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Gesundmacher und Heilkünstler ohne Wartezimmer

Doktor Wald

Das anonyme Gedicht betont die gesunden Wirkung des Waldes auf die Menschen. (Bild: zvg)

Wenn ich an Kopfweh leide und Neurose,mich unverstanden fühle oder alt, dann konsultiere ich den Doktor Wald!Er wohnt ganz nah, gleich nebenan,er ist mein Augenarzt und Psychiatermein Orthopäde und mein Internist.Er hilft mir sicher über jeden Kater, ob er aus Kummer oder Cognac ist!Er hält nicht viel von Pülverchen und Pillen,doch umso mehr von Luft […]

Wenn ich an Kopfweh leide und Neurose,
mich unverstanden fühle oder alt,
dann konsultiere ich den Doktor Wald!
Er wohnt ganz nah, gleich nebenan,
er ist mein Augenarzt und Psychiater
mein Orthopäde und mein Internist.
Er hilft mir sicher über jeden Kater,
ob er aus Kummer oder Cognac ist!
Er hält nicht viel von Pülverchen und Pillen,
doch umso mehr von Luft und Sonnenschein!
Ist seine Praxis auch sehr überlaufen,
in seiner Obhut läuft man sich gesund!
Er bringt uns immer wieder auf die Beine,
verhindert Fettansatz und Gallensteine.
Den Blutdruck regelt er und das Gewicht,
nur Hausbesuche, die macht er nicht.

So hängt es an einem Baumstumpf, einem vom Sturm geköpften Riesen. Dem Charakter der Rinde und seines Standorts nach könnte es eine Tanne sein. So vermute ich. Vom Boden her tastet sich Efeu hinauf an das Blatt mit dem Gedicht, ich fürchte daher, es wird bald nicht mehr zu lesen sein. Im Grund kein schöner Anblick, dieser Baum, wie er geköpft, seiner Äste beraubt, und mitten unter seinesgleichen, beinah leblos und nicht weit vom Wegrand, dasteht.

Die andern, die stolz und schön den Wolken entgegenstreben, erhalten regen Besuch von kleinen und grossen Vögeln, denen sie nebst Schutz auch ein Daheim bieten können in ihrer grünen Üppigkeit. Es herrscht ein einziges Kommen und Gehen in seiner Nachbarschaft, sie fliegen ein und aus mit ihren kleinen Beutestücken in den Schnäbeln und werken und fabrizieren an ihren Behausungen herum, pausenlos, bis diese bereit für den Nachwuchs sind.

Manchmal übersieht man es einfach

Von weitem leuchtet mir dieses weisse Blatt jeweils entgegen, ich muss mich ihm meist zuwenden, muss nähertreten, am Boden ein paar Reisige verschieben, das Efeu zur Seite rücken. Dann lese ich. Ich weiss nicht, wie es andern Wandersleuten geht, die hier vorbeikommen. Manchmal übersieht man den Zettel einfach.

Neulich zum Beispiel war ein Mann in der Nähe beschäftigt. Er war dabei, einen Stapel Cheminéeholz auf seinen Transporter zu laden. Die Holzspälte, frisch geschlagen und noch hell, hob er einen um den anderen auf die Ladefläche. Wir wechselten ein paar Worte, wie: Jetzt kann wieder eingefeuert werden, und er: Erst muss es noch etwas trocknen. Und so übersah ich die Ode an den Doktor Wald.        

Seltsam unlogisch, die Sprache

Ich frage mich, wie zulässig es sei, von einem geköpften Baum zu sprechen, wie ich es oben getan habe. Ein Baum hat keinen Kopf. Er hat eine Krone. Auf die Frage, ob das Astwerk einer Tanne eigentlich auch als Krone bekannt sei, habe ich bis jetzt keine Antwort gefunden. Ich hätte dann, statt von einem geköpften, von einem gekrönten Baum schreiben müssen, die Tanne sei gekrönt worden. Doch das würde in diesem Fall klar besagen, sie habe eine weitere Krone bekommen.

Wie seltsam unlogisch die Sprache doch sein kann! Wäre es nicht logischer, dass ein Baum entkrönt und ein Mensch entköpft würde? Geht es um ein Haupt, verlangt schliesslich die Sprache auch, dass man den Menschen enthauptet.

Cognac gefällt den Frauen nicht

Dem Gedicht am Waldrand fehlt notabene eine Angabe über seinen Urheber, seine Autorin. Und beim Vorbeigehen mutmasse ich deshalb jedesmal, wer es verfasst haben könnte. Ein Mann oder eine Frau, ein Lehrer vielleicht? Die Person versteht etwas von Rhythmus, und ihr Wortschatz ist nicht übel. Auch sucht man vergeblich nach Fehlern der Rechtschreibung oder der Syntax. Bloss bei den Ausrufezeichen geht es mit ihm oder ihr durch, da zeigt sich eine kleine Schwäche.

Und der Mensch mag Cognac. Cognac passt hingegen nicht zu einer Frau. Einer Frau würden eher ein paar Cüpli einfallen, wenn sie das Thema Schwips und seine Folgen anschneidet. Also klar ein Mann. Sehr jung wird er nicht sein, unser Dichter, denn junge Menschen denken nicht so tiefgründig ans Kranksein, und wenn sie schon in den Wald gehen, dann voll im Sportdress. Federleicht und leise, fast wie ein Reh preschen sie keuchend, den Blick geradeaus gerichtet, aus den Nadelhölzern hervor. Man hört sie nicht, der Waldboden federt ihre Schritte ab, und daher ist der Wald auch für sie gesund. Selbst wenn sie darüber nicht gross nachdenken.

Gut geschützt vor Sturm und Nässe

Nachrichten oder gar Literatur auf Baumstümpfen habe ich noch nicht oft gesehen im Leben. Allenfalls kurze Fingerzeige im Zusammenhang mit einem Waldfest, einem Orientierungslauf, oder einer Richtungsangabe, einem Hinweis für die Waldarbeiter. Doch wie bald wird so etwas vom Wind, vom Regen, von Spitzbuben oder von Tieren unkenntlich gemacht!

Unser Dichter aber schlug sein Schriftstück mit währschaften Nägeln ans Holz und packte es  in ein wasserdichtes Sichtmäppchen – vielleicht erneuert er dieses alle paar Monate ‒, so dass der spärliche Schneefall im Winter ihm nichts anhaben kann, und auch von den immer heftigeren Orkanen des Frühlings keine Spuren bleiben.

Zuguterletzt aber gebe ich ihm Recht, der Wald ist ein fabelhafter Gesundmacher. Ein Heilkünstler ohne Wartezimmer, ohne zerlesene Illustrierte, mit denen man seine Zeit vertrödeln muss.

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