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Der lange Weg von Luzern nach Zürich

Gedichte auf Umwegen

Bis obenhin voller Bücher – so sah es auch im Koffer von Franziska Greising aus. (Bild: Symbolbild: Pexels)

Drei Stunden vor einer geplanten Lyriklesung in Zürich machte sich Franziska Greising in Luzern auf den Weg. Den Anlass sollte sie jedoch nie erreichen. Stattdessen erhält sie nun alle zwei Wochen eine SMS zu ihrem Koffer mit 20 Büchern.

Die Zürcher Buchhandlung Paranoia verkauft nicht nur Bücher, nein, auch Wein. Die Beziehung zwischen den beiden, Wein und Literatur, macht Sinn, da bei manchen Dichtungen der Wein als Geburtshelfer dienen soll. Je intensiver der Rausch, desto umwerfender das Ergebnis am Schreibtisch. Mehr möchte ich dazu nicht sagen, Namen nennen schon gar nicht. Denn, um ehrlich zu sein, sind die Schnapsnasen unter den berühmten Schriftstellern am Aussterben. Ich verwende bewusst das Maskulinum, denn schreibende Frauen, die Alkohol brauchen, um überhaupt Einfälle zu haben, kenne ich wenige. Und die meisten der neuen, jüngeren Poeten sehen zum Glück in der Rotweinflasche auch nicht mehr die Beglaubigung ihrer Tiefsinnigkeit.

Dennoch: einige Weinregale in der Buchhandlung versprechen Wunder, ähnlich der Bücher, die du dort findest.

Dann kamen Corona und der Lockdown

Wir waren etwa fünf Schriftstellerinnen, die sich ungefähr alle sechs oder acht Wochen an dem magischen Ort mitten in Büchern und Weinregalen zu treffen pflegten, uns unsere neuen Gedichte vorlasen und wer mochte, durfte dazu einen Kommentar äussern. Eine schwierige und heikle Sache, finde ich. Denn wer traut es sich zu, sogleich auf etwas Vorgetragenes sinnvoll zu reagieren? Insbesondere auf Poesie. Das will geübt sein und daher blieben wir miteinander so schonungsvoll wie möglich, aber dennoch inhaltlich konkret. Wir wollten uns ja Mut machen und unterstützen. Und vielleicht ­­– weiterbringen.

Für Frühjahr 2020 hatten wir diese Lesung eigentlich geplant, von der ich berichten möchte. Dragica hatte bei Behörden und Stiftungen um Unterstützung geweibelt, die auch gesprochen wurde. Dann ging es ums Datum, doch als der Abend festlag, kamen Corona und der Lockdown. Dieses Jahr im Oktober schien endlich der Albtraum vorbei, das Vorhaben wurde real.

Obolus für wertlos gewordene Bücher

Ich packte meine Bücher für den Büchertisch in ein Rollköfferchen, legte eine kleine Liste mit den Preisen dazu und packte etwas Schreibzeug ein. Zum Schluss entnahm ich dem Büchergestell das drittletzte Exemplar meiner Lyrikausgabe von 1997, auch sie vergriffen, und legte sie ins Köfferchen. Ich wollte daraus drei Gedichte vorlesen.

Dazu legte ich etwa zwanzig Taschenbuchausgaben meines Erstlings, um sie zu verschenken.

Oder was würden Sie mit Büchern tun, die Ihr Verlag zu verschrotten gedenkt? Es sei nämlich eine andere Firma aufgetreten, um die Rechte für dieses Paperback zu erstehen, teilte man mir mit. Und diese Firma hatte vor, unter demselben Titel ein neues Buch zu drucken und gleichzeitig als E-Book ins Netz zu stellen. Ausserdem würde diese Erzählung aus dem Jahr 1983 beim neuen Verlag auf die Backlist kommen, und das bedeutet, sie würde niemals geschreddert. Eine grossartige Aussicht, einer der Träume jedes schreibenden Individuums.

Also leistete ich dem alten Verlag den Obolus, um die bedrohte Erzählung vor dem Bad in Chlor, optischen Aufhellern und halogenierten Bleichmitteln zu retten und verschenke seither hie und da ein Büchlein. Doch sollte an jenem Abend im Paranoia aus diesem Vorhaben nichts werden.

Um rechtzeitig einzutreffen, wählte ich die Verbindung nach Zürich um halb fünf. Freitagabend. Merkwürdig viele Menschen bevölkerten den Perron. Unsere Wagenkomposition traf mit grosser  Verspätung ein.

Personenschaden

Eingestiegen, verzögerte sich die Abfahrt von Luzern weiter. Eine erste Durchsage lautete, wegen technischer Probleme auf der Strecke von Zürich nach Luzern sei mit Verspätung zu rechnen. Man richtete sich darauf ein. Ich selber las und wusste, ich habe drei Stunden eingeplant bis es anfängt. Doch die Passagiere rundherum wurden immer ungeduldiger, die Zeit marschierte voran, der Feierabend schien in die Ferne gerückt, wir sassen fest, nichts tat sich. Ausser dem Mädchen schräg gegenüber. Sie biss munter in ein Schinkenbrot und ahnte nicht, dass der Duft bald das ganze Zugabteil gegen sie aufbringen würde.

Kurz vor fünf die nächste Durchsage: Ein Personenschaden auf der Strecke Zürich-Luzern. Es könne noch einige Minuten dauern bis zur Abfahrt. Entschuldigung für die Verspätung…

- Jemand ist unter den Zug gesprungen, wurde geraunt.

- Warum sagen sie nicht, wie es ist? Personenschaden! Echt!

- Ein Selbstmord, der arme Junge. Ich weiss von einer Familie, deren Sohn…

- Ich verstehe jetzt die lange Warterei. Die SBB ist am Abklären.

- Am Aufräumen.

Nächste Durchsage: Alle Reisenden nach Zürich werden gebeten, auf Gleis vier den Zug nach Basel zu besteigen. Er fuhr in vier Minuten.

Wagen und Perron entleerten sich jäh, die Reisenden hasteten und stolperten aus den Abteilen, zurück auf den Bahnsteig, hinüber zu Gleis vier und eroberten dort den wartenden Zug.

Auch ich griff nach meinem Bücherköfferchen, Mantel und Handtasche und verliess den Zug. Drüben sah ich just noch das Schlusslicht des letzten Wagens nach Basel. Mittlerweile war aber Personal der SBB eingetroffen und organisierte für uns Übriggebliebenen einen Sonderzug. Das dauerte eine gute Weile. Letztendlich aber fuhr ich nach Basel und musste in Olten umsteigen. Dort wieder dasselbe Bild.

Das Köfferchen bleibt zurück

Die Reisenden hasteten aus der Bahn, um den Anschluss nach Zürich nicht zu verpassen, auch ich. Auf der Treppe zur Unterführung jedoch wurde mir klar, dass mein Gepäck fehlte. Zurückrennend sah ich gerade noch, wie die Türen sich schlossen und der Zug mit meinem höchst eigenen Besitz Richtung Basel anrollte.

Schliesslich sass ich auf einer Bank auf Perron zwölf in Olten und wartete auf den Anschluss zurück nach Luzern. Ohne meine Bücher, ohne den drittletzten Gedichtband von 1993, aus dem ich hätte vorlesen wollen. Und ich muss zugeben, mein Herz war schwer.

Mir blieb nur noch, Dragica eine Nachricht zu senden und sie wissen zu lassen, dass ich nicht zur Lesung kommen könne. Meine Gedichte seien allein nach Basel gereist, ich wisse nicht, wann ich sie wieder zu Gesicht bekommen würde.

Zurückgekommen war mein Ziel der Bahnschalter mit dem Fundbüro. Dort bekam ich ein Formular zum Ausfüllen.

Und seither erhalte ich alle zwei Wochen die Nachricht, dass der SBB Fundservice meinen verlorenen Gegenstand nicht finden könne.

Wer könnte denn für ein Köfferchen voller Bücher Interesse haben?, frage ich mich. Darunter ein Titel in zwanzigfacher Ausführung zum Verschenken.

Eine Leseratte, ein Bücherantiquar? Oder hat in Basel jemand die Bücher in den Rhein gekippt und das Köfferchen nach Hause genommen? Vielleicht als Weihnachtsgeschenk?

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