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Gerold Kunz in Chicago

The 606

Die richtungsgetrennte Betonpiste erinnert an eine konventionelle Strasse. (Bild: Gerold Kunz)

Was in Luzern am Entstehen ist, wurde in Chicago bereits umgesetzt: auf dem Trasse einer stillgelegten Bahnlinie wurde ein über vier Kilometer langer Park angelegt. Nun wurde das Projekt von der «American Planning Association» mit einem Award for Urban Design ausgezeichnet, obwohl das Projekt auch Fragen offen lässt.

Auf einem ersten Rundgang durch Chicago bin ich zufällig auf den Bloomingdale Trail gestossen, einem zum Park umgebauten stillgelegten Eisenbahntrasse inmitten von Wohnquartieren. Der etwas mehr als vier Kilometer lange Parkway mit dem ungewöhnlichen Namen «The 606» (die gemeinsamen ersten Ziffern der Postleitzahl von Chicago) ist in diesen Tagen von der American Planning Association, die ihren Sitz in Chicago hat, als eines von neun Projekten ausgezeichnet worden. Der «National Planning Excellence Award for Urban Design» soll der Öffentlichkeit zeigen, wie ein Park im 21. Jahrhundert gestaltet werden kann.

Nicht ganz New York

Ein Blick auf die Anlage zeigt, was die Planer (Arup; Ross Barney Architects; Michael Van Valkenburgh Associates; The Chicago Public Art Group) darunter verstehen. Die Unterschiede zur bekannten, 2009 eröffneten und 2011 erweiterten High Line in New York sind gross. Wurde in New York die Aufgabe so verstanden, das Trasse auch nach der Umgestaltung als historische Anlage erkennbar bleibt, haben die Planer in Chicago andere Ziele verfolgt. Hier ist kein industrieller Charme zu spüren. Der ehemals horizontal verlaufende Damm wurde stellenweise abgetieft und die linear verlaufende Wegführung mit Kurven ergänzt. Auch wurden Nebenwege ausgebildet und über 1’400 Bäume gepflanzt. Wer «The 606» begeht, wird in eine naturnahe Landschaft geführt, die mehr mit einer Idylle als mit einem kulturhistorischen Artefakt gemeinsam hat.

Doch im Unterschied zur High Line in New York, wo der Kunstbau eine beeindruckende Stahlkonstruktion ist, haben die Planer hier in Chicago keine qualitätsvoll gestaltete Anlage aus der Zeit der Industrialisierung vorgefunden. Das Trasse wurde lieblos als Damm aufgeschüttet, beidseitig von Betonwänden gefasst. Und die Strassenübergänge wurden mit banalen Betonbrücken versehen. Eine Anlage also, die nicht wegen ihrer Schönheit punktete. Die Transformation ist somit auch als ein Beitrag zur Verschönerung der Quartiere zu verstehen, indem einem störenden Objekt eine neue Bedeutung zugewiesen wird.

Es fehlt an Liebe zum Detail

Dennoch fehlt der Gestaltung die Liebe zum Detail. Zwar werden die Wege von gut gestalteten Leuchten begleitet und die Ruhebereiche sind mit attraktiven Sitzbänken versehen, aber der Weg erinnert mit der Aufteilung in einen Randbereich (weicher Belag; für Jogger) und die richtungsgetrennte Betonpiste eher an eine konventionelle Strasse als an einen Parkway. Auch wurden, zum Schutz der Anwohner von den Parkbenutzern, vor den Hausfassaden Gitter hochgezogen, die störend wirken. Im Unterschied zur High Line in New York ist «The 606» auch für Velos benutzbar. Alle Zugänge sind deshalb mit Rampen hindernisfrei ausgebildet.

Die Initiative für das Projekt kam aus der lokalen Bevölkerung. In zehn Minuten Gehdistanz zu den 17 Zugängen wohnen 80’000 Personen, was die Bedeutung der Einrichtung unterstreicht. Neben der Ergänzung zu bestehenden Parks wertet der Park die Nachbarschaft auf. Viele, teilweise ungenutzte Industrieareale werden in naher Zukunft transformiert. Wie andere grosse Investitionen beschleunigt auch der «The 606» den Umbau der angrenzenden Stadtquartiere, was die gesellschaftliche Durchmischung des Quartiers verändert.

Kostspielige Attraktion

95 Millionen Dollar hat das Projekt des Bloomingdale Trails gekostet, jedoch nur 25 Millionen steuerte die Chicagoer Behörden bei. Neben 20 Millionen Dollar, die von Privaten eingebracht wurden, sind es 50 Millionen, die aus einem Programm der «Federal Highway Administration» kamen, und zwar aus einem Programm, das zur Staureduktion und Verbesserung der Luftqualität beitragen soll, dem «Congestion Mitigation and Air Quality Improvement» (CMAQ) Program.

Mit «The 606» ist Chicago nicht nur um eine Attraktion reicher, sondern auch um eine Erfahrung, was die Konzeption und Umsetzung eines Parks des 21. Jahrhunderts unter Einbezug der Bevölkerung betrifft.

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