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Als Wohnbauförderung noch zügig vorankam

80 Jahre Wohnen auf der Reussinsel gehen zu Ende

Wo heute noch zwölf Häuser der Baugenossenschaft Reussinsel stehen, soll künftig eine grüne Freifläche entstehen. (Bild: Google Maps)

Die kleinen Häuschen am oberen Ende der früheren Reussinsel im Luzerner Untergrundquartier können heuer ihren 80. Geburtstag feiern. Doch den Bewohnerinnen ist nicht zum Feiern zumute, denn die Tage dieser Genossenschaftssiedlung sind gezählt. UntergRundgänger Urs Häner reist zurück zu ihren Anfängen im Jahr 1943.

Es kommt uns einigermassen bekannt vor: Es gab Krieg in Europa, und es herrschte Wohnungsknappheit. Der Bundesrat hatte im Juni 1942 Massnahmen zur Linderung der Wohnungsnot durch Förderung der Wohnbautätigkeit beschlossen. Diesen Steilpass nahmen in Luzern einige gerne an: Der Stadtrat gab eine Landparzelle nahe der St.‑Karli-Brücke zur Bebauung frei, wo bis anhin nur ein unschönes Eisen- und Materiallager stand.

«Einige liberale Bürger vom Untergrundquartier», wie sie in einer Festschrift aus dem Jahr 1983 genannt wurden, schlossen sich zusammen, um dort Häuser zu erstellen. Ausserdem entwarfen im Januar 1943 zwei Krienser Architekten ein Musterhaus, das öffentlich besichtigt werden konnte und auf breites Interesse stiess.

Bild des Materiallagers oberhalb der ehemaligen Reussinsel. (Bild: Stadtarchiv Luzern)

Wohl der erste Baurechtsvertrag der Stadt Luzern

Rund einen Monat später, am 25. Februar 1943, fand die Gründungsversammlung der Baugenossenschaft Reussinsel (BRL) im Restaurant Steinbruch an der Baselstrasse statt. Kurz darauf reichte deren erster Präsident Viktor Willimann bei der städtischen Baudirektion ein Gesuch ein, zwölf Eigenheime auf der Parzelle an der Ecke St.‑Karli-Brücke/Dammstrasse zu errichten. Der Strassenname Reussinsel begann damals weiter flussabwärts.

Bereits weniger als einen Monat danach fasste der Luzerner Stadtrat den Beschluss, diesem Bauvorhaben zuzustimmen. Ein Terrainpachtzins von bescheidenen 50 Rappen pro Quadratmeter war unbestritten, ebenso die Baukosten von 28’000 Franken für jedes der zwölf Eigenheime. Dank 25 Prozent Subvention durch Bund, Kanton und Gemeinde sollten erschwingliche Eigenheime für die Gewerbler aus dem Untergrund entstehen.

Noch unklar war dagegen die Dauer des angestrebten Baurechts. Angedacht waren 30 Jahre, eventuell 50 Jahre – im definitiven Vertrag wurden dann 40 Jahre vereinbart. Es handelte sich offenbar um den allerersten Baurechtsvertrag in der Stadt Luzern.

Mit dem atemberaubenden Vorankommen dieses Bauprojekts ging es Schlag auf Schlag weiter. Bald waren zwölf Genossenschafter gefunden, am 8. Mai 1943 wurde der Vertrag über die Bestellung eines Baurechtes zwischen der Einwohnergemeinde Luzern und der BRL unterzeichnet. Ergänzend kam die Bestimmung dazu, dass der Baurechtszins von 50 Rappen pro Quadratmeter und Jahr «nach Ablauf der ersten 5 Jahre und später wiederum von 5 zu 5 Jahren» neu festgesetzt werde.

Auch wurde die Genossenschaft dazu verpflichtet, bei der Projektierung der Wohnbauten darauf zu achten, «dass sie bei Abbruch mit einem Minimum von Arbeit und Materialeinbusse wieder anderswo aufgestellt werden können» – eine verblüffende Auflage angesichts der zuvor vereinbarten Vertragsdauer von 40 Jahren.

Halbmassive Bauten mit gipsisolierten Fassaden

Bereits Anfang September 1943 wurden im Luzerner Tagblatt Besichtigungstermine in der «Einfamilienhaus-Kolonie» angekündigt. Stolz vermerkt die Zeitung, dass dank tatkräftiger Mitarbeit von Firmen und Genossenschaftern das Bauwerk in «vier Monaten und acht Tagen» erstellt werden konnte. Gemeint ist wohl der Zeitraum zwischen dem Vertragsabschluss und dem Beginn der Laufzeit des Baurechtsvertrags Mitte September 1943.

Beigefügt war die Erläuterung, dass angesichts der unerhört kurzen Zeit für die technische Durchführung und Organisation «von bisher üblichen Methoden abgewichen werden musste». Es handele sich daher um «halbmassive Bauten» mit Holzständern und gipsisolierten Fassaden. Das erklärt, warum rund 80 Jahre später nochmals über die Wärmedämmungen der Häuser nachgedacht werden sollte. Ein Gedanke, der angesichts der jüngsten Entwicklungen nicht mehr nötig ist.

Doch zurück in die Vergangenheit: Harry Bühlmann, langjähriger Funktionsträger in der Baugenossenschaft Reussinsel, erinnert sich mit gemischten Gefühlen an die Besichtigungstermine: In seinem Rückblick zum 40-jährigen Bestehen erzählt er, dass sich beim Augenschein «dieser oder jener Anstrich als noch zu frisch und darum ‹kopierbar› am eigenen Gewande» erwiesen habe. Insgesamt seien aber die Innenräume bezugsbereit und «freundlich ausstaffiert» gewesen.

Alle zwölf Einfamilienhäuser, in drei Blöcken zu fünf, vier und drei Häusern, waren gleichartig ausgeführt. Die Genossenschafter konnten einzig beim Innenausbau Wünsche einbringen. So wiesen die Häuser im Kellergeschoss einen Vorkeller, einen Luftschutzkeller und eine eigene Waschküche auf. Vom Erdgeschosskorridor gingen die Küche, ein grosses und ein kleines Zimmer sowie das WC ab. Und im Obergeschoss hatte es ein Eltern- und zwei Kinderzimmer sowie ein Bad mit WC.

Sehr privat das Ganze, das galt selbst für den Pflanzplatz vor der jeweiligen Haustür. Eigentlich waren die Teppichklopfstangen und die Aussenwäschehängen die einzigen gemeinschaftlichen Objekte in der Siedlung. Da stellt sich natürlich die Frage, wie genossenschaftlich der Geist in den Reussinsel-Häuschen war.

Eine Siedlungszeitung für die «Reussinselfamilie»

Um diese Frage zu beantworten, lohnt sich ein Blick in den «Reussinsel-Boten», das Mitteilungsblatt der BRL. Von der Zeitung gab es gerade einmal neun Nummern. Er wurde 1944 mit Elan lanciert, um den Gemeinschaftsgeist der «Reussinselfamilie» zu fördern. Aber nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zog dann die Konjunktur an, und die Gewerbler waren zu beschäftigt, um noch regelmässig eine Siedlungszeitung herauszugeben. So endete ihr Erscheinen 1946 wieder.

Das komplette Titelblatt des «Reussinsel-Boten» 1/1944. (Bild: Reussinsel-Bote)

Auf den Krieg und das Kriegsende wurde im Blatt wenig Bezug genommen. Stattdessen schnitten die Autoren im Geleitwort aktuelle Fragen an und erwähnten die schwierigen Zeiten. Wichtiger jedoch waren die Auswertungen der periodischen Hauskontrollen!

Zwar konnte die Verwaltung meistens «zufrieden mit den Hausgeistern» sein, aber es waren doch öfters mahnende Worte zu lesen: «Auch Lichtschächte und Dolendeckel müssen sauber gehalten werden!» oder «Wir bitten die, die es angeht, ein letztes Mal, unsere Hausfassaden von Wäsche- und Kleidungsstücken freizuhalten, ganz speziell an Sonn- und Feiertagen». Als 1946 das Gelände Richtung St.‑Karli-Brücke «endlich», wie die Macher des Mitteilungsblattes schrieben, mit Rasen bepflanzt werden konnte, war weiter zu lesen: «Sorgt im 1. Block nun dafür, dass niemand den Rasen betritt, auch die Kinder nicht!»

Wie stand es um den Gemeinsinn?

Der Zeitung ist trotzdem ein starkes Bemühen um den Gemeinschaftssinn anzumerken. Es wurde einiges organisiert: Kegelabende und Jassturniere, gemeinsame 1.-August-Feiern und Ausflüge. Regelmässig finden sich aber auch Klagen darüber, dass viele nicht am Gemeinschaftsleben teilnähmen.

Ob eher der gemeinschaftliche oder doch stärker der private Geist die Oberhand bekam, muss offen bleiben. Immerhin schlägt bereits in der Nummer 2 des «Reussinsel-Boten» der Grundton von «My home is my castle» durch: «Es scheint nun doch die Zeit gekommen, wo man von den Mietskasernen absieht und auch dem weniger begüterten Bürger zu einem eigenen, sonnigen Heim verhelfen kann.»

Dass es mit dem Genossenschaftsgedanken nicht allzu weit her war, zeigt folgende spätere Entwicklung: Als einige Gründungsmitglieder verstorben oder weggezogen waren, schienen die nachfolgenden Bewohnerinnen vergessen zu haben, dass sie zu einer Baugenossenschaft gehörten. Sie verkauften ihr Häuschen, entgegen jeglicher Satzung. Als dieser Missstand bis ins Stadthaus drang, musste er umgehend behoben werden. 1993 wurde dann eine Neugründung der Genossenschaft nötig.

Die Geschichte der Genossenschaftssiedlung geht zu Ende

Nach dem Ablaufen des ersten Baurechts 1983 und dem Jubiläumsjahr mit Festschrift und Co. wurde der Baurechtsvertrag noch mehrmals verlängert, selbstredend in kürzeren Laufzeiten. Und als das Jahr 2023 und mit ihm das erneute Ablaufen des Vertrags nahte, hätten die Genossenschafterinnen gemäss BRL-Präsident Roger Gaillard das Baurecht gerne nochmals verlängert. Allerdings mit einer längeren Laufzeit, um die nötigen Investitionen tätigen und abzahlen zu können.

Doch die Stadt hatte mit dem Areal andere Pläne. Denn nach Möglichkeit will sie baulich verdichten. Da aber auch die Umsetzung eines überregionalen Rad- und Wanderwegs der Reuss entlang hängig ist, zeigte sich, dass die baulichen Spielräume begrenzt sind. Zwischenzeitlich fand sich in den Planskizzen lediglich eine solitäre Hochhausbaute.

Skizze zum geplanten Reusspark. (Bild: Illustration: Stadt Luzern)

Die Abklärungen zum Entwicklungspotential bei den Brückenköpfen ergaben am Ende drei Varianten einer Neugestaltung. Die wurden der Quartierbevölkerung zur Konsultativabstimmung vorgelegt. Die Abstimmenden votierten klar für einen neuen öffentlichen Freiraum, den sogenannten Reusspark. Dieser reicht von der Strasse an der St.-Karli-Brücke bis hin zum neuen Axa-Gebäude.

Dass die Reussinsel als Insel bereits verschwunden ist, ist seit Jahrzehnten offensichtlich. In absehbarer Zeit wird nun also auch den Häusern der Baugenossenschaft dasselbe Schicksal blühen. Den jetzigen Bewohnerinnen bleibt die kleine Hoffnung, dass es heute mit der Umsetzung von Bauprojekten weniger schnell geht als 1943.

Verwendete Quellen
  • Bühlmann Harry, Industrie auf der Reussinsel und 40 Jahre Baugenossenschaft Reussinsel Luzern (Festschrift), Luzern 1983
  • Baugenossenschaft Reussinsel: Reussinsel-Bote 1–9, Luzern 1944–1946
  • Zeitungsartikel: Luzerner Tagblatt 6.9.1943 sowie 17.3.1983
  • Mischa Gallati, Einblicke in das Inselleben (60 Jahre Wohnsiedlung auf der Reussinsel), Sentipost 3/2004, Luzern
  • Hans Jurt, Die Reussinsel: Neues Wohnen am Wasser, in: Zeitensprünge und Grenzgänge (Hrsg. Verein Untergrundgang), Luzern 2019
  • Website der Stadt Luzern
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4 Kommentare
  • Profilfoto von Me, myself & I
    Me, myself & I, 26.05.2023, 20:45 Uhr

    Harry Bühlmann (&Söhne), der Gutmensch… genau mein Humor 🤣😂🤣

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  • Profilfoto von MARIO P. HERMANN
    MARIO P. HERMANN, 26.05.2023, 20:31 Uhr

    Sehr toller Artikel — ein grosses BRAVO und DANKESCHÖN dem Verfasser.
    Sehr schade, dass damit ein kl. Wohnquartier wieder aufgelöst wird…
    Mag mich noch gut erinnern: Mein damaliger Fahrlehrer A.C. wohnte früher an der Reussinsel in Luzern, zum Zeitpunkt, als ich Ende 70er bei ihm rund 40 Std. Fahrschule hatte…
    Und somit ist ein Kapitel zu Ende — das Quartier wird «aufgelöst» und ich fahre nicht mehr Auto…

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  • Profilfoto von Kasimir Pfyffer
    Kasimir Pfyffer, 26.05.2023, 14:02 Uhr

    Ein spannendes Stück Quartier- und Baugeschichte – herzlichen Dank für den tollen Beitrag!

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    • Profilfoto von Roli Greter
      Roli Greter, 26.05.2023, 18:18 Uhr

      Dem schliesse ich mich an 🍀

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