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Über eine Autorin, die kaum Tabus kennt

Die Erotik der Ida Hegazi

Buch-Cover von «Trost» (Bild: zvg)

Haben Sie schon von Norwegens «zehn besten Autoren unter 35» gehört? So wissen Sie ohne Zweifel von Ida Hegazi Høyer? Sie gehörte bis vor wenigen Jahren zu jenen «besten Autoren». Sie hat schon erstaunliche fünf Romane veröffentlicht, zwei davon in deutscher Übersetzung. Die Autorin stammt aus einer dänisch-ägyptischen Familie und kam auf den Lofoten zur Welt. Heute lebt sie in Oslo.

Für ihren dritten Roman, er heisst «Unnskyld» (Entschuldigen Sie) wurde Ida Hegazi 2015 der Literaturpreis der Europäischen Union zugesprochen, ein Preis, den das Publikum bestimmt, und es war das Morgenbladet, das sie sogar in den Kreis der eingangs erwähnten besten AutorInnen erhob. «Das schwarze Paradies», ihr vorletzter Titel, figurierte 2015 viele Wochen auf den nationalen Bestenlisten.

Neben mir liegt ihr neustes Buch, «Trost». Norwegisch «Historier om trøst», wörtlich: Märchen vom Trost.  

Auf dem Umschlag ist lebensgross der unterste Drittel eines Frauengesichts in nebligen Grautönen zu sehen, halbgeöffnete Lippen, die Kuppe des linken Zeigefingers lasziv auf der Unterlippe liegend. Aus dem Mund schimmern ein paar Zähne. Drei oder vier. Das ist nicht unwichtig. Denn die leicht geöffneten Lippen verweisen auf den Unterton, der so kunstvoll wie unheimlich durch die drei Erzählungen des Werks weht.

Beinahe hätte ich «flimmert» geschrieben, aber das stimmt nicht ganz, die Erotik tritt hier als das hauptsächliche Thema auf und untermalt, schattiert und meisselt heraus, was sich die Protagonistin hinter den Worten ihres Gegenübers, bei dessen Blicken und erster Berührung denkt. Sie führt in ihrem Kopf kleine Reden, kleine Dialoge, Pros und Contras aus. Auf die Art, wie man eben denkt: staccatoartig, spontan, sprunghaft. Denken geschieht in der abgeschiedenen Kammer des Gehirns, ohne Ton, nichts dringt nach aussen, um sichtbar zu werden, alles ist erlaubt. Mit Nachdenken hat das nichts zu tun, hat weder Anfang noch Ziel, kommt nie zu einem Ende.

Kaum Tabus

Das Erstaunliche dabei: die Schreibende kennt kaum Tabus. Sie legt die Vorgänge im Hirn ihrer Protagonistinnen, die übrigens meist namenlos bleiben, so offen dar, dass ich staune. Es sind, so entdecke ich, genau die Gedanken, die ich in derselben Situation vermutlich auch hätte. Beispielsweise die Hände des Mannes, wie sie mir diese anschaulich macht. Selbst den Akt bekomme ich geschildert. Unaufgeregt, sachlich, detailliert.

Ein Beispiel: «Es ist jetzt leichter, vielleicht besser. Schwere Stösse. Gründliche Stösse, Stösse, die sich einfach zu einer lebendigen Wiederholung sychronisieren lassen. Acht, neun, zehn Mal, bevor er sich schnell zurückzieht und auf ihren Rücken kommt. Merkwürdige Stille. Genauso still wie beim letzten Mal. Und jetzt? Sie weiss nicht, was sie sagen soll, was sie fühlen soll. Vielleicht fühlt sie annähernd nichts. (…) Geht es ihr gut? Er fragt nicht danach. Er bittet sie, sich nicht zu bewegen, geht, um Papier zu holen, kommt zurück, um sie abzuwischen.»

Eine banale Szene, banal beschrieben, aber haben Sie das Knistern gehört? Das Knistern von Eis? Es handelt sich bei den drei Erzählungen, die in «Trost» versammelt sind, um mehr oder weniger alltägliche Begegnungen zwischen einer Frau und dem jeweiligen Mann oder, in der zweiten Erzählung, zwischen zwei Frauen. Von ihrer Annäherung, ihrer Einsamkeit, ihrer Lust, ihren Dramen. Auch hier entfaltet die Autorin ganz subtil aus den zufälligen Zusammenkünften zweier Fremder eine Atmosphäre lustvoller Neugier und wachsenden Begehrens. Und – klar – sie lässt es irgendwann kippen. Bei den beiden Frauen ist es eine fiebrige Erkältung, die den Anlass dazu gibt.

Der kleine Mann mit dem grossen Auto

Die Protagonistin hat eine immense Wohnung gemietet, übt einen Beruf aus, den sie liebt, über den sie jedoch nicht gern spricht, er hat mit Wörtern, mit Geschichten zu tun, vermutlich mit Märchen. Mehr lässt sie nicht verlauten, weder Leser oder Leserin noch ihre Dates erfahren Näheres. Und sie zieht von Stadt zu Stadt, mietet für kurze Zeit eine Wohnung und schreibt. Dabei lebt sie äusserst zurückgezogen, telefoniert nicht, bekommt keine Post und kennt in der Stadt, wo sie gerade lebt, keine Seele.

Aber sie geht abends aus. Sie geht in eine Bar. Allein oder mit einem schlechten Date, wie sie es nennt. Einmal ist es ein kleiner Mann mit einem grossen Auto. Und als sie mit diesem kleinen Mann zusammen ein Glas nippt und sich langweilt, entdeckt sie am andern Ende der Theke einen grossen schönen Unbekannten.

Ihr Date denkt sich nichts dabei, als sie zur Toilette geht, wo sie ihre Nummer auf einen kleinen Zettel schreibt. Auf dem Rückweg steckt sie den Papierfetzen dem Schönen unauffällig in die Hand. Als ich zu dieser Stelle kam, musste ich zurückspringen im Text und es nochmals lesen. Wie geht das? Wie steckt man einem Besucher an der Bar ein Zettelchen in die Hand, ohne dass jemand es sieht. Man muss ganz nah an ihn herantreten, denke ich, muss kurz stehenbleiben, muss aufpassen, dass der Fetzen Papier nicht zu Boden fällt. Muss seine Hand suchen und… ja, er muss ihn festhalten. Ida Hegazi verliert darüber keinen einzigen Buchstaben, denn das ist jetzt nicht wichtig. Wichtig ist, dass er sofort die erste Nachricht schreibt. Olé, liest sie und schreibt «Hallo» zurück. Während sie einander immer noch im Blick haben.

«Und damit ist ihr Raum etabliert», schreibt Ida Hegazi, «es ist unglaublich, wie wenig es dazu braucht. Wie erstaunlich wenig nötig ist, damit die Idee, miteinander in Beziehung zu treten, entstehen kann.»

Die Frau hat etwas gewagt, das sehr peinlich hätte werden können und freut sich, wie leicht es zum Klappen kommt. «Wer ist der neben dir, steht in der nächsten Mitteilung. Sie schreibt: ein schlechtes Date. Und sie lächeln einander zu, jeder von seinem Ende der Bar, es ist ganz leicht. Jeder von seinem armseligen Ausgangspunkt.»

Ich kann und will hier niemandem die ganze Story erzählen. Aber schon bald denkt die Frau, sie habe womöglich den richtigen Mann gewählt. Beim ersten Treffen eine Woche später ist auch etwas Unheimliches um diesen unwiderstehlichen Mann, er weist merkwürdige Eigenheiten auf, herrische Züge, gibt sich aber immer zuvorkommend und aufmerksam, ein gepflegter und intelligenter Gesprächspartner. Sein Zuhause sehr geschmackvoll, alles weiss, in pedantischer Sauberkeit. Er erzählt von seiner Lieblingsschriftstellerin, die lauter Mördergeschichten schreibe, er zählt schaurige Details auf, während die Urheberin dieser Geschichten ungenannt bleibt, sich später in keinem Nachschlagewerk finden lässt, als wollte der Mann mit seinen Schilderungen auf was Anderes hindeuten.

Ich gestehe, dass ich mir beim Lesen allmählich Sorgen um die Frau gemacht habe, sie scheint nicht zu sehen, dass er sich freundlich, aber bestimmt anschickt, sie mit Haut und Haar zu unterjochen. Ida Hegazis Kunst besteht darin, uns dies spüren zu lassen, während ihre junge Romanfigur die Zweifel wegschiebt und sich ihrem herrlichen Liebhaber von Date zu Date hingerissener ausliefert.

Bis zu der Szene im Bett, wo er unerwartet ein Seil präsentiert, und – am unbegreiflichsten – ein Video laufen lässt beim Sex, das sie beide in der Dusche zeigt, Blut über ihr Bein hinunterläuft und andere unheimliche Dinge geschehen, an die die Frau sich nicht erinnern kann. Auf den Schlusszeilen dann flüstert er, ganz nah an ihrem Gesicht, und seins ist nass, auch seine Lippen sind nass: «Das geht vorbei. Lass zu, dass ich mich um dich kümmere.»
Was geschieht da, was ist geschehen? Hat sie k.o.-Tropfen gekriegt?

Ich kann dir ein Kind geben

Schön hingegen die Begegnung mit dem viel jüngeren Mann mit bemerkenswert glatter Haut. Es ist eine andere Stadt, vermutlich aber dieselbe Protagonistin. Denn auch sie schreibt und verrät aber nichts darüber. Sie begegnen einander eines Abends in der nahen Kneipe. Nach ein paar Stunden verabschieden sie sich vor ihrem Haus, er möchte hochkommen, sie sagt nein, und es bleibt dabei. Sie möchte allein sein, möchte nicht neben einem Fremden aufwachen.

Irgendwann kommt diese Szene, wo sie flüstert, er dürfe nicht in ihr kommen. «Weil ich meinen Eisprung habe.» Aber sie kennt dieses Wort nicht in seiner Sprache, und er glaubt, sie fürchte, er sei krank. «Ich kann schwanger werden.» Er strahlt: «Chérie, ich kann dir ein Kind geben.» Sie erwägen es beide. Jeder für sich. Später der Absatz, in dem Ida Hegazis Sprache sich leicht und schön zu höchster Klarheit aufschwingt: «Er hat eine Hand auf ihre Wange gelegt. Es ist nicht leicht, einen Liebhaber darum zu bitten, seine Hand zu entfernen.»

Doch unvermeidlich kommt das Ende. Sie hatte nicht vorgehabt, mehr zu fühlen als nötig, und auf keine Weise wünschte sie, die Anwesenheit oder Abwesenheit eines anderen über ihre Laune bestimmen zu lassen. Sie wird ohnehin bald abreisen, redet sie sich ein, Gefühle wären verschwendet.

«Die Fremde, sie mag diese Rolle. Nicht wiedererkannt zu werden. Mit niemandem reden zu müssen. Vor Ort sein, aber gleichzeitig auch nicht.» Als er anruft, um zu sagen, dass er es nicht schaffen wird, sie abends zu treffen, betrübt es sie trotzdem mehr, als sie will. «Völlig in Ordnung, sagt sie so überzeugend wie möglich. Dann kommt eine weitere Nachricht. Du hörst von mir. Und wenn du abreist, bevor ich zurück bin, sehen wir uns trotzdem. Bis zum Sommer.»

Bis zum Sommer? Was glaubt er denn, denkt sie.

Die zwei Frauen

Ich darf die mittlere Geschichte, jene der zwei Frauen, hier nicht auslassen. Sie ist ein Triumph der Zärtlichkeit. Die eine, Tiger, ist mittellos. Die beiden Frauen ziehen daher zusammen. Aber, das ahnt die Leserin, der Leser, Zärtlichkeit ist auf die Dauer nicht genug. Durch die Bettlägerigkeit und das Fieber Tigers, sieht sie die Geliebte in einem neuen Licht. Sie beginnt, Liebe zu mimen, denn auch wenn es zwischen ihnen beiden mal wieder schön innig ist, nicht immer ganz zart, das schon, missfällt ihr mehr und mehr die Mutterrolle, in die die andere verfällt. Zudem kann sie das viele Reden nicht mehr ertragen, die beständige Schau nach innen. Und irgendwann fängt zwischen den beiden das Ringen um Übermacht an. Wie lange kann das noch gehen?

«Erträgst du mich jetzt», so sagt Tiger in der letzten Szene, wo Nähe und Geruch für die Freundin kaum zum Aushalten sind, «erträgst du mich immer.»

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