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Das Schutzbrief-System im zweiten Weltkrieg

Zu Ehren von Carl Lutz und André Sirtes

Carl Lutz in seinem zerstörten Badezimmer im Gebäude der britischen Gesandtschaft in Buda. Die Aufnahme mit Selbstauslöser entstand anlässlich des Besuchs von Lutz in Budapest ca. 1947, allenfalls auch erst 1949. (Bild: Archiv für Zeitgeschichte der ETH)

Sein Einsatz und seine Zivilcourage wurde lange nicht gewürdigt und ist schon fast in Vergessenheit geraten. Der Diplomat Carl Lutz rettet mit seinem Schutzbrief-System während des zweiten Weltkriegs Menschen jüdischen Glaubens, darunter auch der heute in Emmenbrücke lebende André Sirtes.

Es dauerte einige Jahrzehnte, bis Persönlichkeiten, die sich während des Zweiten Weltkrieges durch Zivilcourage hervorgetan hatten, auch durch offizielle Stellen gewürdigt wurden. Bekannt ist die Geschichte von Paul Grüninger, die kürzlich verfilmt wurde. Erst in jüngster Zeit wurden die Verdienste des Schweizer Diplomaten Carl Lutz (1895-1975) anerkannt. Die Initiative für diese neue Sicht ist den Aktivitäten seiner Stieftochter Agnes Hirschi zu verdanken, die sich während Jahren für dessen Rehabilitierung einsetzte. Diese ist inzwischen erfolgt. Bereits zu Lebzeiten erhielt Carl Lutz die Yad-Vashem-Medaille für «Gerechte unter den Völkern». Die offizielle Schweiz anerkannte dessen Leistungen jedoch lange Zeit nicht, der Diplomat geriet in Vergessenheit und beim Schweizerischen Bundesrat setzte erst 1970 ein Umdenken ein. Dabei kann sein Handeln heute als eine der grössten zivilen Rettungsaktionen von Jüdinnen und Juden im Zweiten Weltkrieg betrachtet werden. 

Der als Vizekonsul der Schweizer Botschaft in Budapest tätige Lutz rettete während des Zweiten Weltkrieges Zehntausende Menschen jüdischen Glaubens vor dem sicheren Tod. Er entwickelte ein Schutzbrief-System und stellte rund 70 Häuser unter den Schutz der Eidgenossenschaft, damit Jüdinnen und Juden dort vor der Deportation sicher waren. Nach dem Krieg wurde Lutz von seinen Vorgesetzten vor allem deshalb gerügt, weil er seine Kompetenzen überschritten hätte. Dies betrifft insbesondere die finanziellen Folgen, die seine Aktion auslöste.

Carl Lutz› Weg hat sich mit einer Persönlichkeit aus unserer Region gekreuzt. Der heute in Emmenbrücke lebende André Sirtes wurde 1935 als André Stern in eine jüdische Familie geboren. Er überlebte zusammen mit seinem jüngeren Bruder den Zweiten Weltkrieg in Budapest. Sein Vater wurde 1943 ermordet, seine Mutter 1944 ins KZ nach Dachau deportiert, wo sie im Mai 1945 von den Amerikanern befreit wurde. Sirtes, mit seinem jüngeren Bruder Nikolaus auf sich alleine gestellt, überlebte den Krieg in einem der Schutzhäuser, die Carl Lutz verwaltete. 1956 floh André Sirtes mit seiner Mutter und seinem Bruder aus dem inzwischen kommunistischen Land über Wien nach Luzern, wo die Familie Verwandte hatte. 1971 siedelte er nach Israel über und diente 13 Jahre als Berufsmilitär in der israelischen Armee. Er machte unter anderem 1973 den Jom Kippur Krieg mit und beschloss seine militärische Karriere als Commander der israelischen Marine. Nach seiner Pensionierung bei der Armee kehrte er 1984 in die Schweiz zurück, wo er einen neuen Beruf im sozialen Bereich erlernte. In unzähligen Auftritten liess André Sirtes seine Mitmenschen an den Erinnerungen aus seiner schweren Kindheit teilhaben. Der Bundesrat würdigte ihn am 27. Januar dieses Jahres mit einer Publikation.

Während der Zweite Weltkrieg eine Zerstörung von unglaublichem Ausmass über die Völker brachte, blieb die Schweiz weitgehend verschont. Diese Diskrepanz liess in der Folge ganz unterschiedliche nationale Identitäten in der Schweiz und in den kriegführenden Ländern entstehen. Carl Lutz scheint diese Spannung in seiner Zeit erfasst zu haben. Und er hat sie auch ins Bild gefasst. Im fotografischen Nachlass, der sich im Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich befindet, ist eine ganze Reihe von Fotografien erhalten, die Carl Lutz während der Kriegsjahre und unmittelbar danach mit Selbstauslöser aufgenommen hat. Eine Auswahl davon wird in der aktuellen Sonderausstellung noch bis 1. März 2015, im Historischen Museum Luzern gezeigt, die dem Wirken von Carl Lutz gewidmet ist. Die Ausstellung zeigt exemplarisch, wie jemand in einer aussergewöhnlichen Situation dank Zivilcourage zu einer aussergewöhnlichen Person wird. Diese Fotografien zeigen ihn gepflegt gekleidet und als unversehrten Repräsentanten der Schweiz inmitten von Kriegstrümmern. Seine Mimik ist dabei schwer zu deuten. Scheint er einmal nachdenklich zu sein, so ist auf anderen Bildern eine Lockerheit festzustellen, die angesichts der ihn umgebenden Katastrophe irritiert. Lutz zeigt sich hier als ein Fremdkörper, den das Ausmass der Zerstörung nicht unmittelbar betroffen hat.

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