Private springen in die Bresche

Luzern streitet um Gratis-ÖV-Tickets für Sans-Papiers

Deutschkurse oder sozialer Austausch seien wichtig, auch für Weggewiesene, findet das Solinetz Luzern. (Bild: symbolbild: zvg)

Menschen mit negativem Asylentscheid müssen eigentlich ausreisen. Wer trotzdem bleibt, hat Anspruch auf Nothilfe. Nicht aber auf Zug- oder Bustickets, findet der Kanton Luzern. Die Organisation Solinetz ist entrüstet – und sammelt auf eigene Faust Geld.

Sie kommen in der Hoffnung, in der Schweiz ein neues Leben anzufangen. Doch nicht alle Asylbewerber dürfen hierbleiben. Manche Gesuche werden abgelehnt, zum Beispiel, weil die Behörden das Herkunftsland als sicher erachten. In diesem Fall müssen die Geflüchteten innert weniger Tage bis Monate ausreisen.

Doch nicht alle gehen freiwillig. Und nicht alle können ausgeschafft werden, zum Beispiel weil ihr Herkunftsland sie nicht mehr einreisen lässt oder die nötigen Reisepapiere fehlen. Studien zufolge haben bis zu einem Drittel der Sans-Papiers in der Schweiz zuvor ein Asylverfahren durchlaufen.

Sie tauchen oft unter oder leben von der Nothilfe. Dann müssen 8 bis 12 Franken pro Tag für Essen, Kleider und den Alltag reichen. In vielen Fällen über eine lange Zeit: Gemäss Statistiken bleibt über die Hälfte der Nothilfebezüger mehr als ein Jahr in der Nothilfe.

Regime ist bewusst streng gehalten

Und das, obwohl die Behörden bewusst streng sind. Denn das Nothilferegime ist darauf ausgelegt, abgewiesene Asylsuchende zur Ausreise zu bewegen. In Luzern ist es vor kurzem sogar noch ein bisschen strenger geworden. Anfang 2022 hat der Kanton das Zepter über die Nothilfe übernommen. Zuvor waren die Sozialen Dienste der Stadt Luzern im Auftrag des Kantons für alle Luzerner Gemeinden zuständig.

«Egal, ob die Leute eines Tages in ihr Heimatland zurückkehren wollen oder müssen, hierbleiben und vielleicht sogar legalisiert werden: Sie haben Anrecht auf ein würdevolles Leben.» Kevin Schmidli, Solinetz Luzern

Die Änderung der Organisation der Nothilfe hat Folgen für die Bezüger: So sei die Finanzierung der Tickets für den öffentlichen Verkehr gestrichen worden, kritisiert das Solinetz Luzern. Dadurch könnten viele Nothilfe-Bezüger bisher besuchte Angebote in der Stadt Luzern nicht mehr wahrnehmen. Das sind zum Beispiel Deutschkurse, religiöse Anlässe oder soziale Treffpunkte.

«Sie werden von der Gesellschaft ausgegrenzt und das ist krankmachend», sagt Kevin Schmidli vom Solinetz Luzern. Gerade für Jugendliche ist dies fatal. «Auch Kinder dürfen nicht vom Sozialleben total abgeschottet werden», so Schmidli. Als Beispiel erwähnt er einen Primarschüler, dem plötzlich das Fussballtraining verwehrt wird, nur weil seine Eltern ihn nicht mehr begleiten können. Solinetz schätzt, dass im Kanton Luzern um die 250 Personen als registrierte Sans-Papiers von der Nothilfe leben.

Kanton sieht keinen Grund zu handeln

Der Kanton Luzern hat letzten Sommer ein neues Nothilfezentrum in Buttisholz eröffnet. Alleinstehende Männer mit negativem Asylentscheid werden seither konsequent auf dem Land untergebracht. «Damit erschweren sich für sie unter anderem die Kontakte mit dem Amt für Migration und die Erreichbarkeit von Angeboten wie Hello Welcome, die Kontakt- und Beratungsstelle Sans-Papiers und weiteren Angeboten, die in der Stadt Luzern domiziliert sind», hielt kürzlich auch der Luzerner Stadtrat fest.

Die geplante Containerunterkunft für Flüchtlinge passt laut SVP-Kantonsrat Thomas Schärli nicht nach Meggen.
Im Notzentrum in Buttisholz leben aktuell 20 Personen. (Bild: les) (Bild: les)

Der Kanton sieht allerdings keine Notwendigkeit, an seiner Praxis etwas zu ändern. «Die Finanzierung von ÖV-Tickets für das zwingende Aufsuchen von Ämtern oder medizinischen Einrichtungen ist sichergestellt», sagt Silvia Bolliger, Leiterin der Dienststelle Asyl- und Flüchtlingswesen. Sprich: Wer zum Arzt oder zum Migrationsamt muss, kann das. Für alles andere sieht sich der Kanton nicht zuständig.

Die Nothilfe umfasse die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlichen Mittel für Nahrung, Kleidung, Obdach und die medizinische Versorgung, sagt die Luzerner Asylchefin. «Daraus ergibt sich kein Anspruch auf die Finanzierung von ÖV-Tickets», so Bolliger mit Verweis auf die kantonale Asylverordnung. Sie stellt klar: Wer Nothilfe beziehe, halte sich an und für sich illegal in der Schweiz auf.

Solinetz sammelt selber Geld

Beim Solinetz Luzern kommt diese Haltung gar nicht gut an. «Egal, ob die Leute eines Tages in ihr Heimatland zurückkehren wollen oder müssen, hierbleiben und vielleicht sogar legalisiert werden: Sie haben Anrecht auf ein würdevolles Leben und ihre seelische und körperliche Gesundheit soll gewahrt werden», sagt Kevin Schmidli.

Die Organisation hat darum eine Sammelaktion ins Leben gerufen – und nach wenigen Tagen das Spendenziel von 10’000 Franken übertroffen. Bis wann dieses Geld ausreiche, sei schwierig abzuschätzen, sicherlich bis zu Beginn des Sommers.

Mit diesem Video wirbt Solinetz für die Sammelaktion:

Der Verein engagiert sich aber dafür, dass langfristig nicht ständig Private in die Bresche springen müssen. Denn für Kevin Schmidli ist klar: «Die Sammelaktion zeigt uns, dass es viele Menschen im Kanton Luzern gibt, die mit der aktuellen Situation nicht zufrieden sind.»

Verwendete Quellen
  • Telefonat und Mailaustausch mit Kevin Schmidli vom Solinetz Luzern
  • Schriftlicher Austausch mit Silvia Bolliger von der Dienststelle Asyl- und Flüchtlingswesen Kanton Luzern
  • Website Crowdfunding
  • Antwort des Luzerner Stadtrates auf Interpellation von Maria Pilotto
  • Studie der Eidgenössischen Migrationskommission
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10 Kommentare
  • Profilfoto von estermap
    estermap, 30.04.2022, 07:59 Uhr

    Liebe Asylchefin, und woher «leitet der Kanton den Anspruch ab», dass ständig Private in die Bresche springen dürfen?

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  • Profilfoto von Koni
    Koni, 27.04.2022, 10:13 Uhr

    Klar aus welcher Ecke diese Forderungen wieder kommen

    Der fleissige Arbeitnehmer soll doch alles bezahlen

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  • Profilfoto von Hegard
    Hegard, 27.04.2022, 08:06 Uhr

    Bekommen AHV Rentner* oder arbeitende Aleinerziehende
    Schweizer Bürger
    auch ein gratis GA

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  • Profilfoto von Lucommenter
    Lucommenter, 27.04.2022, 07:24 Uhr

    Es kann nicht sein, dass es einen Gratis ÖV Bonus gibt, für Leute welche sich nicht an die Regeln halten.

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  • Profilfoto von Hans Beutler
    Hans Beutler, 27.04.2022, 01:36 Uhr

    Ich als Schweizer möchte auch Gratis-Tickets. Der Kanton Luzern macht alles richtig !

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  • Profilfoto von Eid Genosse
    Eid Genosse, 26.04.2022, 18:36 Uhr

    Leute mit negativen Asylentscheid sollten eigentlich innert Tagesfrist ausgeschafft werden und nicht noch länger auf unserer «Pelle» sitzen…… und schon gar nicht gratis ÖV fahren. Das hat nichts mit Rassismus zu tun, sondern mit konsequenter Umsetzung der Asylpolitik!

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    • Profilfoto von Ohne Fremdenhass
      Ohne Fremdenhass, 26.04.2022, 19:18 Uhr

      Zwei Drittel der Sans Papiers sind keine Asylbewerber, sondern Personen, die auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen in die Schweiz gekommen sind, häufig aus Südamerika. Sie sitzen nicht auf unserer Pelle, sondern gehen einer Erwerbstätigkeit mit einem tiefen Lohn nach, in Privathaushalten, Gastronomie, Hotellerie, Baugewerbe und Landwirtschaft. Oder anders gesagt: Sie machen für wenig Geld den Job, den Sie und ich nicht machen wollen.
      Und nein, ich finde nicht, dass der Staat abgewisenen Asylbewerbern ÖV-Tickets finanzieren soll. Was Busbillete mit würdevollem Leben zu tun haben sollen, verstehe ich nicht.

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      • Profilfoto von Eid Genosse
        Eid Genosse, 26.04.2022, 21:01 Uhr

        Es gibt genügend Gremien, welche absolut in der Lage sind, die Asylgesuche fachgerecht zu beurteilen und die richtigen Entscheide zu fällen. Ein abgelehnter Asylantrag hat seine Gründe und dann spielt es keine Rolle ob Südamerika, Afrika, Indien oder Entlebuch! Ab dem Moment, wo der abgelehnte Asylantrag rechtskräftig ist, dann haben diese Leute kein Aufenthaltsrecht mehr in der Schweiz und sollten umgehend ausgeschafft werden. Sich dann trotzdem noch hier auf die Nothilfe zu stützen, unser Gesundheitswesen kostenlos in Anspruch zu nehmen und wenn möglich sogar noch gratis ÖV zu fahren ist eine schallende Ohrfeige für alle rechtsmässigen Einwohner dieses Landes, welche sich an das System halten.

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    • Profilfoto von Gwendolin Probst
      Gwendolin Probst, 26.04.2022, 23:33 Uhr

      Genau, ich finde auch: Konsequente Umsetzung des Asylgesetzes! – Dieses Asylgesetzes, das es auch möglich macht, dass innert kürzester Frist eine gesamte Bevölkerungsgruppe pauschal einen Asylstatus bekommt. Zum Glück!
      Eine Bevölkerungsgruppe, die vor allem christlich und weiss ist; einer Bevölkerungsgruppe, „die uns halt einfach sehr nahe ist.“ (Zitat von Bundesrätin Keller-Suter und auch anderer Personen mit teilweise grossem Herz)

      Dieses Asylgesetz macht es eben auch möglich, dass es Personen aus afrikanischen und asiatischen Ländern (viele illegalisierte Personen in der Nothilfe stammen aus diesen Regionen) – weniger weisse Hautfarbe und andere Religionen – ausserordentlich schwierig gemacht wird, „sehr glaubhaft“ zu machen dass sie individuell verfolgt sind,
      obwohl sie vor ähnlich schrecklichen Situationen fliehen mussten, wie Personen/die Gruppe aus der Ukraine.

      Wenn das nicht rassistisch ist, müssten wohl viele gängige Rassismus-Definitionen umgeschrieben werden.

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  • Profilfoto von Andreas Bründler, Kriens - Bleiche
    Andreas Bründler, Kriens - Bleiche, 26.04.2022, 17:47 Uhr

    Kann ich auch ein Gratisticket haben, bitte? Warum machen wir nicht alles gratis? Ich verstehe das einfach nicht. Es sollte doch für alle alles gratis sein. Ich sollte in die Migros gehen und alles gratis bekommen. Das ist doch unsere Gesellschaft heute. Für alle alles gratis.

    Wir müssen nicht mehr arbeiten. Wir dürfen alle den ganzen Tag beim Bahnhof- und Europaplatz herumlungern, bekommen gratis das neuste Handy. Und haben unsere Bierdosen in der Hand.

    Wer bezahlts? Die «Besserverdienenden» natürlich! Da holt man das Geld.

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