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Thomas Brändle

Nürnberger Prozess 2.0

«Sie sind also der Ansicht, dass es im Neoliberalismus keine Zwangsarbeit gegeben hat, Angeklagter Himmel?» «Das habe ich nun schon mehrfach bestätigt, Herr Staatsanwalt.»

«Sie sind also der Ansicht, dass es im Neoliberalismus keine Zwangsarbeit gegeben hat, Angeklagter Himmel?»

«Das habe ich nun schon mehrfach bestätigt, Herr Staatsanwalt.»

«Sie haben aber bereits zu Protokoll gegeben, dass zumindest Freiwilligenarbeit existiert hat. Und zwar in beträchtlichem Umfang.»

«Das ist korrekt, Herr Staatsanwalt.»

«Es gab in Ihrem System also Freiwilligenarbeit, aber keine Zwangsarbeit, Angeklagter?»

«Sie haben eine schnelle Auffassungsgabe, Herr Staatsanwalt», kontert der Angeklagte mit süffisantem Unterton.

«Seien Sie nicht so vorlaut, Angeklagter Himmel! Die Sache ist ernst!», ruft der Richter zur Ordnung.

«Verzeihen Sie, Herr Vorsitzender.»

«Wenn es keine Zwangsarbeit gegeben hat, wäre der korrekte Terminus für Freiwilligenarbeit dann nicht eigentlich ‹Gemeinnützige Gratisarbeit›?», insistiert der Vertreter der Anklage.

«Das kann man allenfalls so sehen, Herr Staatsanwalt», pflichtet ihm der Angeklagte bei.

«Schön, dass wir nun doch noch einen gemeinsamen Nenner gefunden haben», freut sich der Staatsanwalt.

Der Angeklagte nickt.

«Gab es denn im Neoliberalismus auch unnütze, aber hoch bezahlte Arbeit, Angeklagter Himmel?»

«Nun, es gehörte nicht zu meinem eigentlichen Aufgabenbereich, solches zu wissen, Herr Staatsanwalt», antwortet der Angeklagte kleinlaut.

«Was war denn ihre vornehmliche Aufgabe als zuständiger Minister für Freiwilligenarbeit, Angeklagter Himmel?»

„Nun ja … alle meine Bemühungen waren im Grunde auf die ‹Endlösung› fokussiert.»

«Die Endlösung?», gibt sich der Staatsanwalt überrascht. «Und wie hat man sich diese vorzustellen, Angeklagter Himmel?»

«Die Vernichtung aller Kosten. Kosten, die den Gewinn oder schlimmstenfalls gar das Kapital selber schmälerten, Herr Staatsanwalt.»

«So?! Und womit hätten die arbeitenden Menschen die Produkte ihrer kostenfreien Wirtschaftsdiktatur dann kaufen sollen, Angeklagter Himmel?»

«Dafür war ich zu keinem Zeitpunkt zuständig, Herr Staatsanwalt. Damit beschäftigte sich ein anderes Ministerium.»

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