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Gotthardbahn, Teil 1

Luzerns Gotthard-Träume: Abrissbirne über dem Untergrund

Der erste und unglamouröse Luzerner Bahnhof (1859 bis 1895). (Bild: zvg)

Anfang der 1870er-Jahre herrscht in Luzern Gotthard-Fieber. Das halbe Quartier Untergrund sollte für den neuen Bahnhof flach gelegt werden. Bald erfolgte allerdings das bittere Aus für das Projekt. Auf den Anschluss an die Gotthardbahn musste Luzern bis 1897 warten.

Gotthard! Gotthard! Alle Stadtgespräche in Luzern drehen sich 1874 um das Jahrhundertbauwerk. Petitionen, Versammlungen und unzählige Zeitungsberichte vom Bund bis zur «NZZ» illustrieren: Luzern ist im Gotthard-Fieber. Endlich soll die nach dem Sonderbundkrieg gebeutelte Leuchtenstadt wieder ihren alten Glanz zurückgewinnen und eine internationale Zugdrehscheibe werden.

Vor allem die Stadt Luzern hat sich nicht lumpen lassen und 1,2 Millionen Franken in den Fonds für den Bau des Gotthard-Projekts eingezahlt. Zusammen mit 800’000 Franken vom Kanton ist Luzern so einer der grössten Geberkantone. Gegen den Willen des Eisenbahnbarons Alfred Escher hat sich die Stadt die Zusage erkauft, dass der Sitz der Direktion der Gotthardbahn in Luzern ist.

Ein Schandfleck muss verschwinden

Allein in den Gotthardbahn-Werkstätten sollen 800 neue Stellen geschaffen werden. Zählt man die Familienangehörigen dazu, so heisst das: Der bereits in Gang gesetzte Bevölkerungsboom wird bald weitere 3000 neue Einwohner verzeichnen.

Das alte hölzerne Provisorium, der Bahnhof von 1859, der schon damals als eine Beleidigung für die Fremdenstadt wahrgenommen wurde, sollte nun Geschichte sein. Immerhin war Luzern ein Tourismus-Hotspot, in dem sich erlauchte Monarchenhäupter, Millionäre und Minister in den Nobelherbergen wie dem Schweizerhof betteten.

Bahnhofsträume in allen Quartieren

Hof und Wey setzten auf einen neuen Bahnhof an der Halde, den schon Oberingenieur Gerig als den Favoriten der Gotthardbahn mit detaillierten Plänen ins Spiel gebracht hat. Ganz anders gelagert sind die Visionen im Quartier Untergrund. Bereits 1857 opponierte das Quartier gegen den Standort an der Seebucht Fröschenburg.

Sattler, Wagner, Kolonialwarenhändler, das ganze Gewerbe, das sich entlang der Baselstrasse niedergelassen hatte, wollten mit dem Bahnhof wirtschaftlich verwoben sein. Gemeinden aus dem Luzerner Hinterland und Entlebuch stellten sich wie schon 1859 wieder hinter die Forderung des Untergrunds. Die von französischen Investoren alimentierte Basler Centralbahn war anno 1859 dagegen. Sie wollte den Endbahnhof mit einer Dampfschiffstation am See kombinieren.

Megabahnhof mit 22 Gleisen

Jetzt aber erhielten die alten Träume vom «Bahnhof Untergrund» neuen Auftrieb. Dafür sorgte auch der russisch-schweizerische Ingenieur Blotnitzki, der mit der amtlichen Autorität des ersten Inspektors des neu gegründeten «Eidgenössischen Eisenbahndepartments» auftrat. Unumstössliche Maxime des Experten: Wenn Luzern eine bedeutende Rolle im internationalen Waren- und Personentransit spielen will, braucht es einen Durchgangsbahnhof.

Am Reissbrett löschte er mit einem Federstrich die bebaute Zone zwischen altem Gefängnis (heute Sentihof) und Kreuzstutz aus. Auf diesem Trümmerfeld sollte ein Megabahnhof mit 22 Gleisen entstehen. Von der Warte des Jahres 2024 aus betrachtet ist klar: Der Widerstand der Quartierbewohnerinnen und -bewohner ist vorprogrammiert. 1874, als die Menschen fortschrittsoptimistisch vom Eisenbahnbau euphorisiert waren, stimmten die Bewohner des Untergrunds dem Projekt überschwänglich zu.

Aus für das Blotnitzki-Projekt

400 bis 500 Männer hat das «Luzerner Tagblatt» gezählt, die sich am 21. Januar 1874, also genau vor 150 Jahren, im Stadttheater eingefunden haben. Einhellig sprachen sie sich für das Blotnitzki-Projekt aus. «Mit dem Untergrundprojekt hat Herr Blotnitzki Luzern betört und dadurch sehr viel beigetragen, dass die Bahnhofsfrage zur eigentlichen Seeschlange herangewachsen ist», schrieb damals die «NZZ».

Aber in der Fussnote der verabschiedeten Resolution wurde schon der Pferdefuss des Plans angetönt:  Reicht der Platz für den Bahnhof wirklich aus? Immerhin ging die Planung der Gotthardbahn-Gesellschaft von einem Platzbedarf von 120 Jucharten, also 40 Hektaren, für Bahnhof, Schuppen und Rangiergelände aus. Bei aller Wucht, wie Blotnitzki die Abrissbirne auf ganze Häuserreihen donnern lassen wollte: Auf dem Reissbrett kamen nur maximal 50 Jucharten zusammen, selbst wenn man das Flussbett der Reuss Richtung Gütschwald verschiebt.

Trostpflaster für den Untergrund

Auf diesen wunden Punkt legten die Befürworter des Projekts Halde-Bahnhof den Finger. Zusammen mit der Gotthardbahn plädierten die Quartierbewohner von Hof und Wey, und was vielleicht noch wichtiger war, auch die Hoteliers vom Quai, für den Standort Halde. Die Centralbahn dagegen wollte, wenn schon nicht der Bahnhof Untergrund realisiert wird, einen grösseren Neubau am bestehenden Ort errichten.

Immer neue Projekte wurden verhandelt: Seeüberquerende Brücken zwischen Fröschenburg und Halde oder ein Tunnel unter der Museggmauer. Eines blieb aber konstant: Ein Durchgangsbahnhof sollte es sein. Und wenn auch der anfangs so heiss diskutierte Untergrund-Bahnhof ad acta gelegt wurde, fehlte eines als Trostpreis in keinem der Pläne: eine Haltestation für den einfahrenden Regionalverkehr im Untergrund.

Finanzielle Schieflage

1875 war dann Schluss mit der erhitzten Diskussion. Depression machte sich breit. Die Gotthardbahn-Tunnelbauer hatten den Worst Case bei ihrer Finanzplanung nicht auf der Rechnung: Der Vortrieb des Tunnels im kristallinen Granit- und Schiefergestein ging wesentlich langsamer voran als vorgesehen. Kam noch der europaweite Konjunktureinbruch in Europa hinzu. Das Geld wurde knapp, und der Rotstift wurde ausgerechnet bei der geplanten Verbindungslinie Luzern-Immensee angesetzt.

Trotz den vielen Geldern von Stadt und Kanton sollte dieser Streckenabschnitt aus dem Bauprogramm gestrichen werden. Der antimodernistische und gegen die Eisenbahn eingestellte Philipp Anton von Segesser fühlte sich als Warner bestätigt. Früh hatte der Führer der Katholisch-Konservativen die Befürchtung geäussert, dass die Gotthardbahn sein «Vaterland Luzern» in eine finanzielle Bredouille bringe.

Der Geldhahn wird zugedreht

Mit antisemitischen Invektiven verkündete er im Dezember 1876 im Grossen Rat: «Die Gotthardbahn hat die Judenherrschaft, die miserable deutsche Finanzwirtschaft in unser schönes Vaterland gebracht.» Ein Zahlungsboykott an die finanziell gebeutelte Gotthardbahn sollte die Antwort sein. Aber die Luzerner wollten auch nicht die Totengräber des Gotthard-Jahrhundertprojekts sein und schossen schliesslich zähneknirschend für die in finanzielle Notlage geratene Gotthardbahn weiteres Geld ein.

1880, als neuer Geldbedarf vermeldet wurde, wollte aber die Stadt Luzern nicht mehr mitmachen. Wieder strömten Menschen ins Stadttheater, machten ihrem Unmut Luft und forderten von der Stadt einen Zahlungsstopp. Tatsächlich riskierte die Stadt den Gang zum Bundesgericht, verlor und zahlte Prozesskosten wie Verzugszinsen. Schliesslich landeten die Pläne in der Schublade.

Eisenbahnfähre statt Gleisanschluss

Neue Hoffnung wollte der Luzerner Ingenieur Strupler, Experte des Vereins der Dampfkesselbesitzer, unter seinen enttäuschten Landsleuten verbreiten. Seine Idee: Zwei Trajektschiffe, also Eisenbahnfähren, sollten ihre Bahnen zwischen Luzern und Flüelen ziehen. An Deck beladen mit 20 Waggons wäre der Gütertransit gewährleistet. Struplers Idee war nicht ganz neu: Bereits 1869 pendelten solche Fähren vom Thurgauer Romanshorn zum württembergischen Friedrichshafen.

Trotz optimistischer Kalkulationen des Ingenieurs traute sich in Zeiten von Bahn- und Bankenpleiten kein Risikokapitalist Geld für die seequerende Fähre für Güterwaggons einzuschiessen. Mit den Bahnträumen ging auch das Bankhaus Knörr unter, welches das grosse Hotelprojekt Europe vorfinanzierte. Die Bauherren hatten mit dem Halde-Bahnhof gerechnet und sich verspekuliert. Erst 1890 sollte dem schubladisierten Projekt der Linie Luzern-Immensee wieder neues Leben eingehaucht werden.

Wie es mit Luzerns Gotthardbahn-Träumen weiterging, erfährst du demnächst in Teil 2.

Ingenieur Blotnitzki plante einen Megabahnhof mit 22 Gleisen im Untergrund.
Ingenieur Blotnitzki plante einen Megabahnhof mit 22 Gleisen im Untergrund. (Bild: Staatsarchiv Luzern, AKT 37/472 A.3)
Verwendete Quellen
  • Broschüre «UntergRundgang»: «Das andere Luzern», 1995/«Transit im Untergrund», 2009
  • Heidi Bossard-Borner: «Vom Kulturkampf zur Belle Epoque», Verlag Schwabe, 2017
  • Kari Gallati, Claus Niederberger, Werner Stutz: «Luzerner Chronik: zur Vorgeschichte des heutigen Bahnhofs», Zeitschrift «Archithese», 1977
  • Diverse Zeitungen

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Ob Hintergründe zu alten Gebäuden, Geschichten zu Plätzen, stadtbekannte Personen, bedeutende Ereignisse oder der Wandel von Stadtteilen – im «Damals»-Blog werden historische Veränderungen und Gegebenheiten thematisiert.
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1 Kommentar
  • Profilfoto von Martin Stuber
    Martin Stuber, 21.01.2024, 16:13 Uhr

    Danke für den interessanten Artikel. Er bedarf einer wichtigen Korrektur:
    Die finanzielle Schieflage der Gotthardbahn hatte fast nichts mit dem «grossen Tunnel» zu tun! Öffentlich wurde sie erst im Januar 1876, mit der Nachricht, dass statt 187 Millionen für den Bau der Gotthardbahn 289 Millionen nötig waren. Massive Kostenüberschreitungen bei den im Dezember 1874 in Betrieb genommenen «tessinischen Thalbahnen», vor allem aber viel teurere Zufahrtsstrecken in Nord und Süd (Erstfeld-Göschenen und Biasca-Airolo) waren die Gründe und führten zu einem de facto Baustopp der Gotthardbahn im Sommer 1876. Zu der Zeit war der Halde-Bahnhof vom Gotthardbahn-Oberingenieur Wilhelm Hellwag fertig projektiert und mit den Ansprüchen der Stadt und der Anrainer abgeglichen. Der entsprechende Situationsplan findet sich bei SBB Historic.
    Die grosse Eisenbahnkrise zwischen 1875 und 1879 bereitete übrigens nicht nur der Gotthardbahn existentielle Probleme, sondern auch allen anderen – damals privaten! – Eisenbahngesellschaften. Die Schweiz sähe heute anders aus ohne diese Krise.
    Immerhin sicherte sich Luzern an der «Rekonstruktionskonferenz» den Status des Startbahnhofes für die Gotthardbahn. 1882 war die offizielle Verbindung: Luzern-Rothkreuz-Goldau-Gotthard.
    Mehr dazu im kürzlich erschienen Buch des Schreibenden: «Lebensadern – Zuger Eisenbahngeschichte(n)» und auf www.eisenbahngeschichte.ch

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