Wer wohnt denn hier?

Wie es sich in Luzerns Bügeleisenhaus lebt

Wohnt seit 40 Jahren in der Baselstrasse: Profi-Schlagzeugspieler Charlie Weibel. (Bild: ida)

Das markante Eckgebäude – der Baslerhof – beim Kreisel Kreuzstutz dürfte vielen bekannt sein. Einer, der seit bald 40 Jahren darin wohnt und arbeitet, ist Charlie Weibel. zentralplus liess sich zum Kaffee einladen.

Durch die offene Balkontür schlägt einem das lärmige Treiben der Baselstrasse entgegen: Züge quietschen, Motoren heulen auf, Busse zischen. Billy, ein rund 60 Kilogramm schwerer Neufundländer, liegt auf dem Balkon – sichtlich unbeeindruckt – und verfolgt das Treiben unter ihm.

Charlie Weibel, Jeans und schwarzer Zip Hoodie, steht auf seinem Balkon, auf dem im Sommer der Oleander blüht. Rechts von ihm thront auf der Strasse beim Luzerner Kreuzstutz-Kreisel die über drei Meter hohe Figur des stadtbekannten und inzwischen verstorbenen Strassenwischers Heinz Gilli, der 15 Jahre lang rund um den Kreisel geputzt und gewerkelt hat.

Luzerns Bügeleisenhaus: Das Haus zwischen Bern- (links) und Baselstrasse (rechts vom Haus). (Bild: ida)

Weiter hinten sind die Gleise, links davon erhaschen wir einen Blick auf die Reuss. Das Haus an der Baselstrasse 75, in dem wir uns befinden – lachsfarbene Fassade, eingeklemmt zwischen Basel- und Bernstrasse –, fällt auf. Von oben betrachtet hat es die Form eines Dreiecks, wie ein «Bügeleisen», dessen Spitz zum Kreuzstutz-Kreisel zeigt.

Weibel wohnt seit Februar 1985 hier. Damals zahlte er noch schlappe 140 Franken. «Dafür bekommt man heute gerade einmal einen Parkplatz», sagt er und lacht.

Ruhe mitten im Trubel

Weibel läuft in die Küche seiner Dreizimmerwohnung und macht sich an der Kaffeemaschine zu schaffen. Bald riecht es nach frischem Kaffee, der hinter ihm in die weisse Tasse fliesst – und überläuft. Derart vertieft ist Weibel bereits im Gespräch. «Ich kann hier aus dem Fenster oder dem Balkon schauen, und es passiert einfach immer etwas, das spannend ist. Mir gefällt es an diesem Ort. Ich mag es, wenn eine Stadt pulsiert.»

«Hier habe ich meine Ruhe. Eigentlich ist es ein Witz, weil es wirklich laut ist.»

Charlie Weibel

Weibel setzt sich an den Küchentisch. «Hier habe ich meine Ruhe», sagt er. Und ergänzt von selbst: «Eigentlich ist es ein Witz, weil es wirklich laut ist. Doch ich kann hier ungestört meiner Musik und dem Zeichnen nachgehen.» Das pulsierende Treiben inspiriere und lenke ihn gleichermassen ab. An diesem Ort lasse er andere in Ruhe – und sie ihn.

In dieser Küche hatte Weibel einmal selbst eine Badewanne auf einem Sockel gezimmert. (Bild: ida)

Dass er seit bald vier Jahrzehnten im Bügeleisenhaus wohnt, zeigen die Wände, welche Erinnerungen festhalten und Geschichten erzählen. Zahlreiche Fotos und Zeitungsausschnitte hat der Stadtluzerner an diese genagelt und geklebt. Auf einem Zettel steht «Welcome Nico Brina und Charlia Weidel». Offensichtlich wurde Weibels Namen komplett falsch geschrieben. Dieser lacht.

Seit 1977 ist Charlie Weibel Profischlagzeugspieler

Er erzählt, wie er mit Nico Brina, einem Freund und bekannten Schweizer Boogie-Woogie-, Blues- und Rock-’n’-Roll-Pianisten, ein gemeinsames Konzert in der Dominikanischen Republik gegeben hätte. Ein Neureicher aus Zentralasien, der als Gast im Publikum applaudierte, habe sie für einen Gig nach Kasachstan einladen wollen.

Wer wohnt denn hier?

In unserer losen Serie «Wer wohnt denn hier?» blickt zentralplus hinter verschlossene Türen oder Zäune von aussergewöhnlichen Häusern in Luzern und Zug. Vorgestellt werden jene Personen, die darin wohnen.

Mit ebendiesem Blatt, das nun die Küchenwand von Weibels Atelier ziert, wurden sie am Flughafen begrüsst. Nach dem Konzert in einem grossen Club in Almaty, der grössten Metropole Kasachstans, seien sie spontan zu einem weiteren Gig gefahren. «Die anderen setzten kurzerhand eine Blausirene aufs Autodach, mit Vollgas fuhren wir zum nächsten Club.» In diesem seien die Geldnoten nur so auf die Bühne geworfen worden, erzählt Weibel und lächelt verschmitzt. Eines seiner Schlagzeuge sei immer noch in Kasachstan. Brinas E-Piano ebenso.

Seit 1977 ist Weibel als Profischlagzeuger unterwegs. Er blickt auf zahlreiche Gigs im In- und Ausland zurück. Seit 36 Jahren ist er Schlagzeuglehrer an der Musikschule Ebikon Rontal.

Rue de Blamage – weniger verruchte Baselstrasse als auch schon

Weshalb zog es Weibel in den vergangenen Jahren nie weg? Denn die Baselstrasse, an der über 70 Nationen zusammen kommen sollen, hat einen verruchten Ruf. Gewalt, Drogen, Prostitution, Dreck und Lärm – viele, die hier wohnen, führen ein Schattendasein. Der 62-Jährige erzählt, dass sie gerade auch vor der Tür dieses Hauses oft gedealt und konsumiert hätten.

«Wenn wir probten, so hallte dies das ganze Haus hinauf – beklagt hat sich nie jemand.»

Charlie Weibel

Er steht von seinem Stuhl auf, öffnet das Fenster, sagt noch: «Es müsste jetzt ein ‹rüüdiger› Zufall sein, wenn sie gerade dastehen.» Ein Blick nach draussen: Niemand steht bei der Treppe, die zur Bernstrasse hinaufführt. Heute sehe er vielleicht noch zwei- oder dreimal im Monat, wie jemand dort konsumiere oder deale. «In den vergangenen Jahren wurde es viel ruhiger.» Die Strassensexarbeit wurde an den Stadtrand gedrängt, die Polizei markiert Präsenz vor Ort.

«Ich sah dies alles nie als Bedrohung», sagt Weibel. Klar, auch er sei schon von Dealern angequatscht worden oder musste sich umgekehrt vor der Polizei ausweisen. Bis sie ihn dann kannte. Mit Drogen habe er selbst nie etwas am Hut gehabt. «Es ist verrückt, wie diese Menschen teilweise aussehen.» Manche habe er immer wieder gesehen, bis sie von der Bildfläche verschwunden seien. «Viele von ihnen waren schlecht ‹zwäg›. Vermutlich sind sie gestorben. Das macht mich betroffen.»

Drogen und Armut: In der Baselstrasse ist dies sichtbar. (Bild: ida)

Baslerhof: seit 1898

Zur Wohnung gekommen ist Weibel vor 40 Jahren durch seinen Onkel, der ihn schon in Kindheitsjahren zu diversen Jazzkonzerten mitgenommen hat. Der Onkel führte in demselben Haus unten ein Atelier für Wappenscheiben. Im Atelier bauten sie eine Bühne und spielten mit vielen Jazzmusikern zusammen Konzerte. Weibel bekam auch ein eigenes Probelokal im Nebenraum. «Wenn wir probten, so hallte dies das ganze Haus hinauf – beklagt hat sich nie jemand.» Doch die Musik ist schon lange verstummt: Die Proberäume und die Bühne mussten einer Waschküche weichen.

Gebaut wurde das Haus 1898, der Baslerhof, wie das Gebäude offiziell heisst, beherbergte im Erdgeschoss einst ein Restaurant unter demselben Namen. Heute ist an jenem Ort der Treffpunkt Stutzegg, die «Stube der Stadt», einquartiert. In diesem treffen sich seit 25 Jahren vor allem einsame und arme Menschen (zentralplus berichtete).

Der Baslerhof an der Baselstrasse 75. (Bild: ida)

Drohung, Polizei, Feuer – und ein tödlicher Sturz vom Balkon

In den vergangenen Jahren hat der Luzerner in seiner Bleibe viel erlebt. Nicht nur Gutes. So habe eine Nachbarin, die unter ihm eingezogen sei, immer wieder mit dem Besenstil an die Decke geschlagen und die Polizei wegen angeblicher Ruhestörung gerufen. Weibel habe mit ihr das Gespräch gesucht, die Böden mit Teppichen ausgelegt, damit sie das Kratzen des Hundes nicht mehr höre.

Doch die Nachbarin habe sich nicht beruhigt. Später habe sie ihn mit einem Holzbalken bedroht und einen Dolch vor seiner Wohnungstür auf die Fussmatte platziert. Weibel steht von seinem Stuhl auf, nimmt einen Stapel Papiere in der Hand. Diese dokumentieren auch mit Fotos das Geschehene. «Da war mir gar nicht mehr wohl», sagt Weibel. Auch er hat schliesslich die Polizei involviert. Der Spuk dauerte zwei Jahre, bis die Frau ausgezogen ist.

Weibel musste die Wohnung auch schon über die Feuerleiter verlassen. Dreimal hat es in den vergangenen 40 Jahren im Gebäude gebrannt. 2002 kam es zu einem Todesfall. Weibel erzählt, dass sich ein Paar in der Wohnung unter ihm gestritten habe. Damals hörte er einen lauten Schrei – Sekunden später erblickte er eine Frau im Pyjama, umgeben von einer Blutlache, auf dem Asphalt der Baselstrasse. Sie fiel vom Balkon und verstarb später im Spital. Auch die Medien berichteten damals darüber.

Die Badewanne in der Küche

Heute benutzt Weibel die Wohnung an der Baselstrasse hauptsächlich als Atelier. Als er die Wohnung im Babel-Quartier 1985 übernommen hat, hatte er nicht einmal eine Dusche oder eine Badewanne. Deswegen hat er selbst eine in der Küche auf einem Sockel gezimmert. Das Wasser floss dann direkt ins Spülbecken in der Küche.

«Das Fenster konnte man dann halt nicht mehr aufmachen, doch die Idee war total originell», sagt Weibel. Heute lässt sich das Fenster wieder öffnen, die Badewanne ist aus der Küche verschwunden, denn die Verwaltung hat ein Badezimmer mit Badewanne gebaut. Weibel hat selbst auch eines seiner Zimmer mit Täfer eingekleidet. Selbst Hand anzulegen, das habe ihm das Gefühl gegeben, dass dies auch wirklich seine Bleibe ist. Heute zahlt er 724 Franken Miete.

Lange Leidenschaft zur Musik

Dass Weibel eine lange Leidenschaft zur Musik, insbesondere zum Schlagzeugspielen, verbindet, ist unschwer zu erkennen. Im Zimmer neben der Küche stehen E-Drum, Keyboard und diverse E-Bässe bereit, rundum stapeln sich Hunderte von CDs und Platten.

Als Weibel zwölf Jahre alt war, kaufte er sich sein erstes Occasion-Schlagzeug. Anschliessend besuchte er die Jazzschule und wurde Schlagzeuglehrer beim einstigen «Music & Drummer Shop» am Löwengraben. Als er 22 Jahre alt war, erhielt er eine Anfrage vom Stadttheater Luzern für ein Musical. «Ich freute mich extrem – war aber auch ein wenig eingeschüchtert. Schliesslich hatte ich es da nur mit Profis zu tun. Ich konnte keine Noten lesen, habe nur nach meinem Ohr gespielt», erzählt Weibel rückblickend.

Er klemmte sich dahinter, büffelte das Notenlesen. «Schliesslich hatte ich so Freude daran, dass ich begonnen habe, Anleitungen zum Schlagzeugspielen zu schreiben.» Viele von uns dürften mit Weibels Büchern das Schlagzeugspielen gelernt haben: Bis heute entstanden sieben Bücher, die im ganzen deutschsprachigen Raum verbreitet sind. Zu Weibels Highlight gehört auch seine Teilnahme beim Musical «Cats» in Zürich in den 90er-Jahren.

Zu Haus’ an der Baselstrasse

Auffällig viele würden Weibel sagen, dass sie an der Baselstrasse nicht wohnen könnten. Doch er möchte die Wohnung nicht missen. Wenn ihm etwas gefalle, dann bleibe er auch. «Ich komme immer wieder gerne hier hin. Ich liebe das Originale, Einfache und Bescheidene.»

Treuer Begleiter: Charlie Weibel mit seinem 14-jährigen Neufundländer Billy. (Bild: ida)
Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Charlie Weibel
  • Augenschein vor Ort
  • Website von Charlie Weibel
  • Artikel in der «Neuen Luzerner Zeitung» vom 27. März 2002
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