Zentralschweizer Selbsthilfegruppe gestartet

So wollen Handysüchtige vom Bildschirm loskommen

Nach amerikanischem Vorbild sitzen die Anwesenden in einem Kreis. (Bild: mko)

Digitalsüchtige haben sich am Dienstag in Luzern zum ersten Mal in einer Selbsthilfegruppe getroffen. Dabei gaben sie sich Ratschläge, wie sie ihre Sucht in den Griff kriegen können. Ein Augenschein vor Ort.

«Overscrolling? DAA hilft», wirbt ein Plakat nahe dem Eingang der Hochschule Luzern (HSLU). DAA, kurz für «Digital Addict Anonymous», ist die erste physisch stattfindende Selbsthilfegruppe in der Schweiz, die sich dem bewussten Umgang mit digitalem Konsum widmet. Die Hilfe für anonyme Digitalsüchtige wurde von der HSLU-Studentin Sofiia Kaminska ins Leben gerufen, die derzeit den Masterstudiengang Digital Ideation absolviert, also eine Kombination aus Design und Informatik. «Ich befinde mich quasi im Epizentrum des digitalen Konsums», erzählt Kaminska mit einem Schmunzeln im Gesicht. Sie selbst nutzt soziale Medien seit ihrem zwölften Lebensjahr und suchte lange selbst nach guten Unterstützungsprogrammen. Dabei musste sie feststellen, dass es nur wenige Angebote gibt.

«Das ist schade, denn besonders junge Menschen leiden oft unter der digitalen Dauerbeschallung», erklärt Kaminska und führt weiter aus: «Das Erste, was die meisten von uns am Morgen berühren und sehen, ist ein Smartphone. Dabei werden wir von Informationen meist überrollt, anstatt sie aktiv zu suchen. Das Frühstück wird vom Scrollen begleitet und auf dem Arbeitsweg wird ebenfalls gescrollt. Und so geht es für viele nach der Arbeit weiter. Für die meisten von uns ist es wichtig zu verstehen, dass es in unserer Hand liegt, die Kontrolle über unsere digitale Umgebung zurückzugewinnen und an unseren Gewohnheiten zu arbeiten.»

«Hallo, ich bin digitalsüchtig»

Gesagt, getan: Über ein Jahr lang recherchierte Kaminska, besuchte Treffen, interviewte Experten und las Studien. Inspiriert von den anonymen Alkoholikern und den anonymen Sexsüchtigen folgt DAA einem ähnlichen Prinzip: Menschen treffen sich in einem sicheren Raum, um offen über ihre Abhängigkeiten zu sprechen und Unterstützung ohne Verurteilung zu finden.

Im dritten Stock der Kunsthochschule haben sich am vergangenen Dienstagabend rund 15 Personen eingefunden. Obwohl das Treffen für alle zugänglich ist, sind vor allem Vertreter der Generation Z und Millennials vertreten. Vor Beginn des Treffens wird geplaudert, es gibt Kleinigkeiten zu essen und Getränke. Die Stühle stehen in der Mitte des Raumes im Kreis, ganz nach dem Vorbild amerikanischer Selbsthilfegruppen.

Sofiia Kaminska studiert im zweiten Jahr Digital Ideation an der Hochschule Luzern. (Bild: zvg)

Kurz darauf beginnt das Treffen offiziell: «Hallo zusammen, ich bin Sofiia, selbst digitalsüchtig, und freue mich, euch hier begrüssen zu dürfen.» Ein etwas holpriges «Hallo Sofiia» folgt und die Gruppe lacht. Kaminska wirkt sichtbar entspannter und fährt fort: «Unser Ziel ist es, heute offen über unseren Umgang mit der digitalen Welt zu sprechen.» Wer möchte, kann sich mit Vornamen vorstellen und erzählen, warum sie oder er heute hier ist.

«Manchmal fühlt sich das Handy wie ein Ziegelstein in der Hose an, der uns nach unten zieht.»

Teilnehmer

Nach etwa zehn Sekunden wagt sich eine Frau Anfang dreissig vor: «Hallo, ich bin Svenja (Name geändert) und auch ich bin digitalsüchtig.» Sie erzählt von ihren Erfahrungen und Ängsten in Bezug auf die digitale Welt. Sie arbeitete in der Modeindustrie, in der oft Druck besteht, die eigenen Arbeiten online zu veröffentlichen. Aufgrund dieses Drucks hat sie sich beruflich neu orientiert, und das möchte sie nun auch in Bezug auf digitale Medien tun.

Kaum ist das Eis gebrochen, folgen unzählige weitere Wortmeldungen. Eine Studentin des Studiengangs Design Management, die zusammen mit ihrem Freund gekommen ist, berichtet, wie sie durch endloses Scrollen die Verbindung zu sich selbst verliert. «Das kenne ich nur zu gut», erwidert ein Mann. «Wie absurd ist es, dass das Handy ein allgegenwärtiger Teil unseres Alltags geworden ist und wir ihm kaum entkommen können? Manchmal fühlt es sich wie ein Ziegelstein in der Hose an, der uns nach unten zieht.»

Am Treffen der anonymen Digitalsüchtigen in Luzern. (Bild: mko)

Ab und zu lenkt Sofiia Kaminska die Unterhaltung mit Fragen in eine neue Richtung, doch überwiegend sprechen die Teilnehmer selbst. Zentrale Themen sind Vergleiche und Einsamkeit, aber auch verkürzte Aufmerksamkeitsspannen oder Schlafprobleme.

Kein «Digital Detox», sondern gesunder Umgang

Während der Pause sollen die Anwesenden überlegen, welche digitalen Gewohnheiten ihnen guttun, welche mittelmässig sind und welche ihnen schaden. «Allgemein geht es nicht darum, vollständig auf digitale Medien zu verzichten», erklärt Kaminska bei der Wiederaufnahme des Gesprächs. Das sei auch einer der Gründe, warum «Digital Detox» oft nicht funktioniere.

«Digitalität ist Teil unserer Welt und es ist schwer, sich ihr ganz zu entziehen. Wie bei einer ausgewogenen Ernährung können wir mit Tricks und Austausch den richtigen Umgang finden», sagt Sofiia Kaminska. Aus diesem Grund verfolgt der Ansatz der anonymen Digitalsüchtigen eher das Modell der «Digital-Food-Addicts» als das der anonymen Alkoholiker. Man kann ja nicht komplett auf Essen verzichten, aber durchaus gute Rezepte für den richtigen Umgang damit entwickeln.

Wie der bewusste Umgang mit digitalen Medien schlussendlich genau aussehen soll und welche Methoden am besten helfen, hat jeder für sich selbst herauszufinden, so das Credo von DAA. Doch die zukünftigen Treffen sollen einem auf diesem Weg unterstützen. «Das Ziel ist es nicht, dass wir alles sofort ändern. Setzt euch kleine Ziele», ermutigt Kaminska. Wer dann möchte, könne nun ein persönliches Ziel formulieren und dafür einen Motivations-Chip erhalten. Die Nachfrage ist gross, sofort erheben sich mehrere Hände.

Ein Motivations-Chip für die Teilnehmerinnen. (Bild: mko)

«Ich möchte mir einen physischen Wecker kaufen, damit ich morgens nicht gleich das Handy benutze», schlägt eine Frau mit grosser Brille und farbigem Pullover vor. Ein Mann möchte fortan nur noch physische Nachrichten konsumieren. «Bist du sicher?», fragt eine Teilnehmerin. «Das schaffst du doch niemals. Kauf doch einfach mal für den Anfang eine Zeitung am Kiosk und lies sie wirklich.» Alle lachen und der Mann stimmt dem Vorschlag zu. So werden Schritt für Schritt Tipps ausgetauscht und Ziele gesetzt, ehe das Treffen nach rund zwei Stunden allmählich zu Ende geht.  

Bist du auch ein DAA?

Sofiia Kaminska selbst scheint mit dem Ergebnis des ersten Treffens zufrieden zu sein. «Ja, am Anfang waren die Personen etwas scheu, aber die Menschen haben sich geöffnet und ihre Erfahrungen geteilt. Darum geht es, oder?» Das nächste Treffen ist bereits geplant und findet in einem Monat statt, weiterhin offen für alle.

Da beim ersten Treffen viele internationale Studenten der Hochschule Luzern teilnahmen, wurde die Veranstaltung auf Englisch abgehalten. Doch auch Treffen auf Deutsch könnten bald Realität werden. Denn auf Grundlage der ersten Erfahrungen wird das Konzept nun verschriftlicht, damit es auch von anderen Personen in der ganzen Schweiz umgesetzt werden kann. Im Paket enthalten sind neben Studien und Informationen zum Konsum auch Tipps sowie ein Fragebogen, der dazu anregen soll, seinen digitalen Konsum zu reflektieren:

«Digitalität ist überall, und die Nachfrage scheint da zu sein», erklärt Sofiia Kaminska. Ihr Ziel ist es, nach diesem Modell Anlaufstellen für anonyme Digitalsüchtige in der ganzen Schweiz zu schaffen. DAA soll dabei nur ein Teil eines grösseren Projekts namens «Option Control» sein, das den Umgang mit dem digitalen Raum auf verschiedene Weise unterstützen möchte. Doch auch hier gilt: Grosse Ziele, aber kleine Schritte.

Hinweis: Interessierte können sich hier für das nächste Treffen anmelden.

Verwendete Quellen
  • Besuch beim Treffen der anonymen Digitalsüchtigen Zentralschweiz
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