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Christine Weber

Der Fleischer von Safi

«Das Verbotene, die Heimlichtuerei geben mir einen Kick. Hier, wo Homosexualität streng verboten ist und jeder Schwule von der Polizei gelistet wird.» (Christine Weber)

Unscheinbar steht das Hotel am Ende der Flaniermeile von Marrakesch, heruntergekommen und vergessen von der Welt. Das Schild mit dem grün aufgemalten Namen baumelt über einem Fenster, der letzte Buchstabe fehlt. Über ein paar Treppenstufen erreicht man die Eingangshalle, grosszügig und mit einem Flair von vergangenem Reichtum…

Die hohen Decken und Wände sind mit weissen Holzschnitzereien verziert, wie es hier lange zur Tradition in guten Häusern gehörte. Hinter der mächtigen Rezeption führt ein breiter Treppenaufgang in den ersten Stock, in verbotenes Land auf langen Fluren, mit geschlossenen Türen und es wird nicht einmal gemunkelt, was dahinter passieren mag. Damit ist aufgezählt, was von besseren Zeiten geblieben ist, alles andere ist die personifizierte Trostlosigkeit: Von der Decke baumeln nackte Glühbirnen an langen Kabeln, die vom Rauch gelb geworden sind. In der Halle verteilt, stehen wie zufällig hingeworfene Sessel; schmuddelig und so weich, dass darin versinkt, wer sich mal setzt. Davor niedrige, runde Tischchen mit Glasplatten, die wie der Rest des Hotels seit Jahrzehnten nicht geputzt worden zu sein scheinen, höchsten abgewischt mit einem dreckigen Lappen, der seine Schmierspuren seit Ewigkeiten hinterlässt. Ein paar Gestalten sitzen verdrückt in den Fauteuils, im Schummerlicht mit den schwarzen oder senfgelben Polstern verschmelzend. Dazwischen schlurft der alte Kellner herum. Grünes Gilet, beige Hosen und im Gesicht die Falten eines mühseligen Lebens. Sein Lächeln verschenkt er selten und nie an erstmalige Gäste. Im Hotel Tazi sitzt, wer Bier trinkt und ich bin ein Stammgast.

Sieben Nachrichten. Sieben Schwule im Umkreis von drei Kilometern. So sagt es mein App.

Gerade strecke ich die Hand nach dem Bier aus, als unter meinem Hemd in der linken Brusttasche das I-Phone pocht. Zum siebten Mal. Ich greife mir das Bier, lehne mich im Fauteuil zurück, schliesse die Augen. Sieben kurze Inputs vibrierten in der letzten halben Stunde leicht an meiner Brust. Sieben Nachrichten. Sieben Schwule im Umkreis von drei Kilometern. So sagt es mein App. Gut. Zufrieden strecke ich die Beine und nippe am Bier. Ich warte absichtlich, zögere den Blick auf das Display hinaus. Alter, Vorlieben, Grösse und Gewicht, sogar die Penislänge wird da angegeben und bald, bald werde ich mehr wissen. Wenn ich die Profile lese, will ich alleine sein und nicht abgelenkt oder sogar ertappt durch die anderen Gäste, von denen mir der eine oder andere eh schon neugierige – oder eindringliche, aufdringliche? – Blicke zuwirft. Möglich, dass ich hier in diesem Sündenpfuhl zu viel in die Mimik der Männer hinein interpretiere. Dass ich mir die homoerotische Atmosphäre nur einbilde in der Lobby dieses seltsamen Hotels, der Umgebung, der Stadt ganz allgemein. Geheimnisse und kaum wahrnehmbare Anspielungen. Das Verbotene, die Heimlichtuerei geben mir einen Kick. Hier, wo Homosexualität streng verboten ist und jeder Schwule von der Polizei gelistet wird. Festgehalten in einer Kartei und unter strenger Beobachtung. Auch virtuelle Kommunikationen auf einschlägigen Kanälen werden verfolgt. Also auch jene auf meinem I-Phone, das jetzt an meinem Herz klopft und auf dem mir sieben Männer ihre Penislängen und sexuellen Vorlieben mitgeteilt haben. Der Gedanke bringt mich zum Lachen; aber so ist es. Das hat mir der erste Marokkaner erzählt, mit dem ich ein Date hatte und er fand das völlig in Ordnung. So sei es sicherer, denn viele Männer in diesen Foren gäben sich nur schwul, dabei seien sie kriminell und wollten Ausländer abzocken. So wie jener, der vor kurzem einen französischen Restaurantbesitzer erschlagen habe – profitiert von der Heimlichtuerei der Szene, die nur im Versteckten stattfinden darf. Dank dieser Liste habe die Polizei innert eines Tages herausgefunden, wer mit dem Franzosen das tödliche Date hatte und der Täter sei gefasst worden. Zu spät zwar, aber immerhin.

Mir persönlich ist es egal, wenn ich auf dieser Liste bin. In ein paar Wochen bin ich wieder in Europa und weg vom moralischen Radar. Der erwähnte Marokkaner trifft sich nur mit Touristen, schon nur ein Date oder One-Night-Stand mit einem Einheimischen sei zu riskant: Es könnte ein Trick sein oder jemand Bekanntes davon erfahren und dann wäre er auf Lebenszeit geächtet. Vom Freundeskreis und der Familie erst recht, die schon alles für seine Hochzeit und eine ganze Schar Kinder vorbereite. Getroffen haben wir uns an einer stark befahrenen Strassenecke vor dem Rotlicht in seinem Auto; getönte Scheiben, schnelles Einsteigen. Wir fuhren in der Stadt herum und fummelten ein bisschen aneinander herum. Mehr ist nicht daraus geworden, da wir aus den erwähnten Gründen nicht zu ihm fahren konnten und es mir zu wenig wichtig war, extra ein Apartment zu mieten. Natürlich stelle ich mir diese ständige Heimlichtuerei mühsam vor. Aber wie gesagt: Es gibt auch einen Kick und solange die Schwulen in Marokko die gesellschaftliche, also die heterosexuelle Norm einhalten, werden beide Augen zugedrückt. Für die meisten jungen Männer gibt es zudem gar keine andere Möglichkeit ihre Sexualität zu entdecken und auszuleben – voreheliche Erfahrungen mit Frauen sind in Marokko ausgeschlossen. Möglich, das wir Ausländer davon profitieren, auch ich.

Erneutes Vibrieren, ein weiteres Profil ist eingetroffen. Der kleine Stromstoss verursacht Herzklopfen. Jetzt will ich es wissen, ich rufe den Kellner und hieve mich aus dem Fauteuil. Bezahle mit ein paar Münzen und verlasse das Hotel Tazi, eine Hand am Phone. Mit der anderen winke ich eines der zahllosen Taxis heran, steige ein und lasse mich zu meinem Gästehaus kutschieren; diesmal feilsche ich nicht mal um den Preis. Mit dem eisernen Griff schlage ich heftig an die mächtige Eingangstür aus Holz – warum zum Teufel habe ich noch immer keinen eigenen Schlüssel? Ungeduldig warte ich, dass die Zugehfrau öffnet. Ich höre, wie sie heranschlurft, schaue extra durch den Spion und ziehe eine Grimasse, endlich dreht sich der Schlüssel und sie macht auf. Da steht sie vor mir in dem immer gleichen Hausdress aus einer Art Plüsch, das Haar mit einem Kopftuch verdeckt und eine Hand vor den Lippen, um die riesige Fieberblase zu kaschieren, die dort wuchert und immer grösser wird in ihrem bleichen Gesicht. «Shukran», danke, sage ich und will schnell an ihr vorbei schlüpfen, aber sie zupft mich am Ärmel, will mir eine Tasse Tee servieren. «Nicht jetzt», sage ich und gehe nach oben in mein Zimmer. Ich werfe mich aufs Bett, mache es mir zuerst so richtig gemütlich und dann erst ziehe ich das Phone aus der Hemdtasche und versinke in der Betrachtung der Messages. Die nächsten Stunden verbringe ich damit, mich im Chat mit den Schwulen zu unterhalten, die mich treffen möchten. Profil sieben gefällt mir am besten. Einige Messages hin und her, wir machen ein Date aus für den nächsten Tag.

Wir treffen uns in einem Café beim Hauptplatz. Er kommt aus der kleinen Hafenstadt Safi, weit weg von Marrakesch und fürchtet sich hier vor nichts. Muschee heisst er, jung und hübsch. Wenn er Arabisch spricht, bekommt er einen harten Ausdruck und wirkt grob – das habe ich schon bei anderen Arabern festgestellt, ich lebte jahrelang in Israel. Wir unterhalten uns auf Englisch, dann wird Muschees Sprache weich und sinnlich. Nach kurzer Diskussion, was wir mit diesem sonnigen Tag anfangen sollen, nehmen wir ein Taxi und machen einen Ausflug ins Ourika-Tal, zu einem kleinen Dorf an einem Flüsschen. Dort setzen wir uns in die Sofas, die von den Restaurants dem Fluss entlang aufgestellt sind und schauen ins Land. Muschee singt laut die Songs von Justin Bieber und Beyoncé mit, die er auf seinem iPhone hört. Eine schreckliche Angewohnheit, von der er auch auf der Rückfahrt nicht ablässt und die mich fast zum Wahnsinn treibt. Dazwischen erzählt er von sich, seiner Familie, seinem Beruf. Er ist Fleischer und hat einen grossen Schwanz. Erstmals bekomme ich ihn im Hammam zu Gesicht, wo Muschee mit mir am gleichen Abend hingeht; ein spezieller Hammam. Mit dabei ist auch ein Kumpel von ihm. Die beiden massieren mich, während sich ein älterer Typ ein paar Meter nebenan einen runterholt. Nichts Neues, so läuft das in der Schwulenszene und mich stört es nicht.

Nur einmal packte mich das Grauen, das war in einer einschlägig bekannten Sauna in Russland; im Urlaub bin ich da mal hin. Ich schaute mich in den Räumen um, sie waren menschenleer. Ein langer Korridor führte zu einer unscheinbaren Tür, es hätte der Heizraum sein können. Ich blieb davor stehen und drückte vorsichtig die Klinke, um sie einen Spalt zu öffnen. Im gleichen Moment, wurde sie von innen aufgerissen, ich wurde von Händen gepackt, hinein gezerrt. Krachend fiel die Tür hinter mir ins Schloss. Der Raum war klein, stickig und stockdunkel. Ich wurde zu Boden geworfen und auf die glitschigen Kacheln gepresst. Wie ausgehungerte Tiere fielen die Männer über mich her; überall waren wortwörtlich Glieder – Schwänze – an meinem Rücken, im Arsch, auf dem Gesicht, im Mund, den Augen, den Haaren. Ich konnte im Gerangel und im Dunkeln nichts sehen, fühlte jedoch, dass es alte Männer sein mussten. Greise mit faltigen Gliedern und runzliger Haut, die kalt und bleich an ihren ausgemergelten Körpern schlottern. Fleischlappen, die mich streiften, sich um und auf mich legten, mich zudeckten und zu ersticken drohten. Greise, die verzweifelt über junges Fleisch herfallen. Ihre schwindenden Säfte und Kräfte auswringend, als sei es das letzte Mal im Leben. Kein Wort war zu hören, nur hin und wieder ein rasselndes Keuchen, ein unterdrücktes Stöhnen wie das Bellen eines Esels in der Wüstennacht. Vergebliche Versuche, mich auf Ellenbogen und Knie zu stützen und aufzurichten; ich rutschte aus in schmierigen Samenpfützen und mir war schlecht, während zähe Fäden an mir kleben blieben, sich kleine Rinnsale auf meiner Haut bildeten, die langsam den Lendenwirbeln entlang zu Boden tropften. Ich brauchte meine ganze Kraft, um mich aus den Körperklüngeln von Armen, Beinen und Schwänzen zu winden, die Alten Luft schnappend von mir zu stossen und mich auf allen Vieren kriechend der Wand entlang voranzutasten, in der Hoffnung, im Dunkeln den Ausgang zu finden. Noch einmal griff eine Hand nach mir, klammerten sich knochige Finger um mein Fussgelenk, tropfte ein erkalteter Samenstrahl auf meine Achillessehne und endlich unter meinen suchenden Fingern der Türrahmen, der Griff unendlich weit oben. Gerettet. Ich quetschte mich durch den Spalt hinaus, wieder fällt die Tür hinter mir zu und ich stand alleine im leeren Korridor.

Muschee aber, mein Fleischer aus der Hafenstadt Safi, ist ein junger Kerl mit schönem und starkem Körper. Ich stelle mir vor, wie er sich bei seiner Arbeit als Fleischer anstellt und bin fasziniert und abgestossen in einem. Ich sehe ihn vor mir, mit einem mächtigen Messer, wie er sich über ein Stück Fleisch beugt und es geschickt unter seinen Händen zerteilt. Oder vielleicht doch eher ein scharfes Beil, mit dem er auf die Knochen hackt – denn hier in Marokko ist das Fleisch ja noch richtig sichtbar und nicht ein sorgfältig zugeschnittenes, von jeglichen Fasern und Fetzen befreites Stücklein, das sauber abgepackt und mundgerecht vorbereitet danach ruft, in der Pfanne zartrosa gebraten zu werden. Hier ist Fleisch das, was es ist: Ein totes Tier. Rot, blutig, saftig. Mit zähen Muskelstreifen und harten Knochen und Knorpeln durchzogen. In den Städten gibt es immer eine eigene Gasse für das Fleischergeschäft. Es sind kleine Buden unter abgerundeten Arkaden. Die Fleischer sitzen oder stehen hinter einem offenen Schaufenster, von Fliegen umschwirrt und verkaufen ihre Ware. Gut sichtbar vor den Buden hängen ganze Kadaver von Kühen, Hühnern, Rindern und Schafen an eisernen Haken. Nur die Köpfe sind abgeschnitten und auf einem Tisch daneben separat aufgeschichtet, alles andere ist noch dran. Sogar Penis und Hodensack hängen aus dem Rumpf heraus, sorgfältig aus einer Fleischfalte herausgezogen und gut sichtbar für die Käufer inszeniert.

Bei unserem nächsten Treffen suchen Muschee und ich nach einem Zimmer, das ist kein einfaches Unterfangen: In Marokko wird nicht an ein europäisch-arabisches Paar vermietet, schon gar nicht an zwei Männer. Fündig werden wir in Essauoira, dort wo sich die Touristen in den Souks auf den Füssen herumstehen und sich ein Hotel ans nächste reiht. Wir jedoch landen am Stadtrand auf der anderen Seite der Mauer; im Armenviertel bei einer Frau, die uns zu horrendem Preis ein heruntergekommenes Zimmer zur Verfügung stellt und nicht weiter fragt. Den Wänden entlang zieht sich eines dieser tiefen Sitzkissen-Sofas, das mehr als zwanzig Leuten Platz bieten würde, obschon sich garantiert nie mehr als zwei Personen in diesem Raum aufhalten. Aber man weiss ja nie, vielleicht kommt schon morgen der König zu Besuch – Platz würde er auf dem monströsen Ding mitsamt Parlament und Harem finden. Dafür hat das schmale Bett kaum Platz, das in einer abgetrennten Nische steht, gleich neben dem Klo und der kaputten Waschschüssel. Unter dem Wasserhahn steht ein Plastikeimer, in den es mit nerv tötender Unregelmässigkeit aus der defekten Leitung tropft. Ich wasche mir die Hände, werfe einen prüfenden Blick in den halbblinden Spiegel und sehe einen hochgewachsenen, schlanken Typ in mittlerem Alter. Kurzgeschnittenes Haar, braune Augen und einen leicht spöttischen Zug um den Mund. Alles in allem durchschnittlich und ganz sympathisch. Ausgezeichnet vor allem dadurch, dass es ein Europäer ist, der hier in einem marokkanischen Armenviertel einen Blick in den blinden Spiegel wirft, bevor er zu seinem muskulösen und blutjungen Fleischer ins Bett steigt und die ganze Nacht vögeln wird, dass sich die Balken biegen, respektive die Federn des durchgehangenen Bettgestells quietschen.

Ich löse mich aus der verschwitzten Umarmung von Muschee. In der letzten halben Stunde habe ich sieben Kakerlaken erschlagen, die sich zwischen unseren Körpern in den schmuddeligen Bettlaken vergnügen und brauche eine Pause. Ich zünde mir eine Zigarette an und stelle mich ans offene Fenster. Direkt unter mir hängt eine schlecht verschraubte Satellitenschüssel, verrostet und mit gelben Flecken bedeckt wie ein altes Pissoir. Die Fassaden der Nachbarhäuser sind rissig, unzählige Airconditions strecken ihre rückseitigen Gehäuse wie bleiche Hintern aus den Wänden und schnurren unablässig. Die schmalen, mit Ziegeln bedeckten Vordächer sind von den Seemöwen zugekackt, die tagsüber ihre Kreise ziehen und jetzt irgendwo schlafen. Offene Leitungen und Kabel ziehen sich in wirren Strängen durch die Gasse, notdürftig festgemacht an Haken, mal durchhängend und dann wieder zu dicken Bündeln geschnürt. Kein Wunder, flackert weit und breit nur das Licht einer einzigen Strassenlaterne. Unten auf der löchrigen Strasse stehen drei Typen vor einem metallenen Eingangstor zu einem Laden und dealen mit Kif, Haschisch oder Opium. Die Kapuzen tief ins Gesicht gezogen, stecken sie die Köpfe zusammen und tuscheln, die Ware wechselt die Hand und sie verschwinden lautlos jeder in eine andere Richtung. Ein Alter in brauner Djellaba kurvt auf einem klapprigen Fahrrad um die Ecke und hustet. Eine bis auf die Knochen abgemagerte Katze huscht über die Strasse, der Wind fegt Papierfetzen vor sich hin. Die Neonreklame des Hotels gegenüber hängt schief und blinkt müde, aus einem offenen Fenster dröhnt ein Schlager. Es stinkt nach Fett und Knoblauch und über allem erhebt sich von Ferne ein Minarett wie Gottes Finger bolzengerade in den Himmel. Ich drücke den Zigarettenstummel aus, gehe zurück ins Bett und mache mich über meinen Fleischer her.

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