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Kritische Gedanken zum neuen Bau 745

Unechte Viscosistadt

Die Sujets liegen vor den Fenstern. (Foto: Gerold Kunz)

Als jüngster Baustein im grossen Hochschuldomino ist Ende September das Departement Design & Kunst in die Viscosistadt eingezogen. Das Industrie-Ambiente soll Studierende zur Kreativität anspornen, so die konsequente Schlussfolgerung. Ich vermute, der Schulbetrieb soll zuallererst eine urbane Stimmung im unbelebten Stadtteil zu begründen helfen.

Ich erinnere mich noch gut an die verheissungsvollen Prophezeiungen, mit dem Uni-Neubau am Kasernenplatz werde sich die Baselstrasse zum Quartier Latin transformieren. Ohne konkrete Kenntnisse zu haben, vermute ich, dass auch mit der Ansiedlung des Departements Design & Kunst der Hochschule Luzern in der Viscosistadt entsprechende Absichten verfolgt werden. Es gilt, einen Stadtteil zu beleben. Denn jedem Investor ist klar, dass ohne Menschen keine Geschäfte zu machen sind.

Und dieser Stadtteil zeigte sich am Eröffnungswochenende von seiner besten Seite (zentralplus berichtete). Rund um den Bau 745, wie das Hochschulgebäude sich nennt, wurden Essstände, Esstische und Essplätze eingerichtet. Es gab Musik zu hören und man konnte sich an der Emme etwas Ruhe gönnen. Der Stadtraum um den Bau 745 war belebt und die Stimmung gut. Ich traf auf viele bekannte Gesichter, mit mehreren Personen konnte ich einen Schwatz halten oder sie auf ein Bier einladen. Die Viscosistadt zeigte ihr grosses Potenzial, von dem noch lange die Rede sein wird.

Keine virtuelle Welt

Was mich aber bedrückt, ist die Tatsache, dass die Viscosistadt zwar wie eine Stadt aussieht, aber keine ist. Denn der öffentliche Raum gehört der Viscosistadt AG. Dieser kleine Unterschied mach mich stutzig und erinnert mich an Kriens, wo der heimliche Dorfplatz, zwischen Migros und Post, das Flachdach einer Tiefgarage ist, das der Verima AG gehört, bei welcher wir eine Bewilligung einholen durften, wenn wir eine politische Aktion auf dem «Dorfplatz» durchführen mussten. So wird es auch in der Viscosistadt sein.

Was mich noch mehr erstaunt, ist die Tatsache, dass sich niemand ernsthaft daran stört. Wo sind die Citoyens des 21. Jahrhunderts geblieben? Verwässert der viele Besuch in der virtuellen Welt, wo alles immer zugänglich ist, den Bezug zur realen Welt, wo es Eigentum und Grenzen gibt? Ich kann es nicht begreifen.

Brav und bieder

Mein Fazit des Tages: Es gibt Besseres zu tun, als den Bau 745 in der Viscosistadt zu besichtigen. Nachdem ich mich am Eröffnungstag durch die Geschosse durchgearbeitet hatte, blieben mir nur die schönen Ausblicke in das Quartier in Erinnerung (zentralplus berichtete). Noch selten habe ich eine derart leere Architektur gesehen, brav und bieder. Architektur ist hier offenbar einer Excel-Tabelle gleichgesetzt worden: Es gibt nur Treppenhäuser, Korridore, Schul-, Neben- und Nassräume. Einzig die Bibliothek hat etwas Farbe ab- und ein Oblicht als Wolke bekommen. Der Rest wartet auf die Belebung durch die Studierenden. Meine Prophezeiung: Ohne Bewilligung geht hier gar nichts.

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1 Kommentar
  • Profilfoto von Watti
    Watti, 24.10.2016, 11:02 Uhr

    Ja, der frühere Industriebau 745 gehört der Viscosistadt AG, und ja, die Viscosistadt AG gehört dem Schweizer Industrieunternehmen Sefar, dem auch die Monosuisse gehört. Nach dem Konkurs der Nexis Fibers, welche einer französischen Investorengruppe gehörte, stand die ehemalige Viscosuisse vor dem Aus. Die Sefar ihrerseits befürchtete, dass mit dem Wegfall der Nexis ihr grösster Rohstoff Lieferant wegfällt. Sefar kaufte in der Folge 2009 nicht nur den Monofil-Teil der Nexis, welcher heute als Monosuisse erfolgreich produziert, sondern auch das ganze Firmengelände von 8.5 Hektaren. Ich bin überzeugt, dass ohne Sefar das Gelände heute eine Industrieruine wäre, und dies 3 km Luftlinie von der Kappelbrücke weg. Der Umstand, dass heute auf dem Firmengelände produziert, gearbeitet, gelehrt und investiert wird finde ich sehr positiv; und die Entwicklung des ehemaligen Industrieareals geht ja weiter.
    Ich habe über 2 Jahrzehnte im Bau 745 gearbeitet als Leiter des Chemielabors im 3. Stock. Ob es ein „schöner“ Bau war und ist, darüber lässt sich streiten. Aber er ist mit seiner Grösse und seiner „Präsenz“ sicher ein Zeitzeuge und für eine kreative Nutzung geeignet. Schon immer haben schöpferische und produktive Menschen die Seele dieses Gebäudes ausgemacht.

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