Literatur
Blog
Ein Abschied

Mit den besten Wünschen – dein Herr K

Dass Herr K für einen Brief Estnisch lernt, hätte er sich nie gedacht. (Bild: Adobe Stock)

Regelmässig schreibt Literaturbloggerin Katja Zuniga Togni in ihren Blogposts von Herrn K. Diesmal kämpft er mit der estnischen Post.

Stell dir vor, was Herrn K passiert ist! Er hat aufgegeben! Unglaublich! Dabei hatte alles so gut begonnen. Wie immer, wenn die Tage kürzer werden, wenn die kalten Winde Rentiergeruch erschnuppern lassen und auch Nichtraucher husten, dann neigt sich ein Jahr seinem Ende entgegen.

Herr K denkt an seine Freunde. An die, die er gerne hätte. An die, die er einmal hatte. An die, die in der Ferne weilen. Natürlich denkt er auch an die, die verstorben sind, aber denen schickt er kein Weihnachtsgeschenk.

In Südamerika lebt sein Brieffreund aus Schulzeiten, der Guschteli. Seine Eltern sind aus der Innerschweiz nach Missiones im argentinischen Urwald nahe der Grenze zu Brasilien ausgewandert und besitzen eine Mate-Farm mit Namen Cruz de Estrella.

Inzwischen nennt sich der Guschteli Gustavo und schickt Herrn K jedes Jahresende einen maschinengeschriebenen Bericht, illustriert mit einer Foto seiner Familie, die immer grösser und jünger wird.

Dem hat Herr K nichts entgegenzusetzen. Er hasst Zusammenfassungen jeglicher Art.

Fünf Freunde

Der zweite Schokoladenempfänger ist ein Portweinhändler aus Braga, den er auf einer Portugalreise kennengelernt hat. Obwohl er höchst selten Alkohol trinkt, wird die Begegnung mit João nachhaltig. Oder vielleicht gerade deshalb, weil er so selten Alkohol trinkt. Auf dem Douro klammerte er sich nämlich bei stürmischem Wetter an den einzigen Standfesten der Reisegruppe, die auf dem Flussboot bei stürmischem Regen Porto entgegenschaukelte, und das war eben der besagte Händler João. Seit diesem Vorfall schickt er ihm jede Weihnacht eine Schachtel Pralinen, denn Herr K kommt den Mitmenschen sonst nicht leicht nahe. Dass die Beziehung zu João etwas einseitig geblieben ist, macht ihm nichts aus.

Ein weiteres Paket schickt er Susi und Jone nach Kaunas in Litauen. Susi ist seine WG-Partnerin gewesen und die erste Freundin, die ihn nackt gesehen hat. Mit 25 heiratete sie Jone, den Architekturstudenten aus dem hohen Norden, der an der ETH ein Auslandjahr absolvierte, und zog mit ihm in seine Heimat.

Das letzte Päckli geht an Mareili, seine Lieblingsschwester, die in Tallinn bei einem halbjährigen Aufenthalt herausspüren will, ob sie die lange Dunkelheit erträgt und zur eklatanten Erkenntnis gelangt, wie sie ihr zukünftiges Leben gestalten will.

Den Rückflug aus Estland hat sie auf den 1. April gebucht.

Das Imperium der Post

Die Päckli für Gustavo und João sind bereits Ende November versandfertig und Herr K tritt gut gelaunt an den Postschalter.

«Tut mit leid, die grünen Zollformulare sind nicht mehr gültig», lächelt ihn die Beamtin freundlich an.

«Haben Sie nicht im Computer unsere neuesten Bestimmungen gelesen?»

Herr K liest sehr viel. Aber sicher nicht online und schon gar nicht Bestimmungen.

Für einen Zuschlag von sieben Franken pro Sendung zeigt sich die Dame hinter dem Schalter hilfsbereit.

«Wert der Sendung?», fragt sie geschäftig

«Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul», denkt sich Herr K ärgerlich und gibt zwanzig Franken an. Das ist nicht die ganze Wahrheit, hat er doch die Pralinen im Sonderangebot erstanden.

«A-Post oder B-Post?», lächelt ihn der Schalter an.

«B-Post reicht», meint Herr K und spart sich achtzig Franken, denn die Eilsendung eines Pakets nach Südamerika kostet 98 Franken. Auch für Portugal wählt er die billigste Versandvariante: Er kann das Päckli als Maxi-Brief aufgeben.

Das Päckli nach Litauen frankiert er zu Hause selber online, was ihn eine Stunde Arbeit kostet, bis er sich mit dem Beamtendeutsch so weit anfreundet, dass er das Formular zur Zufriedenheit des unbekannten Gegners ausfüllen kann, der aus dem Off immer wieder durch rote Markierungen auf fehlende Angaben hinweist. Seine schönen Pro-Patria-Marken kann er nicht aufkleben.

Trotzdem er seine Hausaufgaben brav gemacht und der Post eine Menge Arbeit erspart hat, kriegt er nicht etwa Rabatt, nicht einmal einen Bogen 5er-Marken erhält er als Geschenk, was äusserst praktisch wäre, da die Post Anfang Jahr aufschlägt, nein, er muss in der Schlange stehen wie jeder andere auch, bis endlich das Display mit seiner Nummer aufblinkt.

Das Imperium schlägt zurück

João meldet sich bei ihm. Sein Cousin 3. Grades, der deutschen Sprache mächtig, erklärt ihm, dass seit dem 15. Juni die neuen Posttarife in Portugal in Kraft seien. Die Schweiz als Nicht-EU-Land müsse besondere Zollformulare verwenden.

Herr K solle die «Verfolgungsnummer» der Sendung angeben und das virtuelle Kreuz rückwirkend bei Geschenk anbringen. Jetzt sei es ein Warenmuster und werde an der Grenze aufgehalten, wenn er die Angaben bis zum 18. Dezember nicht berichtige.

Natürlich besitzt Herr K keine Verfolgungsnummer. In deren Besitz wäre er nur durch einen Zuschlag von 5 Franken gekommen.

«Leider können wir nichts tun!», meint ein Schalterbeamter schadenfreudig. «Sie haben die billigere Versandvariante gewählt. Da ist eine Verfolgung der Sendung ausgeschlossen.»

Susi und June melden sich per Mail aus Kaunas. Wie es ihm so gehe, dass es sehr nett sei von ihm, ein Weihnachtspäckli zu schicken und was da drin sei. Leider seien neue Bestimmungen in Kraft. Die Post müsse genaue Angaben haben, am besten auf Englisch, Deutsch sei hier in Vergessenheit geraten.

Mithilfe genauer Angaben und «Lösegeld», auf Neudeutsch Zollgebühren für eine Geschenksendung, erhalten Susi und June die Schokolade am 10. Dezember.

Ermutigt durch diesen Erfolg gibt Herr K den Maxi-Brief nach Estland auf.

Von der Wiege bis zur Bahre

Bevor er das Formular der Post ausfüllt, überlegt er sich noch, ob er für die Hälfte des Preises die Dienste von DHL in Anspruch nehmen soll.

Als treuer Eidgenosse will er dem Gelben Riesen eine weitere Chance geben. Kreuze, Adresse, Wert, Geschenk – nach dreissig Minuten ist der virtuelle Schalterbeamte zufrieden. Herr K klebt die Etikette auf den Umschlag und steht geduldig in der Weihnachtswarteschlange, bis er endlich zum Schalter vordringen kann.

«Wollen Sie nicht A-Post verschicken?», fragt ein übermüdeter Schalterbeamter.

«Das reicht bis Weihnachten, wenn ich es normal aufgebe», verneint Herr K.

«Man weiss nie! Wir haben Covid!», verkündet der Beamte die geheimnisvolle Botschaft.

«Sollte er da nicht besser das Bett hüten?», denkt Herr K und bekräftigt:

«Ich schicke es normal!»

«Das dauert aber!», meint der Schalter, der anscheinend auf Provisionsbasis arbeitet.

Jetzt sind alle Päckli aufgegeben. In Italien kursierte lange Zeit das Sprichwort: Wer in Italien einen Brief aufgibt, gibt ihn auf. Doch Italien ist ein Musterknabe, wenn man an Estland denkt.

Hea klient!

Dass Herr K Estnisch lernt, hätte er nie gedacht.

Hea klient

 Täname Teid kirja eest! Vastame Teile kahe tööpäeva jooksul.

 Meie kodulehelt saate mugavalt ja kiirelt:

... jälgida saadetiste teekonda;

NB! Alates 1. juulist kuuluvad deklareerimisele kõik väljastpoolt Euroopa Liitu saabuvad saadetised. 

Lugupidamisega.

Sinu Omniva.

Irgendetwas muss da nach dem 1. Juli in Kraft getreten sein, was Herrn Ks Brief nach Estland betrifft.

Er nimmt Kontakt auf mit Mareili, was erst am Samstag möglich ist, denn Mareili ist nur noch einmal in der Woche für eine Stunde online. Sie wird es in der nächsten Zeit häufiger sein, was der Omniva zu verdanken ist, den Staatlichen Estnischen Postbetrieben.

«Lieber Kurtli, du musst die MNR-Nummer angeben.»

Nach wenigen Stunden Recherche im Internet findet Herr K den entscheidenden Hinweis, dass er als Privatperson nicht über eine MNR-Nummer verfügen muss und teilt das seiner Schwester per Mail mit.

Mareili schreibt ihm zurück. «Ich hab das Päckli gesehen! Es liegt auf der Hauptpost in Tallinn. Herausgeben wollte man es mir aber selbst dann nicht, als ich mit 5 Euro eine Schalterbeamtin zu bestechen versuchte. Sie brauchen von dir eine weitere Angabe.

Herr K schreibt der Omniva ein Mail und die Antwort klingelt sofort:

Dear Client 

Thank you for the letter.

Unfortunately we do not understand you. Please write to us in English.

Auch auf Englisch kommt er nicht weiter. So greift er zum Telefon und wählt mutig eine Nummer mit Vorwahl 032 – Estland!

Posti- ja kullerpaki deklareerimine

Das Rauschen in der Leitung beweist ihm, dass die Verbindung direkt durch die rauhe Ostsee geglückt ist.

Eine Automatenfrau spricht:

«Täräträtärä null Täräträtärä üks Täräträtärä kaks Täräträtärä kolm Täräträtärä neli.»

Und dann kommt wieder der Summton. Dranbleiben, einfach ruhig Blut bewahren und dranbleiben!

«Do you speak English?», spricht Herr K in den Hörer, bevor die Dame ausgeredet hat.
«Yes, I do!», antwortet sie ihm, als ob er gefragt hätte, ob sie ein Mensch mit einem Kopf sei.

In seinem besten Schulenglisch schildert Herr K die Situation.

«Bitte helfen Sie mir, damit meine Schwester zu Weihnachten zu ihrer Schokolade kommt!», appelliert er an ihr Mitleid.

«You must fill in properly every detail …»

Eine Bise aus dem Norden lässt sein linkes Ohr einfrieren.

«So you cannot help me?»

«No, I cannot help you!», lautet ihre kalte Antwort.

Sie hängt auf.

Und Herr K würde sich am liebsten auch gleich aufhängen.

Am 24. Dezember liegt eine Postkarte aus Argentinien im Briefkasten. Auf der Vorderseite ein Bild von verschneiten Palmen. Auf der Rückseite die Worte:

Lieber Amigo Kurt

Danke für die Schokolade. Ich habe sie bereits aufgegessen.

Herzlich

Dein Gustavo!

PS 1: Damit verabschiedet sich Herr K von Dir, mein lieber Leser. Nicht weil es ihn nicht mehr gibt, weil er zeitweise des Lebens überdrüssig ist. Nein, ihn gibt es schon noch. Aber den Literaturblog, den gibt es zukünftig als Teil des Kulturblogs nicht mehr. Dass er den einmal überleben würde, das hätte sich Herr K nicht gedacht.

PS 2: Willst auch ein Weihnachtspäckli von Herrn K? Schreibe an zentralplus!

Themen
Literatur
Blog
Ob Kurzgeschichten, Kolumnen, Lyrik oder Romanauszüge: In diesem Blog bieten wir Zentralschweizer Literaten eine Plattform, ihre Texte zu teilen und den aktiven Austausch zu suchen. Die Meinung von Bloggern und Gastautoren muss nicht mit jener der Redaktion übereinstimmen.
Deine Meinung ist gefragt
Deine E-Mailadresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert. Bitte beachte unsere Netiquette.
Zeichenanzahl: 0 / 1500.


0 Kommentare
    Apple Store IconGoogle Play Store Icon