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Angefangenes, Vergessenes, Überreste

Jahreswechsel: Alles muss raus

Wurde nach Ablauf der Ausstellung entsorgt: Installation von Katharina Grosse im Hamburger Bahnhof, Berlin. (Bild: Adrian Hürlimann)

Jahreswechsel, Zeit des Aufräumens und Abschliessens. Beenden dieser Blog-Reihe, zum Beispiel. Adrian Hürlimann sieht sich nach Überresten um.

Verwerten in letzter Minute oder dann ein Sachzwang: Was muss raus? Angefangenes, versteckte Überreste, nicht weiterverfolgte Konzepte – fort damit! Mir einen Überblick über Magaziniertes und Zugemülltes zu verschaffen, das strengt an. Abschied zu nehmen sowieso. Aber wie anders könnte ich den etappierten Stauraum leeren für Neues? Es geht mir ähnlich wie beim Zügeln. Längst Vergessenes kommt zum Vorschein und verlangt beharrlich und lästig nach Erledigung.

Einiges muss in Gottes Namen mit ins neue Jahr. Im Krimi liegen die menschlichen Überreste des Auftrags als Kadaver im Urnengrab, für überlebende Fälle übernimmt der Staat die Verantwortung und versteckt sie so lange hinter Gittern, bis die Welt für die Öffentlichkeit wieder in Ordnung ist. Die mich betreffenden Aufträge gehören ebenfalls begraben, also in den Löschordner oder hinter digitale Gitter, wo sie der endgültigen Entsorgung harren. Es gibt Ratgeber, die das Entsorgen auf breiter Ebene, also von Gütern wie Gewohnheiten, als Therapie empfehlen.

Nicht nur unangenehm

Die Sache ist also nicht zwingend nur unangenehm, sondern erquickt mitunter Seele und Geist. Von den muskulären Anstrengungen, sperrige Gegenstände wie etwa sauschwere Bücher im Ökihof abzuladen, mal abgesehen. Digitale Vorräte sind da eleganter loszuwerden. Wie dem auch sei: Nun werfe ich also mal einen Blick in so einen Ordner, der offenbar Skizzen und Bruchstücke von Geschichten enthält. Tatsächlich, da finden sich einige, die da schon sehr lange in Haft genommen zu sein scheinen und hoffen, endlich ins Licht des Bildschirms gehievt zu werden. Zum Beispiel dieser Text da:

Schlüssel-Los

Da stand er nun also vor seiner Haustüre. An der Stelle, an dem er in den Hosensack zu langen pflegte, den Schlüsselbund herauszuklauben suchte. Aber diesmal, er wusste es schon seit einiger Zeit, genauer: seit er ihre Wohnung verlassen hatte, dass er jetzt keinen Schlüsselbund würde greifen können. Weil keiner da war. Lange hatte die Grünphase nicht gedauert, bereits beim Einsteigen ins Tram hatte er plötzlich das Gefühl, seine Hosentasche sei auffallend leicht.

Die vertrauten Utensilien, bestehend aus dünnen Metallriegeln, am Kopfteil durchlöchert und zu einem Ring gebündelt, schlenkernd im Rhythmus seiner Schritte, sie waren unmissverständlich weg, nicht mehr zu spüren auf seinem Oberschenkel. Hatte er den Bund verloren, als er sich neben ihrem Bett ankleidete, die Hosen überstreifte? Oder erst danach, im Bad vielleicht? Oder hatte er ihn bereits verloren, als er sich ausgezogen hatte und mit der unbekannten Frau ins Bett gestürzt war?

Schreiten wir zur Tat!

Geschieht mir recht, wies er sich zurecht. Da steh ich nun, ich armer Tor. Vor der eigenen Tür. Vor dem eigenen Schicksal. Offenbar hatte er sich einen Übergriff geleistet, eine dreiste Überstrapazierung seines ureigenen Kodexes an Gewohnheiten und Prinzipien. Eigentlich stimmig, murmelte er grimmig vor sich hin.  Ein kleiner Verstoss gegen den eigenen courant normal, und die Strafe folgt so zuverlässig wie das Aufblitzen des Bewegungsmelders vorhin. Um diese Zeit würde er keinen Freund, keine Bekannten anrufen können. Und welche Geschichte hätte er denn auftischen sollen? Er musste die Situation selber lösen, selber in den Griff bekommen.

In der Garage sollte eigentlich allerhand Werkzeug herumliegen, erinnerte er sich, plötzlich klar bilanzierend und praktisch gestimmt. Eine Brechstange, ein Geissfuss, etwas in dieser Art wäre unter den seit Langem kaum benutzten Utensilien sicher vorhanden. Die Alarmanlage hatte er zum Glück schon vor Jahren ausser Funktion gesetzt. Vielleicht könnte ich meinen Selbsteinbruch der Versicherung sogar als Fremdwerk verkaufen und die Reparaturkosten zurückfordern, spintisierte er. Er zog den Gedanken sofort zurück: Rappenspalter, lenk jetzt nicht ab. Wohl an denn, schreiten wir halt zur Tat!

Gesellschaft und Papst verzeihen nicht

Strafe muss sein – toder doch wenigstens ein Kollateralschaden. Ein Seitensprung kommt selten allein. Die Gesellschaft, die Verhältnisse, der Papst, sie verzeihen dir so etwas nicht. Das Nadelöhr vor mir, durch dieses will nur ein rechtes Kamel – und es geht eben gar nicht, es steht davor und glotzt blöd aus der Wäsche. Der Wäsche, die er unlängst gedankenlos abgelegt hat, um seiner Lust freien Lauf zu lassen. Lass jetzt das Blödeln, grinste er. Oder willst du noch lange in der Kälte herumstehen?

Bald würde das Morgengrauen eintreten. Und der Zeitungsausträger, der würde jeden Moment auf seinen Briefkasten zukommen. Dem käme sein unmotivierter Auftritt als sein eigener Türsteher schon sehr schräg vor. Da würde er besser geistesgegenwärtig eine Zigarette anzünden, um keinen Verdacht zu erregen. Die hatte er aber nicht. Noch dümmer wäre es, wenn der Mann ihn in flagranti ertappen würde, dreist die Türe demolierend. Es gäbe einen Polizeirapport. Eine sinnlose behördliche Aktion nähme ihren Lauf. Alles würde aktenkundig. Bloss das nicht! Schwierig, so etwas spurlos aus der Welt zu schaffen.

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