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Zuger Gemeinden animierten arme Bürger zur Auswanderung

Auf und davon – wie die Itens im 19. Jahrhundert auswanderten

Ein Traum von vielen Zugern ging für die Familie Iten in Erfüllung: Sie wanderte in die USA aus. (Bild: AURA)

Geprägt durch die vielversprechenden Erzählungen vom ausgewanderten Bruder, entscheidet sich die Unterägerer Familie Iten, ihr Glück in den USA zu versuchen. Doch nicht für alle beginnt die Migration gleich glücklich. Bei Barbara Merz muss man fast schon von einer Entführung durch ihren Gatten, einen Lehrer, sprechen. Und da wäre noch die unrühmliche Rolle der Zuger Gemeinden, die ihre armen Mitglieder loswerden wollen.

Aus verschiedensten Gründen entscheiden sich Zuger Bürger in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für die Migration in die USA. Manche wandern aufgrund akuter Armut aus, andere aus politischen Gründen. Doch die weit verbreitete Annahme, dass die Emigration aus dem Kanton Zug auf die schlechten wirtschaftlichen Verhältnisse zurückzuführen sei, ist nur bedingt richtig.

Der Kanton Zug in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts

Den Kanton Zug erfasst nämlich ein wirtschaftlicher Aufschwung, der nur durch kleine Depressionen unterbrochen wird. In Ägerital werden die Spinnereien an der Lorze errichtet, die den Bedarf an Arbeitskräften steigen lassen. So ist die Zahl der Auswandernden nie höher als die der Zuzüger.

Auch die Landwirtschaft erlebt einen Wandel. Der Ackerbau wird immer mehr durch die Gras- und Milchwirtschaft ersetzt. Durch diese Veränderung werden manche Zuger in die Armut gedrängt. Zum Missfallen der Gemeinden des Kantons. Sie wollen die Zahlen der Armen so niedrig wie möglich halten.

Das «Armenproblem» wird zu dieser Zeit heftig diskutiert. Die Zuger Gemeinden ermuntern ihre armen Bürger zur Auswanderung, oftmals in die Vereinigten Staaten. Sie locken dabei mit einer grosszügigen Pauschalsumme oder der Bezahlung der Transportkosten nach Übersee. Doch diese Fälle bilden die Ausnahme unter den Motiven der Auswanderungswilligen. Durch vielversprechende Berichte von Verwandten und Freunden werden viele Schweizer Bürger in eine Aufbruchsstimmung versetzt. Das ewig weit entfernte Sehnsuchtsziel wird zum Greifen nah.

Die Welt verkleinert sich

Doch ist dies auch eine Zeit des Umbruchs. Durch den Anschluss von Zug ans Schweizer Eisenbahnnetz 1864 steigt die Mobilität enorm. Der mühselige Weg bis in die französische Hafenstadt Le Havre wird zu einem sehr viel angenehmeren Erlebnis. Die Reise nimmt auf einmal wesentlich weniger Zeit in Anspruch und wird um ein Vielfaches komfortabler. Ebenso ändert sich die Schifffahrt, die Überfahrt lässt sich in zwei Wochen bewältigen. Auch wenn die Distanzen noch immer ausserordentlich weit sind, wird die Welt doch kleiner.

Traum von den USA

Auch in der kleinen Gemeinde Unterägeri werden diese Veränderungen bemerkt. Besonders die Geschwister Iten lassen sich von dieser Aufbruchsstimmung anstecken.

Ermuntert durch die positiven Erzählungen von Bruder Johann Josef Iten, der schon 1855 mit seiner Familie in die USA ausgewandert ist, setzen sich auch die anderen Geschwister immer mehr mit der Auswanderung in die Vereinigten Staaten auseinander. Durch ihr Kontaktnetz, das sich bis in die USA spannt, können sie sich ein gutes Bild vom Land machen. Es gibt für Siedler exzellente Verdienstmöglichkeiten sowie endlose Landflächen, welche die Regierung geradezu verscherbelt. Diese rosigen Aussichten wirken vielversprechend auf die Familie.

Die Auswanderung nimmt Form an

Nach dem Tod der Mutter beginnt die Familie sich konkreter mit der Auswanderung auseinanderzusetzen. Die Geschwister Iten, bestehend aus den beiden Schwestern Rosa und Katharina Iten sowie den drei Brüdern Franz, Justus und Xaver, entscheiden sich 1866 auszuwandern. So beginnen sie mit ihren Familien die Reise zu planen. Der älteste Bruder Xaver Iten organisiert die Migration. Er hat im Laufe seiner Karriere als Lehrer ein soziales Netzwerk aufgebaut, das er sich jetzt zunutze macht. Unter seinen Kollegen und ehemaligen Schülern sind einige in die USA gezogen. Mit ihrer Hilfe kann er sich hervorragend auf die Auswanderung vorbereiten. So kann er durch seine minutiöse Planung typische Fehler vermeiden.

Einzig die Ehestreitigkeiten zwischen Justus Iten und seiner Frau Barbara Merz trüben die Aufbruchsstimmung. Sie verlangt die Scheidung, beschuldigt ihren Ehemann der häuslichen Gewalt. Aufgrund der Misshandlungen will sie nicht mitgehen, sondern in Unterägeri bleiben. Das Gemeindegericht nimmt jedoch keine Rücksicht auf Barbara Merz. Dennoch bittet sie in zweiter Instanz das bischöfliche Kommissariat um einen Rechtsspruch. Der kirchliche Entscheid erlaubt ihr die Trennung. Doch wie es ein unglücklicher Zufall will, erreicht sie der Entscheid erst wenige Stunden nach ihrer Abfahrt. So muss sie sich ins unfreiwillige Exil begeben, das sie erst viele Jahre später wieder verlassen kann.

Ein Neustart in St. Cloud

Der bereits angesprochene Bruder der Familie Iten, Johann Josef, wandert schon 1855 mit seiner Frau Verona Speck und seinen drei Kindern aus. Infolge der Auswanderung gibt er seine Stelle als Postreiter in Zug auf. Da die Familie über finanzielle Mittel verfügt, kann sie sich sogleich eine Farm kaufen, die in der Stadt St. Cloud im Bundesstaat Minnesota liegt.

Diese Farm ist das erste Anlaufziel der nachkommenden Geschwister. Nach einer mehrwöchigen Reise mit unzähligen Unterbrechungen und mehrmaligem Umsteigen erreichen sie das «gelobte Land». Xaver berichtet im «Zuger Volksblatt» von der Reise und beschreibt sie als ereignislos. Alle seien glücklich, endlich angekommen zu sein. Ob Barbara Merz diese Empfindungen teilt, wagt man jedoch zu bezweifeln. Angesichts ihrer legalen Entführung wird sie Xaver Itens Gemütszustand wohl nicht teilen.

Nach ihrer Ankunft bleiben sie einige Tage beim Bruder in St. Cloud und bemühen sich um den Erwerb ihres eigenen Farmlandes. Sie lassen keine Zeit verstreichen, wohlwissend, dass ihre Existenz von ihren nächsten Entscheidungen abhängt. Die Brüder beschliessen, Ackerland unweit von Bruder Johann zu kaufen. Die Integration in ihr neues Leben gelingt ihnen schnell. Xaver Iten kann seiner Passion, der Musik, nachgehen und bildet schon bald einen Gesangsverein. Seinem Sohn wird der Besuch einer Privatschule ermöglicht und seine Frau kann ihrer Tätigkeit als Näherin nachgehen. Die anderen Brüder können ihre Farmen erfolgreich führen.

Geglückte Migration

Erste Schwierigkeiten hat Xaver mit der englischen Sprache, die er mithilfe eines katholischen Pfarrers in St. Cloud erlernt. Doch auch diese Hürde meistert er. Seine Karriere entwickelt sich in den kommenden Jahren positiv weiter. Er nimmt Stellen als Organist und Lehrer an. 1869 versucht er sich sogar als Geschäftsmann. Er übernimmt gemeinsam mit einem weiteren Iten aus dem Ägerital eine Bar. Durch ihre Organisation und Dynamik findet sich die Familie schnell in die amerikanische Gesellschaft ein.

Ganz frei nach dem amerikanischen Traum streben die Itens nach mehr. Und finden es in St. Cloud, Minnesota. Ein Schweizer Beispiel der geglückten Migration.

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Ob Hintergründe zu alten Gebäuden, Geschichten zu Plätzen, stadtbekannte Personen, bedeutende Ereignisse oder der Wandel von Stadtteilen – im «Damals»-Blog werden historische Veränderungen und Gegebenheiten thematisiert.
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2 Kommentare
  • Profilfoto von Andreas Peter
    Andreas Peter, 22.05.2021, 17:23 Uhr

    > «Es gibt für Siedler exzellente Verdienstmöglichkeiten sowie endlose Landflächen, welche die Regierung geradezu verscherbelt.»
    Genau. Und wer das jetzt vergleichen will, mit der aktuellen Migration aus Afrika, Vorderasien und Afghanistan in die europäischen Sozialsysteme, sollte noch einmal nachdenken.

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    • Profilfoto von Rudolf 1
      Rudolf 1, 23.05.2021, 05:46 Uhr

      Das ist das Beispiel eines ausgewanderten Clans, der über Geldmittel verfügte. Den meisten Auswanderern ging es miserabel. Die Hälfte von ihnen kam auf der Reise oder bis ein Jahr danach um.

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