Luzerner Ethikprofessor erklärt es

Darum solltest du die WM in Katar boykottieren

Peter G. Kirchschläger, Ethikprofessor an der Universität Luzern, findet es wichtig und richtig, die WM zu boykottieren. (Bild: jal)

Schauen oder nicht schauen, das ist hier die Frage: Viele Fussballfans sind unsicher, ob sie die WM ab Sonntag verfolgen sollen oder nicht. Wir haben Peter G. Kirchschläger um Rat gefragt. Für den Ethikprofessor der Universität Luzern ist die Antwort klar.

Unbekümmerter Fussballspass vs. Todesfälle. Bier und Grill vs. Hass gegen Andersdenkende. Kaum je hat eine Weltmeisterschaft eine so kontroverse Debatte und innerliche Konflikte ausgelöst wie die WM in Katar, die am Sonntag startet.

Glück hat, wer sich für Fussball nicht interessiert. Aber es gibt auch im zentralplus-Team echte Fussballfans. Und diese müssen (oder mussten) entscheiden: Kann ich mit einem guten Gewissen die WM schauen?

Fussball nein, Kinderarbeit ja?

Ein Gedankenanstoss, bevor wir uns die Fragen aller Fragen stellen, ob dies ethisch in Ordnung geht: Die meisten von uns besitzen Mode oder Technik, die nicht sauber produziert worden ist. Das Handy besteht aus Rohmaterial, für dessen Gewinnung Menschen (oft auch Kinder) in Minen sterben. Bei fast allen deinen Shirts kannst du nicht sicher sein, ob Kinder dafür schuften mussten. Warum sollen wir da bei Katar plötzlich ein Tamtam machen?

«Wir haben die Chance, bei dieser Fussball-WM ein Zeichen für Menschenrechte und gegen Menschenrechtsverletzungen zu setzen.»

Peter G. Kirchschläger, Ethikprofessor an der Universität Luzern

Wir haben Peter G. Kirchschläger gefragt. Er ist Ethikprofessor an der Universität Luzern: «Wir sollten das eine tun und das andere nicht lassen», meint er. «Wir haben die Freiheit, die WM nicht zu schauen. Wir haben die Freiheit, fair und nachhaltig produzierte Kleider zu kaufen. Mit diesen Freiheiten korrespondiert auch eine entsprechende Verantwortung.» Und somit haben wir die Freiheit, uns Gedanken über die WM in Katar zu machen.

Was wir über Katars dunkle Seiten wissen

Vieles, was in Katar passiert, muss kritisiert werden. Beginnen wir mit den pompösen Stadien und Hotels, die von «Gastarbeitern» für einen Hungerlohn gebaut wurden. Das hiess: Schuften bei Backofentemperaturen und hausen in menschenunwürdigen Unterkünften. Wie viele von ihnen ihr Leben in Katar verloren haben, ist nicht sicher. Die Todeszahlen variieren extrem stark – von 3 bis über 15’000.

Wer nicht in das Denkmuster passt, lebt in Katar gefährlich. Pink Cross Schweiz warnt in einer Medienmitteilung: «Selbstverständlich werden auch viele queere Fans an die Fussballweltmeisterschaft 2022 nach Katar reisen. Doch für sie könnte das gefährlich werden: In Katar wird gleichgeschlechtlicher Sex noch immer mit mehreren Jahren Haft bestraft!»

Auch wenn Katar offiziell bei dem Thema während der WM wegschauen will: ganz glaubwürdig ist dies nicht. Die Aussagen des WM-Botschafters und früheren Fussballnationalspieler Khalid Salman gegenüber ZDF sprechen Bände.

Frauenrechte, Kinderheirat, Zwangsheirat, Zwangsarbeit ... Die Liste könnte fortgesetzt werden. Aber gehen wir nun ans Eingemachte.

Darf ich die WM aus ethischer Sicht schauen?

Einige lassen ihren Fernseher bewusst ausgeschaltet. Andere schauen trotzdem, teils mit einem schlechten Gewissen. Der Luzerner Ethikprofessor unterstützt die Boykottierer. Warum? «Wir haben die Chance, bei dieser Fussball-WM ein Zeichen für Menschenrechte und gegen Menschenrechtsverletzungen zu setzen, indem wir die Spiele nicht schauen. Wir sollten diese Gelegenheit beim Schopf packen.»

Egal, ob du deinen Fernseher einschaltest oder nicht: Das Leder wird rollen. Was bringt also ein Boykott – ausser einem besseren Gewissen? «Die Fifa verdient ihr Geld vor allem mit dem Verkauf von TV-Rechten», erklärt Kirchschläger. «Wenn viele Menschen darauf verzichten, diese Fussball-WM zu schauen, weil an den WM-Stadien Blut klebt, dann erhöht sich dadurch der Druck auf die Fifa und auf die Sponsoren massiv, endlich konsequent gegen Menschenrechtsverletzungen vorzugehen und sich für die Menschenrechte zu engagieren.» Letzteres sollte aus seiner Sicht eine Selbstverständlichkeit sein. «Es ist ein Skandal, dass dies noch nicht so ist.»

Verzwickte Lage für Schweizer Nati

Die Entscheidung der Fifa, die WM in Katar auszutragen, bringt auch unsere Schweizer Nationalmannschaft in eine verzwickte Lage. Es ist der Job der Jungs, Fussball zu spielen. Aber jetzt werden sie dafür kritisiert, dass sie genau dies machen. Gegenüber dem Magazin «Sportlerin» gab Nati-Coach Murat Yakin einen Einblick in die Gefühlswelt der Fussballer. «Wir haben uns das WM-Austragungsland nicht ausgesucht.»

Er und alle darauf angesprochenen Spieler wiederholen mantraartig: «Wir sind Sportler, nicht Politiker. Wenn wir es für richtig halten, etwas zu sagen, werden wir das tun.» Die politisch korrekten Worte in diesem heiklen Thema zu finden ist wahrlich keine einfache Aufgabe.

Allerdings sei es eine Aufgabe, welche die Spieler nutzen könnten. Dies sagt auch Peter G. Kirchschläger. «Als berühmte Fussballer haben sie die Möglichkeit und ihren Platz in der Öffentlichkeit, sich für die Menschenrechte zu engagieren. Sie dürfen nicht wegschauen und indifferent sein. Sie sollten unbedingt ihre Plattform dafür nützen, ihren Beitrag dazu zu leisten, dass Menschen überleben und menschenwürdig leben können.»

Bei Menschenrechten geht es ja genau darum, dass Personen menschenwürdig behandelt werden. Fussballer haben in Katar eine besondere Macht. «Sie selbst geniessen ja auch den Schutz der Menschenrechte, zum Beispiel müssen sie nicht unter sklavereiähnlichen Bedingungen arbeiten, sie werden nicht aufgrund ihrer sexuellen Orientierung strafrechtlich verfolgt», sagt der Ethikprofessor der Universität Luzern.

Eines ist sicher: Es wird kein Fussballfest wie sonst geben. Einige haben schon klare Zeichen gesetzt. Beispielsweise druckt «Tschutti Heftli» Protestplakate statt Sammelkarten (zentralplus berichtete). Ein klares Zeichen setzte auch die Stadt Zürich am Mittwoch. Im öffentlichen Raum sind nun offiziell keine Public Viewings für die WM in Katar mehr erlaubt (zentralplus berichtete).

Verwendete Quellen
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