Müssen sich FCL-Fans Repression gefallen lassen?

Anwältin kritisiert Kollektivstrafen gegen Fussballfans

Sie sind laut, kreativ, bunt – und manchmal auch gewalttätig: Fussballfans. (Bild: fcl.fan-fotos.ch/zvg)

Die schweren Ausschreitungen rund um das FC-Luzern-Heimspiel gegen St. Gallen hatten Konsequenzen. So mussten beide Teams wenige Tage danach auswärts vor geschlossenen Gästesektoren spielen. Eine Fananwältin erklärt, wieso derartige Kollektivstrafen Fangewalt nicht verhindern werden.

Manuela Schiller ist Anwältin und vertritt Klienten mit kleinem Budget unentgeltlich. Bekanntheit erlangte sie nebst ihrem Engagement im Bereich des Mietrechts auch als Fananwältin. In Hunderten Fällen hat sie Fans vertreten, die ins Visier der Strafverfolgungsbehörden geraten sind.

Mit Manuela Schiller hat sich zentralplus über die neuesten, auf dem Hooligankonkordat basierenden Repressalien der Bewilligungsbehörden rund um die Fussballspiele des FC Luzern unterhalten. Und wollte von ihr wissen, ob die Sperre des FCL-Auswärtssektors in der zweitletzten Runde der Super League in Sion (zentralplus berichtete) als Reaktion auf die Ausschreitungen beim Heimspiel gegen St. Gallen am Bundesplatz vor der Zone 5 (zentralplus berichtete) verhältnismässig gewesen sei. Die Kurzantwort der Anwältin: «Kollektivstrafen sind eigentlich nie verhältnismässig. Sie treffen alle – und somit auch die grosse Mehrheit der Unbeteiligten.»

Hooligankonkordat sieht präventive Massnahmen vor

Das Hooligankonkordat bildet für die Massnahmen der Bewilligungsbehörden die gesetzliche Grundlage. Nach Artikel 1 des Hooligankonkordats sind die Behörden angehalten, präventive polizeiliche Massnahmen zu treffen, um Gewalt rund um Sportveranstaltungen frühzeitig zu erkennen und zu bekämpfen. Doch gemäss Manuela Schiller würden die Massnahmen immer als Reaktion auf ein vorangegangenes Ereignis verfügt. Es seien also keine präventiven Massnahmen, sondern Kollektivstrafen, die sich gegen alle, statt gegen die Störer, richten.

Tatsächlich hat die Bewilligungsbehörde beim Auswärtsspiel des FCL in Sion den Gästesektor geschlossen – als Reaktion auf die Ausschreitungen beim Heimspiel gegen St. Gallen. Dabei richtete sich die Massnahme gegen alle FCL-Fans, und nicht etwa nur gegen diejenigen, die sich zuvor an den Ausschreitungen beim Spiel gegen St. Gallen beteiligt hatten. Es handelte sich also um eine Kollektivstrafe ohne präventiven Charakter.

«Massnahmen müssten geeignet, erforderlich und angemessen sein»

Manuela Schiller erklärt den Begriff der Verhältnismässigkeit: «Damit eine Massnahme verhältnismässig ist, müsste sie gemäss Bundesgericht einen legitimen Zweck verfolgen, geeignet, erforderlich und angemessen sein.» Die Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren (KKJPD), zu der auch Regierungsrat Paul Winiker gehört, hat neue Massnahmen ins Spiel gebracht. Schiller überzeugen die Massnahmen nicht: «Sektorensperren, Geisterspiele und Spielabsagen sind meiner Meinung nach zwar gesetzlich möglich, aber nicht verhältnismässig. Sie sind weder geeignet oder zielführend noch erforderlich oder angemessen, um künftige Gewalttaten zu verhindern.» Auch, weil Gewalttaten praktisch immer ausserhalb der Stadien stattfinden.

«Die meisten Rayonverbote werden von den Fans akzeptiert und respektiert.»

Manuela Schiller, Fananwältin

Dasselbe gelte für personalisierte Tickets. Sie seien ebenfalls nicht zielführend, denn sie brächten nichts, so Schiller. Diese Meinung vertreten auch Fabian Achermann von der Fanarbeit Luzern und der FC Luzern, der sich via Mediensprecher Markus Krienbühl im März gegenüber zentralplus zum Thema geäussert hat (zentralplus berichtete). Damals sagte Krienbühl: «Der FCL ist weiterhin gegen die Einführung personalisierter Tickets. Diese lösen das Problem der Fangewalt ausserhalb des Stadions aus unserer Sicht nicht.»

«Rayonverbote sind relativ verhältnismässig»

Rayonverbote hingegen beträfen immer einzelne Fans. Ihnen sei jeweils «glaubhaft» gewalttätiges Verhalten nachgewiesen worden. Bei Einführung der Rayonverbote hätten die Polizeien in vielen Kantonen zunächst fast alles falsch gemacht, sagt die Zürcher Anwältin. Viele Fans hätten sich denn auch erfolgreich gewehrt. Es habe sich inzwischen eine gewisse Rechtspraxis etabliert. «Die meisten Rayonverbote, die ich zu sehen bekomme, sind nun relativ verhältnismässig und werden von den Fans akzeptiert und respektiert.» Wenn sich im Nachhinein ergebe, dass die Betroffenen zu Unrecht beschuldigt worden wären, würden Rayon- und Stadionverbote in der Regel aufgehoben. Das sei zu Beginn nicht der Fall gewesen.

«Es ist der Politik durchaus zuzutrauen, weitere unsinnige Verbote und Kollektivstrafen einzuführen.»

Manuela Schiller, Fananwältin

Auch Fabian Achermann von der Fanarbeit Luzern führt nebst der Prävention und dem institutionalisierten Dialog die Einzeltäterverfolgung als wirksames Mittel gegen Gewalt rund um Fussballspiele an (zentralplus berichtete). Zu diesem Schluss kommt auch der 150-seitige Expertenbericht «Biglietto+», den die Swiss Football League (SFL) und die Konferenz der Kantonalen Polizeikommandanten (KKPKS) in Auftrag gegeben haben, um Gewalt rund um Fussballspiele zu minimieren. Erfolg versprechend seien dem Expertenbericht zufolge – nebst deeskalativen Ansätzen – Massnahmen zur Täteridentifikation und Einzeltäterverfolgung, namentlich eine hochauflösende und konsequente Videoüberwachung.

Wieso erlässt der Staat dennoch Kollektivstrafen?

Doch wieso greift der Staat immer wieder auf repressive Kollektivstrafen zurück? Manuela Schiller sagt: «Auf gewalttätiges und unangepasstes Verhalten im öffentlichen Raum reagieren Staat und Politik meist mit nicht durchdachter Repression. Es ist der Politik durchaus zuzutrauen, weitere unsinnige Verbote und Kollektivstrafen einzuführen.» Doch traue sie den Fans wiederum zu, der Gesellschaft all diesen Unsinn vor Augen zu führen und die Massnahmen fantasievoll und kreativ zu unterlaufen.

«Die Clubs respektive die SFL haben meines Wissens noch nie den Rechtsweg beschritten.»

Manuela Schiller, Fananwältin

Schiller fährt fort: «Eigentlich passen die Kollektivstrafen nicht in die heutige Zeit und sind ein hilfloses Machtinstrument. Aber obwohl sie praktisch nie zielführend sind, können sie gesetzlich vorgesehen sein.» Schiller vermutet, dass die Kollektivstrafen auch aus Frust und Hilflosigkeit verhängt werden, weil die einzelnen Störer oft nicht eruierbar sind.

Die Grundsatzfrage sei nicht, ob die Massnahmen in Ordnung seien, sondern ob das die Politik so durchziehen könne und wolle. Und ob die Clubs respektive die Swiss Football League (SFL) einfach kuschten, erklärt Schiller. Die Clubs und die SFL befänden sich in einer relativ schwachen Position. Theoretisch könnten sie zwar Auflagen, die sie als unverhältnismässig erachten würden, anfechten, so Schiller. «Doch sie sind auf den Goodwill der kantonalen und städtischen Behörden angewiesen. Das ist eine Machtfrage.»

Beschwerdelegitimation als Hindernis

Dass die jüngst verhängten Kollektivstrafen auch von den betroffenen Clubs öffentlich mitgetragen werden, verdeutlicht dies. Und führt zum nächsten Problem: Überprüft werden Massnahmen nur, wenn sich jemand dagegen wehrt. «Und die direkt betroffenen Clubs respektive die SFL haben meines Wissens noch nie den Rechtsweg beschritten», sagt Manuela Schiller.

«Bis zum Vorliegen eines höchstrichterlichen Urteils müssen die Fans sich die Kollektivstrafen gefallen lassen – oder sie allenfalls zu umgehen versuchen.»

Manuela Schiller, Fananwältin

Doch könnten sich stattdessen die Fans juristisch gegen die Massnahmen wehren? Es stelle sich die Frage, ob sie überhaupt zur Beschwerde legitimiert wären. Die Sachlage sei kompliziert, erklärt Schiller. «Die Fans sind von den Kollektivstrafen am meisten betroffen. Sie dürfen nicht an die Spiele.» Vor allem für Besitzerinnen von Saisonkarten bestünden Chancen für eine Beschwerdelegitimation.

Das Vorgehen wäre dann wie folgt: In einem ersten Schritt müssten die Fans verlangen, dass die Bewilligungsbehörde die Auflagen, die sie den Clubs macht, samt Rechtsbelehrung öffentlich macht – weil die Auflagen alle potenziellen Zuschauer der Spiele betreffen. Anhand der Rechtsbelehrung, die aufzeigt, welche Rechtsmittel von Betroffenen ergriffen werden können, könnten sich die Fans dann juristisch gegen die Massnahmen wehren. Doch auch ohne diesen Zwischenschritt wäre ein rechtliches Vorgehen möglich – einfach nochmals komplizierter, sagt Schiller.

Fans müssen sich Kollektivstrafen gefallen lassen

Was folgen würde, wäre in jedem Fall ein beschwerlicher, langwieriger und wohl auch teurer Rechtsweg, ist sich die Anwältin sicher. In der Vergangenheit hätten die Kurven bei Fragen, die sie alle beträfen, aber immer zusammengearbeitet und den Rechtsweg gemeinsam beschritten. «Doch bis zum Vorliegen eines höchstrichterlichen Urteils müssen die Clubs und die Fans sich die Kollektivstrafen gefallen lassen – oder sie allenfalls zu umgehen versuchen.»

So geschehen in Sion, als FCL-Fans sich trotz Sperrung des Gästesektors ins Stadion begaben und auf drei verschiedenen Tribünen ihre Mannschaft anfeuerten. Auf Anfrage von zentralplus verteidigt die KKJPD ihr neues Sanktionenregime. «Die Schliessung von Gästesektoren dient durchaus auch der Verhinderung von künftiger Gewalt, indem eine kürzlich durch gewalttätiges Verhalten in Erscheinung getretene Fangruppe am organisierten und massenhaften Zugang zu einem Stadion gehindert wird», erklärt Florian Düblin, Generalsekretär der KKJPD. Zwar könne nicht ausgeschlossen werden, dass sich gewalttätige Personen trotzdem im Stadion befänden. «Aber ein Grossteil der betroffenen Fans wird auf eine Anreise verzichten, sogenanntes ‹Mitläufertum› wird massiv reduziert.» In anderen Worten: Bestraft wurden beim Spiel in Sion vor allem gemässigte Fans – aufgrund potenziellen Mitläufertums.

Düblin fährt fort: «Ein nachgelagerter Effekt ergibt sich auch durch den Anreiz für den Grossteil der Fans, sich im Hinblick auf weitere Spiele wohl zu verhalten und sich von Gewalttätern zu distanzieren.» Somit hätten die Massnahmen nicht ausschliesslich repressiven, sondern in erster Linie präventiven Charakter. Darauf angesprochen, dass Manuela Schiller die Verhältnismässigkeit solcher Kollektivstrafen bestreitet, erwidert Düblin: «Wir gehen davon aus, dass die Schliessung von Sektoren im direkten Nachgang zu massiven Ausschreitungen durch einzelne Fangruppen normalerweise verhältnismässig ist. Dass die Massnahme auch unbeteiligte Fans trifft, ist korrekt und muss im Einzelfall bei der Prüfung der Verhältnismässigkeit berücksichtigt werden.»

Unangekündigte Einführung eines neuen Sanktionenregimes

Einige Fussballfans zeigten sich ob der raschen Einführung neuer Sanktionen überrascht. So hat die KKJPD diese denn auch ohne Vorabankündigung lanciert. Florian Düblin bestätigt: «Eine vorgängige Kommunikation des Konzepts im Sinne einer ‹Spielregel› wäre begrüssenswert gewesen, um die erhoffte präventive Wirkung zu verstärken. Dies war allerdings aufgrund der knappen zeitlichen Fristen und der sich häufenden gewalttätigen Zwischenfälle nicht möglich.» Die rasche Einführung neuer Massnahmen sei auch eine Reaktion auf die Vorfälle vom April in Basel gewesen, als Sicherheitskräfte durch FCB-Fans schwer verletzt worden seien. Die Bewilligungsbehörden seien zum Schluss gekommen, kurzfristig koordinierte Massnahmen müssten möglich sein.

Derweil befürchtet unter anderem die Fanarbeit St. Gallen, die KKJPD schaffe mit vorschnellen Massnahmen Präjudizien, die nicht dem vorgezeichneten Weg aus dem Projekt «Biglietto+» entsprächen. Diese Befürchtung ist nicht gänzlich unbegründet. Düblin erklärt: «Die jüngsten Entwicklungen werden in der Umsetzung ‹Biglietto+› berücksichtigt.» Gegen Ende Jahr seien Ergebnisse zu erwarten.

Verwendete Quellen
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