Ein Quartett sorgt für 24 Stunden Musik

Konzert mit Nach(t)hall

Das Konzert im Neubad dauerte 24 Stunden.

(Bild: Samuel Huwyler)

Eineinhalb Jahre dauerte die Vorbereitung, 24 Stunden am Stück die Performance: Das Ensemble Nachhall hat von Samstag auf Sonntag im Neubad ein Konzert gespielt. Besonders eindrücklich: die Nacht, eingehüllt in Schlafsack und Engelsgesang. Ein akustisches Sondererlebnis im Zeitraffer.

10:55

Es ist still im Neubad, man hört einzelne Tritte, die im Poolraum widerhallen. Fünf Zuhörer und fünf Helfer verlieren sich in der Weite des Raumes. In fünf Minuten beginnt die 24-Stunden-Musikperformance, die laut Programm aus 38 halb- und dreiviertelstündlichen Sequenzen, aus Soli, Duetten und dem ganzen Ensemble Nachhall besteht.

11:02

Silke Strahl (Saxofon), Sara Käser (Violoncello), Léa Legros-Pontal (Viola) und Raphael Loher (Piano) betreten den Poolgrund. Die ersten Töne mischen sich zu einem schweren, ausfransenden Klangteppich, nein, eher einem wilden Waldboden. Das Saxofon mimt mit dominanten Huplauten den Störfaktor. Ruhige und laute, rhythmische und holprige, chaotische und – kurze – harmonische Passagen wechseln sich in der Improvisation ab. Das ganze Stück basiert auf Anweisungen des Komponisten Karl-Heinz Stockhausen, die an die Wand projiziert werden. Stockhausen fordert darin die Musiker lediglich auf, «im Rhythmus ihres Körpers», «ihres Herzens» oder «ihres Denkens» zu spielen.

11:44

Acht Zuhörerinnen sind nun da, darunter ein Kind, das auf dem Boden zu malen beginnt. Recht hat es: Am schönsten ist das irre Musikerlebnis dann, wenn man nicht nur andächtig den Musikern zuschaut, sondern selbst etwas tut: zum Beispiel um den Pool herumlaufen, raus- und wieder reingehen, lesen oder das Handy traktieren. Heikler: reden oder essen. Die fachkundigen Zuhörer und die Musikerinnen registrieren jedes Geräusch und orten zielgenau deren Absender. Entsprechende Blicke seien kein Vorwurf, erklärt Cellistin Sara Käser später. Indes: «Wir schaffen einen delikaten akustischen Raum, den wir auch etwas zu hüten versuchen.» Ein bisschen Andacht muss sein.

12:24

Ich höre in der Improvisation Anklänge an Ennio Morricones «Spiel mir das Lied vom Tod». Richtig melodiöse Musik wäre schon auch noch schön, denke ich kurz. Aber wirklich nur kurz, bevor ich mich wieder ganz der andächtigen Kakofonie hingebe.

12:35

Cellistin Sara Käser setzt sich an den Rand des Pools an eine «Zeitqualitätsmessmaschine». Von ihrem Kopf ragen Fühler aus Draht, die wie ein Pfauenkamm aussehen. Das Verrückte: Die Fühler produzieren metallisch klingende Geräusche, sobald sie irgendwo anstossen. Zusätzlich erzeugt Käser auf einem iPad Synthesizer-Töne, die sie zu einem betörend eigenartigen Klangteppich verwebt. Parallel verwickelt Käser Freiwillige an einem Computer in ein Frage-Antwort-Spiel («Wie viel kosten zehn Minuten Zeit?», «Wie klingt Zeit?»), das in eine etwas schwerfällige Kommunikation mündet.

13:00

Klaviersolo. Pianist Loher greift wie ein Chirurg ins Innere seines Flügels, traktiert die Saiten mit Kugelschreibern, Kreditkarten oder elektromagnetischen Geräten. Es scheppert, krächzt und dröhnt.

13:21

Ausser mir ist kein einziger Zuhörer mehr da. Liegt es daran, dass Essenszeit ist? Oder ist die Musik dann doch zu schräg? «Ich habe es gar nicht bemerkt, dass ich alleine war», berichtet Loher, «ich war voll bei der Sache.» Ja, das ist l’art pour l’art. Dass ich als Einziger Zeuge von ihr werde, macht die Sache für mich ziemlich cool.

13:26

Loher und ich sind nicht mehr allein. Neben zwei Einheimischen strömen neun japanische Architekturstudenten in den Neubad-Pool, wandeln sichtlich neugierig und betört umher.

13:45

Das Duo Klexs, bestehend aus Saxofonistin Strahl und Bratschistin Legros-Pontal, spielen auf. Sie marschieren, hüpfen, gestikulieren, schneiden Grimassen und ja, sie machen dazu auch Musik. Sehr crazy.

16:10

Cello und Viola intonieren Barockmusik. Barockmusik …! Im Verhältnis zur nerdigen neuen Musik ist das aussergewöhnlich herkömmliche Klassik. Dann bewegen sich Léa Legros-Pontal und Sara Käser zu einem neuen Instrument, einem 15 Meter langen Stahlseil, das über den Pool gespannt ist. Der elektronisch verstärkte Sound klingt wie eine Mischung aus Deep House und meditativen Walfischgesängen. Gerade auch im Kontrast zu den Barockklängen von zuvor: Klasse!

Auch mit diesem 15 Meter langen Staalseil wurde musiziert.

Auch mit diesem 15 Meter langen Stahlseil wurde musiziert.

(Bild: Samuel Huwyler)

16:30

21 Zuhörer sind da. Viel mehr werden es nie, auch nicht zur Ausgangs-Primetime ab 21 Uhr. «Die üblichen Verdächtigen», lacht Sara Käser. «Ein bisschen hatten wir uns schon erhofft, dass der Anlass nicht nur Insider anspricht, aber das entspricht etwa unseren Erwartungen.»

19:47

Ich komme vom Essen zurück. Es fühlt sich an, als ob ich nach Hause zurückkehre, die Musikerinnen schaffen einen Raum höchster, intimster Geborgenheit …

20:04

… sobald ich mich dann allerdings nur auf die Musiker und deren Instrumente konzentriere, kann die Geborgenheit in ein Gefühl der Gefangenschaft kippen. Mein Zwischenfazit: Zeitgenössische Musik braucht eine gesunde Distanz, einen inneren Abstand, um sich voll auf sie einlassen zu können.

20:15

Pianosolo. Schrille Töne wechseln sich mit reduzierter klassischer Musik à la Arvo Pärt ab. Draussen stürmt und gewittert es, die XXL-Rollläden des Neubads ruckeln. Ein Baby jauchzt kurz auf. Diese Aufmerksamkeit für Töne auch ausserhalb des Geschehens, die vom Klanggeschehen geschärft werden: ein Geschenk.

21:28

Wieder einmal ist das ganze Quartett auf der Bühne. Lang gezogen gleichmässige, untypisch harmonische Moll-Töne scheinen auf die Nachtruhe vorzubereiten. Einige der Zuhörer haben sich auch schon hingelegt, eine Frau hat sich das ehemalige Sprungbrett als Bettstatt zurechtgemacht. Doch ehe man sich versieht, wechselt die Musik des Ensembles vom Meditationsmodus in eine klimpernde Jahrmarktshektik. Jetzt klingt es weniger nach Nachtruhe und mehr nach Geisterstunde.

22:01

Léa Legros-Pontal trägt einen Text von John Cage über Stille vor. Am Rednerpult wirkt sie wie eine Nationalrätin. Die Worte fliegen an mir vorbei, nach avantgardistischer Musik ist mir englisches Kunstkauderwelsch «grad too much».

22:35

Der Neubad-Pool wird komplett abgedunkelt, auch das fluoreszierende Blau der Rutschbahn erlischt. Dafür leuchtet Silke Strahls Saxofon bei ihrem Solo auf. Ihre Tastengriffe lösen einen hypnotischen Trip aus Licht- und verzerrten Soundeffekten aus. Ein Loop-Gerät sorgt für Regelmässigkeiten. Wunderschön!

23:12

Nach einigem Umherirren – der beste Platz beim Sprungbrett ist ja schon besetzt – habe ich endlich auch mein Nachtlager gefunden und breite meinen Schlafsack aus. Zu hämmernden Pianoklängen folgt ein Konzert für Taschenlampen (Rasmus Zwicky). Die Mischung aus den lauten Tönen und den leisen Lichtern, die zwischen den Gesichtern der Musikerinnen und dem Raum zirkulieren, ist magisch. Am Ende verstummt die Musik, die blinkenden Lichter bleiben. Ich schlafe ein.

01:27

Ich werde von Engelsgesang geweckt. Die mehrstimmigen Gesänge sind wie die Daunendecke, die mir fehlt. Ich döse auf Wolke sieben – und schlafe wieder ein.

04:18

Trommeln, sehr schnelles, aber angenehm leises Fingertrommeln auf allen Instrumenten. Oder träume ich das nur?

06:04

Ich wache zu sanfter Klaviermusik auf. Draussen dämmert es, am Horizont ein Lichtstrahl. Die Wohnhäuser draussen vor dem Neubad erscheinen wie durch ein Brennglas, gestochen scharf und feierlich.

06:42

Sara Käser wartet auf ihren Einsatz – und muss niesen. «Gesundheit!» wünscht ein Zuhörer unter einer Wolldecke. Die Cellistin quittiert verlegen mit einer Geste, antwortet aber nicht verbal. Ein spannender, ein bezeichnender Moment. Trotz dem intimen Rahmen und trotz dem verbindenden Erlebnis einer gemeinsam verbrachten Nacht ist die Kommunikation zwischen Publikum und Musiker minimal. «Das Ganze hat schon etwas Unnahbares», findet Martin Schneeberger, der Gesundheit wünschende Zuhörer.

Der 42-Jährige ist extra aus Olten angereist und gehört als einziger der wenigen Zuhörer nicht zur Musikszene der «üblichen Verdächtigen». Nachdem er am Abend angekommen sei und die ersten schrillen Klänge des Pianos hörte, meinte er zunächst, er sei «im falschen Film». Dennoch hat Martin der 24-Stunden-Performance die Treue gehalten. «Die Musik hat sich dann doch recht geändert, sie wurde überraschend und vielfältig.» Besonders angetan war Martin von den Klängen vom Stahlseil und vom Saxofonsolo mit den Lichteffekten.

06:54

Pianist Lahers Kopf fällt plötzlich aufs Piano runter. Ist das jetzt echte Müdigkeit, spontane Improvisation oder steht das so in der Partitur? Laher spielt jedenfalls coolerweise kurz mit dem Kopf weiter.

07:35

Kaffeemahlgeräusche. Der Campingkocher wird entzündet. Ein Wasserkocher blubbert. Der Kaffee in einer italienischen Espressomaschine kocht. Nachhall serviert Kaffee für alle, die die Nacht durchgehalten haben. «Super nett», lacht Martin. Wir tauschen dazu noch Schokolade aus, das Alu raschelt, die Tafel knackt.

08:15

Lesung, Impro mit Pfauenfedern, Duo Klexs, das ganze Quartett mit Eigenkompositionen und mit freier Improvisation – gleiche oder leicht variierte Sequenzen von zuvor wiederholen sich noch einmal.

11:00

Es ist geschafft. Die vier 24-Stunden-Heldinnen Silke Strahl (Saxofon), Sara Käser (Violoncello), Léa Legros-Pontal (Viola) und Raphael Loher (Piano) verneigen sich und gehen ermattet von der Bühne. Abgesehen von ein paar Power-Naps hat das Ensemble Nachhall die Nacht durchwacht. Und auch wenn nicht viele Zuhörer da waren: Das verrückte Experiment wird nachhallen.

* Der Autor war während 18 von 24 Stunden an der Musikperformance anwesend.

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