Psychische Erkrankung

Trenddiagnose auf Tiktok: Plötzlich haben alle ADHS

Gitti Grüter setzt sich im Dok-Film «Sick Girls» mit dem Thema ADHS auseinander. (Bild: Gitti Grüter/«Sick Girls»)

«Hast du ADHS?»: Auf Tiktok wird man von Videos überflutet, die in Sekunden Aufschluss darüber geben sollen, ob man ADHS hat. Eine von ADHS betroffene Filmschaffende und ein Kinder- und Jugendpsychiater aus Luzern sehen darin Probleme. Aber nicht nur.

Gitti Grüter sitzt auf einem Stuhl, in einem Raum im Gebäude der Charité-Universitätsmedizin Berlin. Grüter pult an den Fingernägeln. Daneben auf dem Tisch liegt ein Handy. «Ja, hallo?», meldet sich eine Stimme über den Lautsprecher. «Hallo Mami», erwidert Grüter. Die Kamera schwenkt nach links, ein Mann im weissen Kittel stellt sich mit Dr. Betzler vor. Er ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und leitet die Spezialsprechstunde für ADHS.

Das ist auch der Grund, warum Gitti Grüter auf diesem Stuhl im Sprechstundenzimmer sitzt. Grüter will wissen, ob die Diagnose ADHS zutrifft. Mit 21 Jahren erhielt Grüter diese. Damals ging alles recht schnell: eine Sitzung bei einem Psychologen, ein Fragebogen vor Ort, dann verliess Grüter das Arztzimmer mit Medikamenten. Grüter, aufgewachsen in Ruswil, war schon als Kind verträumt, kriegte nicht mit, was die Hausaufgaben sind, reagierte gemäss eigenen Aussagen teils impulsiv und unbedacht. Damals ergab eine Abklärung jedoch, dass eher kein ADHS vorläge.

Gitti Grüter spricht in «Sick Girls» mit fünf ADHS-Betroffenen

Vier Jahre lang hat sich Grüter im Rahmen eines Dokumentarfilms mit dem Thema ADHS auseinandergesetzt. Dies während eines Masterstudiums an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf, das Grüter 2023 abgeschlossen hat.

In «Sick Girls» gibt Gitti Grüter in 79 Minuten Einblick in ein Leben mit ADHS. Grüter hat mit fünf anderen ADHS-Betroffenen gesprochen und geht unter anderem der Frage nach, wer bestimmt, was normal ist – und ob bei Grüter tatsächlich ADHS vorliegt. Nach der Premiere am DOK Leipzig, dem internationalen Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm, wird «Sick Girls» erstmals am 5. Februar um 23:55 Uhr auf ZDF ausgestrahlt.

Über ADHS

Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist eine von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) anerkannte psychische Erkrankung. Die Bandbreite der Ausprägungen der ADHS-Symptome ist gross. Ebenso wie der Leidensdruck der Betroffenen.

Mehr über ADHS liest du hier oder auch auf der Seite der Luzerner Psychiatrie. Diese bietet auch ein Beratungstelefon an.

#adhstok

Während sich Grüter in «Sick Girls» vertieft mit ADHS auseinandersetzt, findet man in sozialen Medien Videos, die nur wenige Sekunden dauern.

Wer durch Tiktok scrollt, findet unter dem Hashtag #adhstok Tausende Videos, die teilweise Millionen Mal angeklickt wurden. «Hast du ADHS?», heisst es da. Oder: «Anzeichen, dass auch du ADHS hast». Konzentrationsprobleme, Impulsivität, Chaos im Kopf und ständiges Tischtrommeln mit den Fingern: Wer die Videos ansieht, hat schnell das Gefühl, selbst ADHS zu haben.

«Modewellen bestimmter seelischer Störungen hat es schon immer gegeben.»

Oliver Bilke-Hentsch, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie bei der Luzerner Psychiatrie AG

Auch Gitti Grüter hat sich intensiv mit der Frage auseinandergesetzt: «Wo ist die Grenze zu ziehen zwischen einer ernstzunehmenden Störung und einer Person, die einfach schnell den Kopf voll hat? Die tendenziell impulsiv ist? Mit Unterbrechungen stundenlang stillsitzen oder sich mittelmässig gut konzentrieren kann?»

Grüter ist selbst ein wenig zwiegespalten über diese Videos. «Grundsätzlich finde ich es cool, dass Tikok-Nutzende psychische Erkrankungen wie ADHS thematisieren, denn das wirkt der Stigmatisierung entgegen. Zumal Menschen durch diese meist unterhaltsamen Videos erkennen: ADHS-Betroffene sind ganz normale Menschen.»

Nun kommt das aber. «Viele dieser doch kurzen Videos thematisieren Symptome, die zwar ADHS-typisch sein können, jedoch wahnsinnig viele betreffen.» So haben fast alle mal ein Chaos im Kopf, reagieren impulsiv oder vergessen, jemandem zu antworten. «Solche Tiktok-Videos können schnell den Eindruck hinterlassen, dass ADHS nicht mehr ist als ein bisschen unruhig und impulsiv gesteuert zu sein. Solche Videos verschweigen die Tatsache, dass bei ADHS tiefgründigere und einschneidende Probleme vorliegen können.»

Der Umfang, das Ausmass und die Permanenz

Anschaulich zeigen das die Gesprächsrunden der ADHS-Betroffenen in Grüters Film «Sick Girls». So sieht man sie in mehreren Sequenzen, wie sie alle gemeinsam um einen Tisch herum sitzen. Sarah, die in gefühlt jeder Einstellung eine andere Sitzposition auf einem zartgelben Sofasessel eingenommen hat, sagt: «Wenn man uns reden hört, würden sich viele wiedererkennen. Aber der Umfang und das Ausmass und die Permanenz ist vielen dann, glaube ich, nicht klar.»

Quintina ergänzt, dass sie dies zu Beginn oft extrem verletzt habe. «Aber irgendwann habe ich mich gefragt: Ist es wichtig, ob mir das jemand glaubt – oder ist es für mich wichtig, das zu wissen?»

In «Sick Girls» spricht Gitti Grüter mit fünf ADHS-Betroffenen. (Bild: Gitti Grüter/«Sick Girl»)

Das zentrale Wort lautet: Leidensdruck. Wenn beispielsweise die innere Unruhe und die Tatsache, schnell abgelenkt zu sein, so intensiv sind, dass man kein Studium oder keinen 9-to-5-Job bewältigen kann. Wenn Freundschaften zerbrechen, keine Beziehung aufrechterhalten werden kann. So spricht Grüter mit zwei Müttern, die selbst ADHS haben. Eine Mutter musste ein Kind in ein Heim geben, weil es nicht mehr gegangen sei. Auch Alkohol- und Substanzenkonsum schwingt bei vielen mit.

Bewusstsein vs. Alleine-gelassen-werden

Oliver Bilke-Hentsch ist Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie bei der Luzerner Psychiatrie AG und hat sich für zentralplus einige Videos unter dem Hashtag #adhstok zu Gemüte geführt. «Modewellen bestimmter seelischer Störungen hat es schon immer gegeben», sagt Bilke-Hentsch.

Auch er sieht in den Videos positive wie negative Aspekte. Positiv sei, dass durch die omnipräsenten Videos auf Tiktok, Instagram & Co. psychische Erkrankungen wie ADHS auf eine virtuelle Bühne gehievt würden und dass so das Bewusstsein für diese Themen geschärft würde. Negativ sei, dass Zuschauerinnen alleine gelassen werden. So führt kaum ein Tiktoker hilfreiche Links zu Websites auf, über die man mehr über ADHS erfahren könnte. Oder niemand verlinkt einen Fragebogen, der Aufschluss darüber geben kann, ob ADHS vielleicht vorliegen könnte.

«Heikel ist es insbesondere, dass in den Kurzvideos Symptome, die nur einen Teil der ganzen Problematik ausmachen, szenisch und oft etwas überspitzt dargestellt werden.» Wenn jemand mit einer schwergradigen ADHS-Erkrankung solche Videos sieht, fühlt sich dieser wohl kaum ernst genommen. Zudem werde ausser Acht gelassen, dass ADHS-Betroffene ein deutlich höheres Risiko haben, beispielsweise an Angststörungen, Zwängen oder Depressionen zu erkranken.

Oliver Bilke-Hentsch ist Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie bei der Luzerner Psychiatrie AG. (Bild: zvg)

ADHS: die Diagnose ist oftmals komplex

Die ADHS-Erkrankung ist eine komplexe neurologische Entwicklungsstörung. Der Diagnose liegt ein ganzer Kriterienkatalog zugrunde, sie benötigt oftmals viel Zeit. So würden gemäss Bilke-Hentsch Kinder und Jugendliche teils über Jahre die Luzerner Psychiatrie aufsuchen, bis sich langsam herausschäle, was für eine psychische Erkrankung wirklich vorliegen könnte.

Nur ein Fachmann könne eine professionelle Diagnose machen. «Selbstdiagnosen sind immer heikel, gerade, wenn es eine häufige Erkrankung betrifft», so Bilke-Hentsch. Man weiss aus vielen Studien, dass etwa 3 bis 6 Prozent aller Kinder und Jugendlichen unter krankhaften Störungen der Aufmerksamkeit und an motorischer Unruhe leiden. Im Kanton Luzern wären das zwischen 2000 und 4000 Jugendliche.

Bilke-Hentsch betont: Viele scheinbare ADHS-Symptome sind in einem bestimmten Mass ganz normale Verhaltensweisen. Jedoch liegt gemäss dem Kinder- und Jugendpsychiater der entscheidende Unterschied darin, dass bei ADHS-Betroffenen diese Eigenschaften in wirklich alle und nicht nur einen Lebensbereich überschwappen. Dank Medikamenten wie Methylphenidat – dem Hauptwirkstoff zum Beispiel von Ritalin – könnten ADHS-Betroffene im Rahmen einer individuell geplanten Gesamttherapie diese Probleme jedoch massiv verbessern.

Unterhalten – und empowern

Ums Einnehmen von Medikamenten geht’s auch in «Sick Girls». So sieht man in einer Szene Gitti mit Quintina, wie sie vor einem geöffneten Fenster stehen, die Lichter der Stadt vor sich, und eine Zigarette rauchen. Gitti fragt Quintina, ob sie nie Medikamente habe nehmen wollen. «Ich hab's mal probiert», erwidert diese. «Sie standen mir aber mehr im Weg, als dass es mir geholfen hat. Ich habe alles, was ich brauche, in mir. Es braucht nicht mehr. Kein Ritalin. Kein Concerta.» Diese Medikamente hätten Quintina, die heute als Musikerin und DJ unterwegs ist, eher gehemmt.

Gitti (links) und Quintina im Gespräch. (Bild: Gitti Grüter/«Sick Girl»)

Grüter will mit «Sick Girls» unterhalten. «Es soll weder ein Aufklärungsfilm über ADHS sein noch ADHS-Betroffene auf ihre Probleme reduzieren.» Viel mehr möchte Grüter aufzeigen, dass ADHS zwar komplex und auch eine einschneidende psychische Erkrankung ist, die jedoch auch ihre schönen Seiten hat. «Der Film soll zum Empowerment aller ADHS-Betroffenen beitragen.»

Hat Grüter nun wirklich ADHS – oder war die damalige Diagnose, die Grüter mit 21 Jahren bekam, etwas voreilig getroffen? Filmsequenzen später sitzt Grüter wieder im bekannten Zimmer jenes Psychiaters. «Gut, dann haben wir jetzt alle Informationen gesammelt, sodass ich Ihnen meine Schlussfolgerung sagen kann», sagt der Arzt, dessen weiteren Worte langsam verhallen.

Verwendete Quellen
  • Film «Sick Girls» von Gitti Grüter
  • Telefonat mit Gitti Grüter, Filmschaffende aus Luzern
  • Telefonat mit Oliver Bilke-Hentsch, Chefarzt Kinder- und Jugendpsychiatrie und Mitglied der Geschäftsleitung bei der Luzerner Psychiatrie
  • Verschiedene Tiktok-Videos
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