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Kellnerinnen als «Familienzerstörerinnen» gebrandmarkt

Als in Luzern die Prostitution aufkam

Überschrift: Moral eines Polizeikommissärs oder Theorie und Praxis, Karikatur aus «Der neue Postillon», Zürich, 1897 (Bild: Susanne Businger (2012))

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden die Städte immer grösser. Dem Vorbild des Pariser Moulin Rouge folgend, setzten auch die Luzerner Gastbetriebe wie «Malaga», «Hirschen», «Adler» und «Weisses Kreuz» immer mehr auf eine Kombination von Alkohol und Erotik. Darunter litten besonders die Kellnerinnen, welche in der Öffentlichkeit als Prostituierte beschimpft wurden, aber für die Gastbetriebe als sexy Servierpersonal von vitaler Bedeutung waren.  

In einem Luzerner Polizeiprotokoll aus dem Jahr 1940 beschreibt ein Gast seinen Aufenthalt in einem Gasthaus. Eine Kellnerin habe ihn im Laufe des Abends verführt und sexuell berührt. Der Gast führt dann im Bericht genauer aus: «Er sei sehr «geil» geworden und habe versucht, mit der Serviertochter sofort den Geschlechtsverkehr zu vollziehen. Die Serviertochter habe dies aber abgelehnt, hingegen habe sie ihn eingeladen, nach Wirtschaftsschluss mit ihr nach Hause zu kommen.»

Als er dann zur besagten Zeit zurückkehrte, erklärte ihm die Kellnerin, dass ihr jetzt unwohl sei und er doch nicht mit ihr nach Hause kommen könne. Dabei habe sie ihn mit zwei Gläsern Wein bewirtet, obwohl der Mann vergeblich versucht habe, ein nicht alkoholisches Getränk zu bestellen. Die Luzerner Sittenpolizei, welche die lokalen Gasthäuser auf unsittliches Verhalten überprüfte, schob daraufhin die Schuld einseitig der Kellnerin zu, welche den männlichen Gast sexuell aufgereizt und gegen seinen Willen zum Alkohol verführt habe.

Wachsender Bedarf an Vergnügungsstätten

Eine Episode, die vor 80 Jahren in Luzern alltäglich war. Das Bild der Kellnerin als «Familienzerstörerin», als Prostituierte und/oder als Verbreiterin von Geschlechtskrankheiten war auch im frühen 20. Jahrhundert kein neues, doch wurde es durch die rasanten Entwicklungen im Zuge der Industrialisierung immer mehr ins Rampenlicht gestellt. Ab 1850 gab es nicht nur immer mehr Menschen, es begann sich auch eine immer grösser werdende Mittelschicht sowie eine nicht mehr völlig verarmte Unterschicht herauszubilden, welche einen Bedarf an kulturellen Vergnügungsstätten wie Cafés, Kinos und Variétés hatten.

Luzern um 1940: Bahnhof mit Kunst- und Kongresshaus. (Bild: ETH-Bibliothek Zürich)

Die etablierten Gasthäuser, Weinstuben und Bars reagierten auf die neue Konkurrenz mit der Einführung eigener Tanzveranstaltungen und Musikdarbietungen. Andere führten sogenannte Champagnerboxen ein, in welchen die Gäste, abgeschirmt vom restlichen Lokal, Alkohol und sogar noch Anrüchigeres konsumieren konnten. Und wo Tanz, Alkohol und gelockerte Taburegeln zusammenkommen, da bleiben die Bordelle nicht lange fern, welche die Prostitution zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den Gast- und Wirtshäusern ausdehnte. So zumindest sah es ein Grossteil der städtischen Bevölkerung.

Ehrbare und gefallene Frauen

Gasthäuser, seit jeher ein von Männern dominierter Aktionsraum, waren Verdächtigungen als Ort der erotischen Begegnung besonders ausgesetzt. In diesen Zeiten war die Arbeit als Kellnerin im Gastgewerbe auch stets mit dem Verdacht auf Prostitution verbunden. Dieser Verdacht stand im Kontext eines rigiden bürgerlichen Geschlechterverständnisses, das zwischen «ehrbaren» und «liederlichen» oder «anrüchigen» Frauen unterschied. Mit diesem Geschlechterverständnis ging auch die Einteilung zwischen einem von Männern dominierten öffentlichen Raum und einem von Frauen bestimmten privaten Raum einher.

Bars, Weinstuben und Gasthäuser fanden sich an der Schnittstelle zwischen privatem und öffentlichem Raum: Sie stellten einen exklusiv als Männerort inszenierten Ort dar, der jedoch der Frauen als Angestellte bedurfte, um das auf Vergnügen und Erotik ausgerichtete Angebot zu ermöglichen. Frauen, die solche Lokale als Konsumentinnen besuchen wollten, wurden in aller Regel als «gefährdet» oder «gefallen» etikettiert.

Prostitution, Falschspielerei und Völlerei

Auch das langsam sich als Touristenstadt etablierende Luzern war von diesem Wandel betroffen und führte am 6. April 1910 ein «Gesetz betreffend das Wirtschaftsgewerbe und den Handel mit geistigen Getränken» ein. Dabei wurde – nebst mehreren Regelungen zum Schutz der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen – zur ordnungsgemässen Führung einer Wirtschaft die Pflicht eingeführt, «weder unzüchtige Handlungen zu dulden, noch zu solchen Vorschub zu leisten».

Natürlich versäumten etliche Gasthäuser die Einhaltung dieser Pflicht. So beschrieb beispielsweise 1929 die Polizeidirektion der Stadt Luzern die Lage in einem Brief an das kantonale Staatswirtschaftsdepartement: «Es ist bekannt, dass diese Betriebe die bevorzugten Rendez-vous-Orte für eine Gesellschaft von Leuten bildeten, welche verbotenen Erwerbszwecken nachgehen. Prostitution, Falschspielerei und Völlerei sind in diesen Betrieben keine Seltenheit.»

Wirtschaft siegt über Moral

Diese «unsittlichen» Gasthäuser stellten die Stadt jedoch vor ein Dilemma. Ab dem Beginn des Ersten Weltkrieges bis zum Ende des Zweiten erlebte Luzern zwar ein rasantes Bevölkerungswachstum, doch der so lukrative Touristenstrom versiegte weitgehend. So wurden zwar stets der hohe Alkoholkonsum und die Unsittlichkeit in den Gaststätten kritisiert, doch ging man nicht allzu hart gegen die für die Wirtschaft so wichtigen Gastbetriebe vor. Um als Touristenstadt attraktiv zu bleiben, war man – dies schliesst die Wirte genauso wie die Behörden ein – auf eine lockere Handhabung der Regelungen angewiesen: Musik, Tanz und Bier, serviert von jungen Frauen, waren Attraktionen, auf die man nicht verzichten wollte.

Die Schaufensterwerbung verspricht «Täglich Konzert» im Hotel Hirschen in Luzern. (Aufnahme um 1930) (Bild: Susanne Businger (2012))

Trinkgeld ist der einzige Lohn

Die Kellnerinnen befanden sich dabei oftmals in einer sehr schwierigen Lage. Die Bezahlung dieser Frauen bestand aus Kost, Logie und Trinkgeld. Wenn ein Lohn (also ohne Trinkgeld) überhaupt ausgezahlt wurde, betrug dieser zumeist nicht mehr als 20 Franken im Monat. Die Kellnerinnen in Luzern erhielten oftmals eine Provision auf den Verkauf alkoholischer Getränke. In den Lokalen «Malaga», «Hirschen», «Adler» und «Weisses Kreuz» erhielten die Kellnerinnen zwischen 50 Rappen und 1 Franken Provision.

War die Nähe zur Prostitution nur Inszenierung?

Durch dieses Lohnschema ergab sich fast schon eine Erpressungssituation, da diese Frauen für die Lebenssicherung auf das Trinkgeld angewiesen waren, aber sich daher bei den regelmässig vorkommenden Übergriffen «zuvorkommend» und «freundlich» zeigen mussten. Des Weiteren wurden diese als Kellnerinnen arbeitenden Frauen ja gemeinhin als Prostituierte und «gefallen» bezeichnet. In den Reporten der Luzerner Sittenpolizei wurden Kellnerinnen oft als Verführerinnen beschrieben, die unbescholtene Männer zum Alkoholkonsum und zu sexuellen Handlungen verführten. Zudem galten sie als «Familienzerstörerinnen» und als Verbreiterinnen von Geschlechtskrankheiten.

Mehrere wissenschaftliche Untersuchungen zeigen mittlerweile jedoch auf, dass die gedachte Nähe der Kellnerinnen zur Prostitution reine Inszenierung war. Ebenfalls wurde aufgezeigt, dass das grösste Risiko einer Ansteckung der Männer mit einer Geschlechtskrankheit im ausserehelichen Sexualkontakt mit anderen Frauen (also nicht Prostituierten oder Kellnerinnen) lag. Verheiratete Frauen steckten sich wiederum zu 80 Prozent bei ihren Männern an.

Dieser Beitrag stützt sich primär auf die Forschung von Susanne Businger, «Champagnerboxen und Kellnerinnen in Luzerner Weinstuben und Bars der Zwischenkriegszeit» (2012) sowie Sabine Jenzer, «Die Dirne, der Bürger und der Staat» (2014).

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