht passiert, nützt es auch nichts, wenn Eltern gebildet sind. Und wenn die Kinder zuhause kein Echo bekommen, müssen wir in der Schule eine Alternative bieten.

zentral+: Wie kann man das, als Lehrerin, als Heilpädagoge?

Müller: Vielen Kindergärtnerinnen gelingt das gut im Rahmen des spielerischen Unterrichts. Manchmal habe ich jedoch bei den Primarschulen das Gefühl, dass man sich dort selber im Weg steht. Man versteht Volksschule als Schule, in der es bloss darum geht, das Mittelfeld zu unterrichten. Aber es gibt alle. Die Schwachen, die Starken und das Mittelfeld. Wenn man aber dieses Mittelfeld nie verlässt, entdeckt man ein hochbegabtes Kind gar nicht erst. 

Bildung, auch über die Pension hinaus

Elisabeth Müller war über 20 Jahre als Primarlehrerin tätig. Danach arbeitete sie als Heilpädagogin und Dozentin für Bildungs- und Sozialwissenschaften an der Pädagogischen Hochschule Zug. Noch heute, nach ihrer Pensionierung, arbeitet sie in reduziertem Umfang als Heilpädagogin und organisiert zudem das «Symposium Begabung» mit, welches am Samstag zum zehnten Mal an der Pädagogischen Hochschule durchgeführt wird. Der Anlass richtet sich insbesondere an Lehrpersonen, die Kindern mit hohen Begabungen zu hohen Leistungen verhelfen wollen.

zentral+: Wie findet man heraus, wo jemand ein Talent hat?

Müller: Im Prinzip ganz einfach. Nämlich dadurch, dass man immer Fragen und Herausforderungen stellt, die über das Lernziel hinaus gehen. Das kann ganz spielerisch sein, wie folgendes Beispiel veranschaulicht: Eine Lehrerin, die ich besucht habe, hat allen Kindern immer die gleichen Arbeitsaufträge gegeben. Viele Fachleute dachten nun, dass es den Begabten in der Klasse folglich ziemlich schlecht gehen müsse, da sie nicht gefordert würden. Als Heilpädagogin war ich dann aber in einer Stunde dabei in der die Lehrerin im Plenum gearbeitet hat und erkannt, wie geschickt sie unterschiedliche Niveaus abgerufen hat. 

Sie hat das Thema «Rechnen im zweiten Zehner» in der ganzen Klasse eingeführt und dann mit allen im ersten und zweiten Zehner gerechnet. Dann hat sie die Schüler gefragt, ob sie das Rechenproblem auch im dritten Zehner, im vierten Zehner, und so weiter, lösen könnten. Die Gruppe wurde immer kleiner, und die Begabten hatten richtig Freude, dass sie gefordert und gesehen wurden. Danach kehrte die Lehrerin aber wieder zurück zur ganzen Klasse und holte die Schwächeren wieder ab. Man merkte dieser Lehrerin die Freude an diesen Schülern richtig an.

zentral+: Kommen sich denn die schwächeren Schüler in einer solchen Situation nicht noch schwächer vor?

Müller: Nein, das habe ich nicht so erlebt. Die Lehrerin kehrte nach den schwierigen Aufgaben wieder zurück zu allen. Die Schwächeren hatten somit eine Verschnaufpause und wurden dann wieder abgeholt. Die Lehrerin hatte offenbar ein Auge auf alle Niveaus. Und das ist äusserst wichtig.

zentral+: Diese Lehrerin hat also offenbar ein Flair für solche Dinge. Lässt sich das auch lernen?

Müller: Es muss einem ein Stück weit gegeben sein. Ich denke, man kann und soll es auch üben. Doch ich habe so etwas in meiner Karriere auch nicht oft gesehen. Durch die Ausbildung für Begabungsentwicklung habe ich selber gelernt, meinen Blick dafür zu schärfen. Das könnten andere ebenfalls lernen. Unser Symposium soll eben solche Impulse vermitteln.

«Wenn der Elternwunsch nicht zum Kind passt, lösen sich die Elternträume mit der Pubertät meist auf.»

zentral+: Bei Eltern, die ihre Kinder stark fördern, bleibt oft ein Gefühl hängen, dass es eher um die Eltern geht, die selber früher etwas verpasst haben und nun darauf erpicht sind, dass wenigstens aus ihren Kindern etwas wird.

Müller: Ja, die gibt es. Die Eltern, die dem Kind quasi sagen «Wir haben uns Mühe gegeben, dass ihr es einmal besser habt». Das ist ein gesundes Bedürfnis von Eltern, und es ist auch klar, dass sie ein Stück weit ihre eigenen Träume hinein fliessen lassen. Manchmal passt der Elternwunsch zum Kind. Wenn er aber nicht passt, dann lösen sich die Elternträume mit der Pubertät meist auf, weil die Kinder zu rebellieren beginnen, da die Schiene der Eltern für sie gar nicht stimmt.

zentral+: Wie geht man mit solchen Fällen um?

Müller: Ich muss ehrlich sagen, das habe ich selber noch nie erlebt. Oft gab es Situationen, da dachten zwar die Lehrerpersonen, dass hier die Eltern etwas forcieren wollen, das nicht vorhanden ist. Doch wenn ich mich jeweils genauer mit dem Fall beschäftigte, musste ich den Eltern Recht geben, da beim Kind tatsächlich viel Potenzial vorhanden war.

zentral+: Dann ist es also in Ordnung, wenn Eltern Druck machen?

Müller: In der Schweiz ist die Haltung stark vertreten, dass man Kinder wie Pflänzchen wachsen lassen soll, ohne zu grossen Einfluss zu nehmen. Je älter ich werde, desto eher sehe ich, dass es in der Schule Gebiete gibt, die Training und Einflussnahme brauchen und dass es darauf ankommt, wie man «den Boden bearbeitet», also die Bedingungen für Wachstum schafft. Heute sind zwar Themen wie Druck und Leistung aktueller als früher, doch sind sie sehr allgemein und haben sogar mit Formalitäten und nicht mit Lerninhalten zu tun. Wichtig ist die richtige Balance zu finden: Zur Leistung motivieren ja, zu stark Druck ausüben nein: «Doch halte ich es für ausgesprochen wichtig, Leistungsforderungen dem individuellen Lernniveau der Kinder anzupassen.

zentral+: Ist es nicht schier unmöglich für Lehrpersonen, bei jedem Kind genau zu merken, was es braucht und jedes entsprechend individuell zu behandeln?

Müller: Die Förderung muss nicht gänzlich individuell sein. Kinder sind diesbezüglich grosszügig und lassen sich auch innerhalb einer Gruppe abholen.

zentral+: Dass dies, die Förderung von Talenten, in der Schule passieren kann, bräuchte es äusserst talentiertes Lehrpersonal. Doch gleichzeitig mangelt es an Lehrern. Was müsste also passieren?

Müller: Ja, zudem sind nicht alle gleich gut. Die Lehrer, die gut sind, haben selber ganz viel dazugelernt. Was man in der Ausbildung lernt, ist eigentlich viel zu wenig, aber es ist eine gute Basis. Es ist wie in jedem Beruf. Es braucht Weiterentwicklung durch Selbstreflexion und Weiterbildung, es braucht eine fundamentale Auseinandersetzung mit der Materie und sich selber. Manchmal träume ich von einer sequenzierten Ausbildung, die Jahre später nochmals einsetzt.

«In der Oberstufe geht es um die Frage: Habe ich Freizeit oder büffle ich? Dann herrscht plötzlich die Haltung, dass Lernen doof ist.»

zentral+: Kommen wir zurück aufs Thema Motivation. Was ist denn das Problem damit?

Müller: Die Motivation zum Lernen ist beispielsweise im Kindergarten klar vorhanden. Irgendwann während der Primarschule verlieren Schüler diese Lernfreude. Dort läuft unterwegs irgendetwas verkehrt. Ich habe viel darüber nachgedacht, was der Auslöser dafür sein könnte. Dabei kann ich nur Vermutungen anstellen. Einerseits nehme ich an, dass Frustration eine grosse Rolle spielt, ausgelöst beispielsweise durch schlechte Noten, die ein Kind nicht einordnen kann und die entmutigen. In der Oberstufe geht es wohl auch noch um die Frage: Habe ich Freizeit oder büffle ich? Dann herrscht plötzlich die Haltung, dass Lernen doof ist.

zentral+: Und was tut man als Lehrer dagegen?

Müller: Es hat viel damit zu tun, wie wir als Lehrpersonen zum Lernen stehen. Ich finde es elementar, dass diese ein echtes Interesse daran haben, die Kinder zu fördern und ihnen den entsprechenden Raum dafür auch geben. Und dass sie sich über grosse und kleine Fortschritte der Schüler freuen, auch über die der Leistungsschwachen. Manchmal reicht ein Klassengespräch, um die Schüler zu motivieren und Hänseleien den «Strebern» gegenüber zu vermeiden.

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