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Winter 1968 auf der Gotthardeisenbahnstrecke

Als sich Zuger für eine Geburt durch den Schnee kämpften

Die Dampfschneeschleuder Rotary machte den Weg frei. (Bild: Wikimedia Commons / SBB Historic)

Grosse Schneemengen haben vor 55 Jahren den Urlaub zahlreicher Militärangehöriger verhindert. Da der Bahnverkehr auf der Gotthardlinie unterbrochen war, konnten diese nicht nach Zug reisen. Ausgenommen waren Oskar Rickenbach und Toni Bucher, die an diesem Tag eine ereignisreiche Reise erlebten.

1968 absolvierte ich vom 12. Januar bis 3. Februar als Wachtmeister den 9. Wiederholungskurs (WK) mit der Gebirgs Füs. Kp. III/48. Über 130 Militärangehörige waren in der Kaserne Motto Bartola oberhalb von Airolo, an der Gotthardpassstrasse einquartiert. Schon während der Rekrutenschulen 1958 und 1965 beim 6. WK war ich in dieser Kaserne gewesen. Nun war es der Winter-Wiederholungskurs 1968 des Geb. Inf. Rgt. 29, zu dem auch das Zuger Geb. Füs. Bat. 48 gehörte, Bat. Kdt. war Major Jost Grob. Unsere Kompanie führte Hauptmann Peter Wyss. In diesem Winter lag viel Schnee. Es war ein strenger WK. Öfters waren wir auf den Skis unterwegs, Schiessübungen absolvierten wir im Bedrettotal und auf der Alp Pesciüm, wo wir auch mehrere Tage im Schnee biwakierten.

Toni Bucher von Cham war unser Kp.-Feldweibel. Mit ihm hatte ich ein besonderes Erlebnis: Toni und ich hatten ab dem frühen Samstagmorgen, dem 27. Januar 1968, Urlaub. Tonis Frau erwartete an diesem Tag Nachwuchs. Als wir aufstanden, sagte uns die Wache, es habe viel Neuschnee, wir sollten bei der Abfahrt mit den Skis unbedingt aufpassen. Dies habe die Festungswache gemeldet. Nach dem Frühstück in der Küche fuhren wir aber problemlos per Skis auf der tief verschneiten Gotthardstrasse hinunter zum SBB-Bahnhof Airolo. Dort deponierten wir die Skis, lösten das Billett und stiegen in den Zug nach Zug/Zürich ein.

Grosse Schneemengen in Göschenen verhindern Weiterkommen

Dieser fuhr jedoch längere Zeit nicht ab. Plötzlich kam der Kondukteur und sagte, der Zug fahre infolge grosser Schneemengen auf der Gotthard-Nordseite zurück nach Italien und via Domodossola, Simplon-/Lötschbergtunnel nach Zürich. Wir stiegen aus, in Militäruniform hätten wir ja nicht über Italien reisen können. Der Stationsvorstand teilte uns mit, es komme bald ein Zug mit SBB-Schneeschauflern. Dieser fahre durch den 15 Kilometer langen Gotthardtunnel nach Göschenen. Wir stiegen dann in diesen Zug ein und in Göschenen waren wir von den riesigen Schneemengen überrascht, es hatte mehr als einen Meter Neuschnee gegeben.

Die Bahnlinie Göschenen–Erstfeld war gesperrt, Lawinen waren auf die Bahnlinie gedonnert. Auch die Strasse war geschlossen. Wir sprachen mit dem Bahnhofvorstand, dieser sagte uns, dass bald die Dampfschneeschleuder Rotary von Erstfeld herkomme und das Bahntrassee räume. Sie fahre zuerst zum Wenden durch den Gotthardtunnel nach Airolo, dort gebe es eine Drehscheibe und nachher fahre sie wieder zum Schneeräumen ab Göschenen hinunter nach Erstfeld. Dieser Zug habe einen Personenwagen, den wir benutzen könnten.

Der Bahnhof Göschenen auf der Gotthardbahn-Strecke war schneebedeckt.
Der Bahnhof Göschenen war im Winter 1968 – anders als auf diesem Bild von 1889 – schneebedeckt. (Bild: Wikimedia Commons / SBB Historic)

Lange Reise nach Zug

Tatsächlich kam dieser Zug – an der Spitze die ROTARY Dampfschneeschleuder «Uristier X rot m 100», nachher die Schiebelokomotive C 5/6 (Dampflokomotive) und ein Personenwagen. Nach der Rückkehr der Komposition von Airolo stiegen wir in den Personenwagen ein. Aber bald wurden wir aus diesem hinausgewiesen, die Kreisdirektion II der SBB in Luzern hatte den Transport von Zivilpersonen untersagt. Nach Rücksprache und beharrlichem Verhandeln sagte der Bahnhofvorstand, wir seien ja Militärpersonen und militärversichert, also sollten wir in den Rotary einsteigen und neben dem Dampfkessel stehen, dabei aber darauf achten, dass uns niemand beim Zustieg sehe.

Wir fuhren also mit der Schneeräumkomposition bis Erstfeld. Es war eine sehr interessante Fahrt. Kohle wurde in die Feuerbüchse geschaufelt, es dampfte und fauchte und war lärmig. Unterwegs wurde immer wieder angehalten und Lawinenschnee durchfahren. Mit langen Stangen stocherten Bahnarbeiter nach Bäumen und Steinen, dann schleuderte die Maschine wieder ein Stück, fuhr wieder zurück und erneut stocherten die Arbeiter mit den Stangen. Bei der Vorbeifahrt an Wärterhäuschen und Bauernhöfen wurde mit der Dampfpfeife gepfiffen und den Bahnwärtern und Bauern zugerufen, ob sie mitfahren wollten. Nach längerer Fahrt kamen wir in Erstfeld an und konnten umgehend in einen Schnellzug nach Zug einsteigen, wo wir um 15.30 Uhr ankamen.

Ein einmaliges Erlebnis

Zu Hause wurden wir mit Überraschung empfangen, denn Radio Beromünster hatte in den Mittagsnachrichten gemeldet, das ganze Geb. Inf. Rgt. 29, zu dem ja auch unser Bataillon gehörte, könne nicht in den Urlaub. Am Sonntagnachmittag, den 28. Januar 1968, funktionierte der Bahnverkehr der SBB auf der Gotthardlinie wieder normal. Wir konnten problemlos mit dem Zug zurück nach Airolo fahren. Hier holten wir die Skis ab, montierten die Felle und so ging es wieder zurück in die Kaserne Motto Bartola. Wir meldeten uns am Sonntagabend beim Kompaniekommandanten zurück und schilderten das Ganze. Er schmunzelte und sagte: «Da habt ihr ja was erlebt.»

Der am 27. Januar 1968 geborene Sohn von Toni, ehemals Inhaber der Firma Paul Bucher, Gartenbau Cham, kam am Samstagmorgen in der Klinik Liebfrauenhof, Zug, leider ohne Beisein von Vater Toni auf die Welt. Infolge der langen Anreisezeit mit der Dampfschneeschleuder kam dieser zu spät ins Spital.

Hinweise zur Beschaffung der Dampfschneeschleuder Rotary durch die Gotthardbahn (GB)

1882 wurden der Gotthardeisenbahntunnel und die Linie Luzern–Bellinzona eröffnet. Der Betrieb im Winter verlief ohne längere und nennenswerte Unterbrüche. Am 15. Januar 1895 gab es jedoch starke Schneefälle und auch Lawinenniedergänge. In Airolo betrug die Schneehöhe 2.20 Meter und in Bellinzona 1 Meter. Daraus resultierte ein 4-tägiger Unterbruch der Gotthardbahnstrecke. Aufgrund dieser unerfreulichen Situation musste die Schneeräumung der Bahnstrecke überdacht und neu beurteilt werden. Dies erfolgte bereits 7 Tage später. Den Schnee konnte man bis dahin nur durch die an den Lokomotiven angebrachten Schneeräumer und die fahrbaren vorgespannten Schneepflüge räumen. Daneben waren viele Schneeschaufler im Einsatz. Die Direktion der Gotthardbahngesellschaft (GB) in Luzern bearbeitete das Thema aufgrund des 4-tägigen Betriebsunterbruchs intensiv.

Bereits am 25. Februar 1895 verfolgte eine Delegation der Gotthardbahngesellschaft eine Demonstration mit Schneeschleudern auf der Bahnlinie Berlin–Jüterburg. Aufgrund dieser und weiterer Besichtigungen und Abklärungen in Deutschland und Ungarn beschloss die Gotthardbahn, eine Schneeschleuder nach dem US-System «Gebrüder Leslie» anzuschaffen. Die Gebrüder Leslie nannten ihre Erfindung «Rotary Snow Plough», daher der Name Rotary. Bereits am 4. März 1895 sandte die Gotthardbahngesellschaft der Schweizerischen Lokomotivfabrik in Winterthur (SLM) die Konstruktionspläne für den Bau einer Dampfschneeschleuder System Leslie. Die Lieferung müsse aber innerhalb von 9 Monaten erfolgen, also vor dem nächsten Wintereinbruch.

Den Schnee konnte man bis dahin nur durch die an den Lokomotiven angebrachten Schneeräumer und fahrbaren vorgespannten Schneepflügen räumen.
Den Schnee konnte man bis anhin nur durch die an den Lokomotiven angebrachten Schneeräumer und fahrbaren vorgespannten Schneepflüge räumen. (Bild: Wikimedia Commons / SBB Historic)

«Uristier» kam bereits im ersten Winter zum Einsatz

Vier Tage später, also am 8. März, teilte die SLM der Gotthardbahndirektion in Luzern mit, dass es ihr infolge Arbeitsüberlastung nicht möglich sei, eine Offerte zu erstellen, die eine Lieferfrist von nur neun Monaten beinhalte. Durch Vermittlung des europäischen «Leslie»-Patentinhabers W. Lucht & Co. in Hamburg war die Gotthardbahngesellschaft gleichzeitig auch mit der Firma Henschel & Sohn in Kassel in Verbindung getreten. Von dieser traf am 5. März eine Offerte für eine Dampfschneeschleuder System Leslie ein. Der Preis dafür betrug 58'500 Deutsche Reichsmark, verzollt 83'000 Schweizer Franken.

Am 3. Juni kam nach mehrmaliger Verschiebung des Abschlusstermins der Kaufvertrag mit Henschel & Sohn in Kassel zustande. Als Ablieferungstermin wurde der 15. Dezember 1895 vereinbart. Nach diversen Ermahnungen durch die GB und zahlreichen Entschuldigungen seitens Henschel lieferte die Firma den Rotary am 17. Januar 1896 in Rotkreuz ab. Von hier überführte man ihn via Goldau nach Erstfeld. Die Strecke Zug–Arth-Goldau wurde erst ein Jahr später, also 1897 eröffnet.

Erster Einsatz der Rotary Dampfschneeschleuder

Infolge der verspäteten Ablieferung kam es zu Streitigkeiten, die erst am 26. Februar 1896 durch die Garantiesummenauszahlung abgeschlossen wurden. Der Tender für Wasser und Kohle stammte anfangs von einer GB Dampflokomotive der Serie 51 bis 56 und ab 1912 von einer D 3/3 Dampflokomotive. Bereits am 9. März 1896 kam die Dampfschneeschleuder erstmals bei einem Lawinenniedergang am Ausgang des Häggrigertals bei Wassen zum Einsatz.

1909 ging die Rotary Dampfschneeschleuder von der GB in das Eigentum der SBB über und bekam die SBB-Nummer X rot m 100 Rotary. Die Maschine erhielt im Urnerland den Übernamen «Uristier», dies infolge des Kantonswappens von Uri über dem Schleuderrad. In Airolo und in der Leventina nannte man die Maschine «rodari» oder «il vecchio bestione». Die Maschine war auf einem 4-achsigen Fahrgestell aufgebaut, sie wog 64.6 Tonnen und der 2-achsige-Tender 26.5 Tonnen. Die Gesamtlänge betrug 17.172 Meter.

Dampfschneeschleuder Rotary-Gotthard-Bahn
Bereits am 9. März 1896 kam die Dampfschneeschleuder erstmals bei einem Lawinenniedergang am Ausgang des Häggrigertals bei Wassen zum Einsatz. (Bild: Wikimedia Commons / SBB Historic)

Das heulende Ungetüm

Im Aufbau war eine zweizylindrige Dampfmaschine installiert, die über ein Kegelradgetriebe das 2.96 Meter grosse Schleuderrad mit 10 kegelförmigen Schaufeln aus Stahl antrieb. Das Schleuderrad wurde von grossen fremdartig wirkenden Petrollampen überragt, später kam noch das Wappen des Kantons Uri dazu. Die Maschine war ein heulendes Ungetüm, die Bewohner des Reusstals wurden des Öfteren durch den Lärm und die Dampfpfeifen geweckt. Mit Umsteuerung konnte die Drehrichtung des Schleuderrades geändert werden, sodass der Schnee auf die rechte oder linke Seite ausgeworfen werden konnte. Auf dem angehängten Tender wurde 8.5 Kubikmeter Wasser und 4.5 Tonnen Kohle mitgeführt, wobei zum Sparen von Wasser auf dem Dach des Tenders eine Vorrichtung zum Schmelzen von Schnee installiert war. Es konnten Schneemassen bis 3.20 Meter Höhe und 3.10 Meter Breite bearbeitet werden und der Schnee wurde bis zu 90 Meter weit und bis zu 18 Meter hoch weggeschleudert.

Der Rotary kam ab einer Schneehöhe von 50 Zentimetern zum Einsatz. Das Rad drehte mit maximal 140 Umdrehungen pro Minute. Einen eigenen Antrieb hatte die Maschine nie, sie war nicht selbstfahrend, es musste also immer eine Schiebelok angekoppelt werden. Vor der Einrichtung einer Funkanlage verständigte sich der Schleuderführer mit dem Lokführer der Schiebelok mittels Dampfpfeife. Am Anfang war die Schiebelok eine Dampflok D 3/3, später die C 5/6 «Elefant», ab 1920 öfters zusätzlich auch eine Elektrolokomotive Ce 6/8 II «Krokodil» respektive Be 4/6 und Ae 6/6. Ab 1969 wurden auch Diesellokomotiven Bm 4/4 respektive Bm 6/6 eingesetzt.

Letzter Notfalleinsatz und Stilllegung

Am 7. und 8. April 1975 kam der Rotary überraschend nochmals zum letzten Notfalleinsatz. Zehn Lawinen hatten die Linie von Erstfeld bis Göschenen verschüttet. Auch die Häggrigertallawine musste geräumt werden, am gleichen Ort hatte der Rotary 1896 seinen ersten Einsatz gehabt. 1982 wurde die Dampfschneeschleuder nach 86 Betriebsjahren anlässlich der 100-Jahrfeier «Gotthardbahn» stillgelegt und kam in den verdienten Ruhestand. Sie steht heute als Dauerleihgabe von SBB Historic im Verkehrshaus der Schweiz in Luzern. Die ab 1948 im Einsatz stehenden Schneeschleudern der SBB X rot e und später X rot m 97/98 sind selbstfahrend und abdrehbar, sie brauchen also keine Drehscheibe zum Fahrtwechsel. Sie sind auch schneller einsatzbereit als die alte Dampfschneeschleuder Rotary.

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