Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg

Sieg für linke Luzerner Anwältin gegen Schweizer Rechtsstaat

Im Einsatz für die Menschenrechte: Anwältin Luzia Vetterli. (Bild: zvg/Adobe Stock/Manpeppe)

Die Schweiz verliert am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg gegen einen 83-jährigen Iraner und seine Luzerner Anwältin. Das Resultat: Der Iraner darf trotz fehlender Papiere und Wegweisung in der Schweiz bleiben.

«Ich setze mich gerne für Leute ein, die alleine nicht zu ihrem Recht kommen.» Das sagt Luzia Vetterli – 1981 geboren, an der Universität Luzern studiert, Anwältin seit 2011, bis 2019 elf Jahre lang für die SP im Grossstadtrat politisch aktiv (zentralplus berichtete).

Als naiver Gutmensch wird sie wohl an so manchem konservativem Stammtisch belächelt. Dieser Tage ist in Zeitungen und Online-Magazinen immer wieder von ihr zu lesen. Denn sie hat am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg die Schweiz besiegt – und ihrem iranischen Mandanten den Verbleib im Land gesichert.

«EGMR ist massiv überlastet»

«Es ist bereits als Erfolg zu werten, wenn der EGMR einen Fall überhaupt annimmt. 98 Prozent der Fälle kommen gar nicht erst durch», erklärt Vetterli. In einigen Medienberichten wird diese Zahl fälschlicherweise als Argument für die Menschenrechtskonformität der Schweiz angeführt. Nur zwei Prozent der eingegangenen Beschwerden führten zu einer Verurteilung der Schweiz, heisst es beispielsweise in einem Artikel von «CH Media».

«Bei diesem Fall habe ich die Gewinnchancen in Strassburg als realistisch eingeschätzt. Und lag damit richtig.»

Luzia Vetterli

Doch dass der EGMR auf die allermeisten Beschwerden nicht eingeht, hat nichts mit der Schweiz zu tun, wie Vetterli weiss: «Der EGMR ist seit Jahren massiv überlastet. Darum werden nur die deutlichsten Fälle von Menschenrechtsverletzungen geprüft.» Einen solchen Fall hat sie nun also gewonnen.

Im ersten Anlauf ist ihr das noch nicht gelungen. Auch nicht im zweiten, dritten oder vierten. Doch dieses Mal war alles anders. «Ich habe die Gewinnchancen in Strassburg als realistisch eingeschätzt. Und lag damit richtig», sagt Vetterli. Nur ums Gewinnen sei es ihr aber nicht gegangen. Sondern darum, «diesem Mann in seiner schwierigen Lage zu helfen. Und die Chance, die teilweise stossende Ausschaffungspraxis der Schweiz zu ändern.»

50 Jahre in der Schweiz und trotzdem Sans-Papiers

Doch was war passiert? Hier die Kürzestversion: Vetterlis Mandant lebt seit mehr als 50 Jahren in der Schweiz. 1969 erhielt er als iranischer Flüchtling Asyl. Er war Arzt, bestens integriert und hat in der Schweiz eine Familie gegründet. Heute ist er 83 Jahre alt. Seine Aufenthaltsbewilligung wurde ihm aufgrund von Straftaten entzogen, die er in den 90er-Jahren begangen hat. Das Verfahren zog sich damals lange hin. Mit dem Abschluss des Verfahrens verlor der Mann seine Aufenthaltsbewilligung. Seit 2002 lebt er als Sans-Papiers in der Schweiz.

«Der EGMR hat entschieden, dass das Recht meines Mandanten auf Privatleben höher zu gewichten ist als das öffentliche Interesse der Schweiz, ihn auszuschaffen.»

Luzia Vetterli

Jahre später habe er seinen Aufenthalt in der Schweiz legalisieren wollen, erzählt Vetterli. Am Bundesgericht blieb ihm dieser Wunsch unerfüllt. In Strassburg gaben die Richter ihm hingegen recht. Das Urteil ist für die Schweiz bindend.

Möglicher Präzedenzfall für nationale Rechtsprechung

Als Sans-Papiers sei das Leben in der Schweiz alles andere als angenehm, sagt Luzia Vetterli. Darum ist sie Vorstandsmitglied der Sans-Papiers-Stelle Luzern. «Bankkonto, Handyabo, eine Krankenkasse, eine Anstellung oder das Recht auf Sozialhilfe – all diese selbstverständlichen Dinge bleiben diesen Menschen meist verwehrt.»

Nur die wenigsten Fälle werden am EGMR in Strassburg mündlich verhandelt. Luzia Vetterli gewann ihren Fall schriftlich. (Bild: Adobe Stock/ ifeelstock)

Die Begründung der Richter ist ein Plädoyer für die Menschenrechte. «Der EGMR hat entschieden, dass das Recht meines Mandanten auf Privatleben höher zu gewichten ist als das öffentliche Interesse der Schweiz, ihn auszuschaffen», fasst Vetterli die Urteilsbegründung zusammen. Und sie kann sich vorstellen, dass das Urteil zum Präzedenzfall wird.

«Ausschaffungsinitiative» nicht menschenrechtskonform

Luzia Vetterli ist nicht nur Anwältin. Sie doziert auch an der Universität Luzern: Strafrecht und Migrationsstrafrecht. Als die «Ausschaffungsinitiative» der SVP 2010 angenommen wurde, war sie Grossstadträtin in Luzern. Als Juristin ahnte sie wohl schon damals, dass diese Initiative noch lange für Gesprächsstoff sorgen sollte – und Menschenrechtsverletzungen, die vom EGMR in Strassburg gerügt werden.

«Der EGMR greift nur ein, wenn Menschenrechte klarerweise verletzt werden.»

Luzia Vetterli

«Die Annahme der Ausschaffungsinitiative hat zur Folge, dass straffällige Personen ab einem gewissen Strafmass bedingungslos eine Landesverweisung erhalten und ihre Bewilligung verlieren», erklärt Vetterli. Dies gilt auch für Personen, denen in ihrem Heimatland Folter oder Verfolgung droht. Eine Ausschaffung in ein solches Land wäre aber nicht menschenrechtskonform, also rechtlich unmöglich. «Diesen juristischen Widerspruch müsste der Gesetzgeber korrigieren», fordert Vetterli. Wenn er dies weiterhin nicht tue, würden weitere Fälle in Strassburg landen. «Dann muss die Schweiz womöglich ihre Rechtsprechung oder das Gesetz anpassen.»

Luzia Vetterli und die SVP

Wind auf die Mühlen der SVP. Die Partei fordert seit Jahren, sich der «fremden Richter» zu entledigen. Bisher mit wenig Erfolg. Ihre «Selbstbestimmungsinitiative» wurde 2018 vom Volk abgelehnt – im Kanton Luzern mit mehr als zwei Dritteln Nein-Stimmen (zentralplus berichtete). Auch wegen der Luzernerin Andrea Huber, die das Gesicht der Nein-Kampagne war (zentralplus berichtete).

«Wer gut integriert ist, soll eine Aufenthaltsbewilligung bekommen.»

Luzia Vetterli

Luzia Vetterli verrät, wieso sie den EGMR schätzt: «Der EGMR agiert auf sehr zurückhaltende Art und Weise, was ich befürworte. Er greift nur dann ein, wenn Menschenrechte klarerweise verletzt werden.» Das war offenbar auch im Fall des 83-jährigen Iraners so.

Doch Vetterli kann dem aktuellen Parteiprogramm der SVP auch Gutes abgewinnen. Die SVP fordert eine konsequente Ausweisung von Personen, deren Gesuch auf Asyl abgelehnt wurde. «Ich finde es richtig, dass Personen mit Nichteintretensentscheid rasch ausgeschafft werden. Es bringt beispielsweise den meisten Asylbewerbern aus dem Maghreb nichts, wenn sie ein paar Jahre in der Schweiz leben, um dann doch noch gehen zu müssen», sagt Vetterli, um anzufügen: «Wer gut integriert ist, soll eine Aufenthaltsbewilligung bekommen.» Damit meint sie insbesondere auch Sans-Papiers wie den 83-jährigen Iraner, der nun definitiv in der Schweiz bleiben darf.

Verwendete Quellen
  • Telefonat mit Anwältin Luzia Vetterli
  • Artikel in der «Luzerner Zeitung»
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