Zuger (88) über Altersarmut

Das Leben lang gearbeitet – und doch reicht das Geld nicht

Ist «zfrede», auch ohne Geld: der Zuger Michel Mortier. (Bild: ida)

Im Kanton Zug leben über 3000 Zuger, die von Armut gefährdet sind. Der 88-jährige Michel Mortier ist einer davon: Nach Abzug seiner Lebenshaltungskosten hat er durchschnittlich ein verfügbares Einkommen von 191 Franken im Monat.

Im Dezember bleibt Michel Mortier noch 205 Franken übrig, nachdem er Miete, Krankenkasse, das Busabo und andere Fixkosten bezahlt hat. Anders war es im September. Da war der 88-Jährige fünf Franken im Minus.

Mortier sitzt im Café Speck im Einkaufszentrum Metalli, vor sich eine Tasse Kaffee und ein Mäppchen mit ausgedruckten Papieren. Er zieht ein Blatt daraus, darauf zu finden ist seine Buchhaltung. In einer Tabelle hat er Monat für Monat minutiös alle Ausgaben aufgeführt – gelb markiert die kritischen Monate, wo er ein paar Franken im Minus oder nur ein paar wenige Franken im Plus war.

Wir werfen einen genaueren Blick darauf. Durchschnittliche Ausgaben pro Monat: 3132 Franken. Sein Einkommen: 3323 Franken. Davon stammen 1554 Franken von der AHV, 1144 Franken sind Ergänzungsleistungen und 625 Franken sind Renten aus dem Ausland, wo er zeitweise gearbeitet hat. Die Stadtzuger Wohnung kostet 2300 Franken monatlich, für Lebensmittel gibt Mortier durchschnittlich pro Woche 60 Franken aus.

«Wenn ich fünf Franken im Minus bin, beunruhigt mich das schon etwas», sagt Mortier. Ausgang gibts bei diesem Budget kaum, Ferien sind komplett gestrichen. In seinem Alter störe ihn das nicht gross, sagt Mortier. «Belastend ist es aber deshalb, weil Ende des Monats nichts übrig bleibt, was ich für Unvorhergesehenes auf die Seite legen könnte.» Der Zuger macht dennoch einen entspannten und zufriedenen Eindruck, er möchte nicht klagen.

3150 Rentner sind in Zug armutsgefährdet

So wie Mortier geht es Hunderten. Gemäss Pro Senectute Schweiz leben im Kanton Zug rund 1900 Personen ab 65 Jahren, die als «arm» gelten. Sie erhalten pro Einzelhaushalt weniger als 2279 Franken Einkommen pro Monat. Als «armutsgefährdet» gilt, wer weniger als 2506 Franken pro Monat einnimmt. Mitte 2022 waren das im Kanton Zug rund 3150 Rentnerinnen. Um das Thema Altersarmut dreht sich auch alles in der neuesten Ausgabe des Magazins «Horizonte».

«Niemand sollte sich dafür schämen, Ergänzungsleistungen als eine Versicherungsleistung zu beziehen.»

Michel Mortier

«Das Gefälle zwischen Arm und Reich ist im Kanton gross», wird Alexander Widmer von der Pro Senectute Schweiz in einer Mitteilung zitiert. «45 Prozent der Bevölkerung ab 65 Jahren haben ein Vermögen von mindestens einer Million Franken. Aber viele Pensionäre leben nur von der ersten Säule und sind konkret von der Altersarmut betroffen.» 5,4 Prozent erhalten nur die AHV und gehen zusätzlich arbeiten. 9,6 Prozent gehen neben der 1. und 2. Säule noch einer Arbeit nach.

Betroffen sind von Altersarmut insbesondere Ausländer und Frauen. Gemäss Zahlen des Bundesamts für Statistik lebt fast jede fünfte Rentnerin in Armut. Dagegen befindet sich «nur» jeder achte Rentner unter der Armutsgrenze.

Scham und Unwissen schwingen oft mit. «Wir stellen fest, dass ältere Menschen oftmals nicht wissen, dass sie ein Recht auf Ergänzungsleistungen haben. Wer pflegebedürftig ist oder den Alltag nicht selbständig meistern kann, darf Hilflosenentschädigung beantragen», so Stefanie Waldburger. Sie berät bei Pro Senectute Kanton Zug mit einem Team von sechs Sozialarbeitenden rund 900 Rentner.

Was man tun kann, wenn das Geld knapp wird

  • Das Magazin «Horizonte» enthält Spartipps und Beispiele zu Ergänzungsleistungen sowie Hilflosenentschädigung. Du kannst es hier gratis bestellen.
  • Beratung Pro Senectute Kanton Zug
    Zuger Bürger im AHV-Alter können sich unter 041 727 50 20 für eine kostenlose Beratung anmelden. Mehr Infos findest du hier.

Der Liebe wegen ins Ausland gezogen

Mortier ist studierter Chemiker und arbeitete bei einer amerikanischen Firma als Marketingleiter. 1977 zog er von der Schweiz nach Deutschland – der Liebe wegen. Die Frau, in die er sich verliebte, hatte einen afrikanischen Pass und durfte sich nicht in der Schweiz mit ihm gemeinsam niederlassen.

Der Zuger gab seine gute Stellung bei der Firma auf und zog praktisch von einem Tag auf den anderen weg – ohne Erspartes. Was dies für finanzielle Auswirkungen mit sich bringen würde, war ihm nicht bewusst. In Deutschland musste er jene Jobs annehmen, die er bekommen konnte. Finanziell ist er damit nie mehr auf einen grünen Zweig gekommen.

«Ich habe bis zu meinem 65. Lebensjahr gearbeitet, habe aber nie so viel verdient, um finanzielle Reserven aufzubauen.»

Michel Mortier

«Ich habe bis zu meinem 65. Lebensjahr gearbeitet, habe aber nie so viel verdient, um finanzielle Reserven aufzubauen», so Mortier. 1990 zog er zurück in die Schweiz. In den vergangenen Jahren vor seinem Pensionsalter musste er Sozialhilfe beantragen. Mit 65 Jahren dann schliesslich Ergänzungsleistungen.

Geschämt hat sich Mortier dafür nie – zum Glück nicht. Mehr als 40 Jahre lang habe er geschuftet, die AHV mittels Sozialabgaben mitfinanziert. Seine Meinung ist klar: «Die AHV ist, wie der Name besagt, eine Versicherung. Niemand sollte sich dafür schämen, Ergänzungsleistungen als eine Versicherungsleistung zu beziehen.»

Die Ergänzungsleistungen sind Teil des sozialen Netzes und ein wichtiger Pfeiler, um die Existenz vieler Menschen zu sichern. Reichen Renten aus AHV und der beruflichen Vorsorge nicht aus, um den Lebensbedarf zu decken, so hat man wahrscheinlich Anspruch auf Ergänzungsleistungen.

Ergänzungsleistungen: die Probleme

Vom schweizerischen Sozialsystem ist Mortier überzeugt. Wenn er auch ein paar Probleme sieht. Oder Verbesserungspotenzial – denn der Zuger sucht stets nach Lösungen.

So wollte Mortier, der nach dem Tod seiner Frau alleine in einer 4,5-Zimmer-Wohnung lebt, diese untervermieten. «Damit ich ein wenig Gesellschaft habe», wie er sagt. Er dachte auch daran, ukrainische Flüchtlinge bei sich aufzunehmen. Das Problem: Er würde dann nicht mehr in einem Einpersonenhaushalt, sondern in einer Wohngemeinschaft leben. Dadurch würde seine Ergänzungsleistung gekürzt, weil der Bundesrat entschieden hat, dass es für diese weniger Ergänzungsleistungen gibt.

Ein weiteres Problem: Hat er einmal mehr Einnahmen, werden ihm diese just an der Ergänzungsleistung angerechnet. Beispielsweise erhält er von den Renten aus dem Ausland Jahr für Jahr ein wenig mehr – nicht viel, vielleicht 10, 20 Franken. Doch davon bekommt Mortier gar nichts mehr zu sehen.

Möchte anderen Betroffenen helfen: Michel Mortier. (Bild: ida)

Bedingungsloses Grundeinkommen – für Armutsgefährdete

Die Lösung sähe er in einem bedingungslosen Grundeinkommen, das man anstelle der Ergänzungsleistungen ausbezahlen würde. «Ein Grundeinkommen für jene, deren Steuererklärung aufzeigt, dass sie dieses benötigen.» Also für jene, die nicht oder nur sehr knapp über die Runden kommen. Er ist überzeugt: Das wäre administrativ mit weniger Aufwand für die AHV verbunden. Zumal es einen Nebenverdienst oder -einnahmen erlauben würde – und damit Geld, das Betroffene sparen könnten.

«Wer kann gegen ein Grundeinkommen für Armutsgefährdete sein?»

Michel Mortier

Mortier war beim Unterschriftensammeln für die Initiative dabei, bevor 2016 die Schweiz als erstes Land weltweit über ein solches Grundeinkommen abgestimmt – und wuchtig abgelehnt hat. Auch in der Stadt Luzern scheiterte kürzlich ein Pilotprojekt zu einem bedingungslosen Grundeinkommen an der Urne (zentralplus berichtete).

«Die Initiative 2016 war zu visionär», so Mortier. Der Fokus müsse mehr bei armutsbetroffenen und -gefährdeten Menschen sein. «Wer kann gegen ein Grundeinkommen für Armutsgefährdete sein?», fragt er. «Wir hätten es in der Hand, Armut zu eliminieren.» Deswegen möchte er sich auch für Betroffene einsetzen und das Thema Altersarmut offen thematisieren. Mortier hat kein Problem, darüber zu reden. Auch hier, in diesem Café. Fast jeder Platz ist besetzt, doch Mortiers Stimme wird nicht leiser, aus Angst, dass andere lauschen könnten. Er spricht klar und bestimmt.

Armut hat viele Facetten

Armut hat nicht nur viele Gesichter, sondern auch viele Facetten. Wir Menschen würden Armut nur ökonomisch fassen, wie es Menschen finanziell geht. «Doch was ist mit emotionaler, mentaler oder geistiger Armut?»

Dem Zuger ist es mental immer gut gegangen. Auch heute noch. Sein Weg ist finanziell nicht einfach, doch er bereut es nicht, dass er der Liebe wegen seine finanzielle Sicherheit riskiert hat. Im Gegenteil. «Für mich sind Beziehungen das Wichtigste im Leben.» Das habe ihm nicht zuletzt seine Frau gezeigt, mit der er eine wundervolle Ehe gehabt habe.

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11 Kommentare
  • Profilfoto von Johannes
    Johannes, 20.02.2024, 22:46 Uhr

    In der Bundesverfassung steht ,das die AHV i. dritten Alter zum leben wie beim Arbeiten reichen muss……in der Bundesverfassung

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  • Profilfoto von Flückiger Bruno
    Flückiger Bruno, 24.12.2023, 11:27 Uhr

    Wieviele Arme gibt es im Kanton Bern? Kleinste Löhne, höchste Steuern!

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  • Profilfoto von Mark
    Mark, 24.12.2023, 09:35 Uhr

    Ein herzliches Dankeschön an Herrn Mortier für seine Offenheit. Die Wohnung scheint der Problemposten zu sein. Nach den SKOS-Richtlinien werden dafür im Kt. ZG für Einzelpersonen max. CHF 20’840 gerechnet, somit CHF 1’736 pro Monat. Kleinwohnungen waren schon immer Mangelware in Zug und heute es ist fast ein Ding der Unmöglichkeit, eine zu ergattern. Hier versagen auch die Gemeinden und der Kanton. Sehr viele Senioren würden gerne in kleinere Wohnungen ziehen, finden aber keine Möglichkeiten. Alle bleiben im Moment in ihren Wohnungen «kleben». Was die EL betrifft: In einigen Gemeinden und sozialen Anlaufstellen sprechen Fachpersonen von der «anderen Sozialhilfe». Es ist derart entwürdigend und zeigt auf, wie selbst die Fachwelt mit Begriffen um sich wirft, was beim Gegenüber Scham und Verzweiflung auslösen kann. Niemand muss sich schämen, EL zu beziehen. Diese kommt auch im Falle der IV- oder Hinterlassenenrente zur Anwendung und ist Bestandteil der 1. Säule. Dann gibt es noch die Möglichkeit für die Senioren, die sich aus genau diesen erniedrigen Gründen entscheiden, in ein Seniorenzentrum zu ziehen: Die Wohngemeinde muss ihnen einen Platz ermöglichen und trägt gleich noch die Kosten zusammen mit der EL für den Aufenthalt. Drei Mahlzeiten Kaffee und Kuchen mit täglicher (vielleicht unerwünschter) Bespassung inklusive. Die Gemeinden täten gut daran, bezahlbaren Wohnraum nach den SKOS-Richtlinien für fitte, aktive Senioren zu schaffen und sie miteinzubeziehen.

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  • Profilfoto von Rentner Baldi
    Rentner Baldi, 24.12.2023, 07:16 Uhr

    Hört auf zu Jammern bei mir dasselbe, EL, zahlt die K,K, und 1,375 Fr an die Wohnung von den TV Gebühren ist man ja auch Befreit von den Steuern,, , ich Zahle ,1,400 Fr Wohnung ,600 für Essen 400 Fr, Rechnungen.. es geht gut Gesamt Einkommen 3,100 Fr, im monat

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  • Profilfoto von Franz
    Franz, 23.12.2023, 11:01 Uhr

    Das Sozialsystem funktioniert, der Artikel zeigt es, und Herr M. sagt es ja auch. Durch den langen Auslandsaufenthalt mit vermutlich tiefen Beiträgen für die freiwillige AHV ist die Rente sehr bescheiden und die berufliche Vorsorge ebenfalls. Armut sieht anders aus. Schön, dass er zufrieden ist und nicht klagt.

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  • Profilfoto von P. Müller
    P. Müller, 23.12.2023, 08:38 Uhr

    Wir senken lieber die Steuern für Superreiche als eine AHV aufzustocken.

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    Roli Greter, 23.12.2023, 08:25 Uhr

    Herr Mortier könnte sich auch schlicht in einer günstigeren Wohnung einquartieren, was er offenbar gar nicht möchte.

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    • Profilfoto von Alois Iten
      Alois Iten, 23.12.2023, 09:31 Uhr

      Aber sicher. In Zug mit einer Leerwohnungsziffer von 0,02% finden sich ja zuhause günstige Wohnungen. Oder er könnte ja mit 88 Jahren auch einfach wegziehen und sein Zuhause für einen Expat oder ein Business Apartment räumen, so wie das viele andere Zuger müssen.

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      • Profilfoto von Franz
        Franz, 23.12.2023, 16:40 Uhr

        Für diesen Mietzins braucht es ein Haushaltseinkommen von mind. 6000 Fr. netto. Man hätte viel früher handeln müssen, als der Wohnungsmarkt noch nicht so angespannt war.

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    • Profilfoto von hochshan
      hochshan, 23.12.2023, 10:31 Uhr

      Wo sollte er eine billige Wohnung finden „im Jura Hinterland?

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      • Profilfoto von Roli Greter
        Roli Greter, 23.12.2023, 19:10 Uhr

        Billig? Kleiner reicht vollkommen, und vielleicht halt nicht in Zug. Seine Söhne sollten ihm den Umzug finanzieren, das wäre nachhaltiger. Er will aber den 5er und das Weggli.

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