Leiter des Pastoralraum Luzern im Interview

Eine Anzeige hätte den Täter wohl nicht stoppen können

Der Theologe Thomas Lang leitet den Pastoralraum Luzern-Stadt. (Bild: kok)

Thomas Lang kennt die katholische Kirche Stadt Luzern wie kaum ein anderer. Die Ergebnisse einer neuen Studie zu Missbräuchen in der Kirche haben auch ihn erschüttert. Im Interview erinnert er sich an ein Gespräch vor 15 Jahren – als eine ältere Dame ihr Schweigen brach.

zentralplus: Wer will heute noch Priester werden?

Lang: Wenige wollen Priester werden, Seelsorgerin auch nicht. Wir haben ein Personalproblem.

zentralplus: Woran zeigt sich das?

Lang: Wir hatten in den letzten Jahren fünfmal weniger Bewerbungen auf freiwerdende Stellen als noch vor 15 Jahren.

Wer ist Thomas Lang?

Thomas Lang hat in Freiburg, Luzern und Rom Theologie studiert und wurde 2002 Seelsorger in der Pfarrei St. Leodegar (Hofkirche). Bekanntheit erlangte er als erster Seelsorger der Luzerner Polizei und der Feuerwehr Stadt Luzern.

Heute ist der dreifache Familienvater Pastoralraumleiter und entscheidet über die wichtigen kirchlichen Fragen in Luzern. Ausserdem stellt er den Kontakt zum Bistum sicher. Der Pastoralraum Stadt Luzern umfasst alle acht städtischen Pfarreien sowie je eine aus Littau und Reussbühl.

Neben seinem Amt als Pastoralraumleiter arbeitet Lang als Co-Pfarreileiter von St. Anton - St. Michael und Kirchenrat.

zentralplus: Was ist der Grund dafür?

Lang: Einerseits ist Religion etwa Privates geworden. Andererseits beantwortet die offizielle Kirche Fragen, die gar niemand stellt. Und die wirklichen Fragen, die die Leute umtreiben, werden nicht beantwortet.

zentralplus: Zum Beispiel?

Lang: Ob geschiedene Wiederverheiratete zur Kommunion dürfen oder nicht, interessiert eigentlich niemanden. Auch weshalb Frauen nicht geweiht werden dürfen. Das sind Fragen, die der offiziellen Kirche aber extrem wichtig sind.

«Die Kirche Stadt Luzern versucht schon seit Jahren eine aufgeschlossene Kirche zu sein.»

zentralplus: Sie waren 15 Jahre lang Seelsorger in der Hofkirche. Wie intim ist ein Seelsorge-Gespräch?

Lang: Das ist unterschiedlich. Es kommt darauf an, was die Person von sich aus erzählt. Aber selbstverständlich haben wir Einblicke in die ganz persönlichen Befindlichkeiten der Menschen, die kommen.

zentralplus: Und, wenn Ihnen jemand etwas strafrechtlich Relevantes erzählt?

Lang: Es gibt das Seelsorge-Geheimnis. Das ist staatlich geschützt, wie das Beichtgeheimnis. Wenn der Seelsorger Informationen weitergibt, macht er sich strafbar. Je nach Situation muss man sich gut überlegen, was man macht.

zentralplus: Und wenn sich Ihnen ein Opfer von Missbrauch anvertraut?

Lang: Das ist mir tatsächlich einmal passiert, mit einer älteren Frau. Vor rund 15 Jahren.

zentralplus: Was hat die Frau ihnen geschildert?

Lang: Eine Missbrauchserfahrung, die sie erlebt hat.

zentralplus: Durch wen?

Lang: Durch einen Priester.

«Ich habe erfahren, wie ein Täter vorgeht.»

zentralplus: In Luzern?

Lang: Ja, in den 60er-Jahren.

zentralplus: War es ein einmaliger Missbrauch?

Lang: Nein.

zentralplus: Über Jahre?

Lang: Bis der Priester dann die Stelle gewechselt hat. Ich weiss nicht, ob er musste oder ob es an der Zeit war.

zentralplus: Wie ging es ihnen, als die Frau das erzählt hat?

Lang: Es war sehr belastend, schon damals sprach man von vielen Missbrauchsfällen. Ich war aber auch froh, es gehört zu haben. So bekam der Missbrauch für mich ein Gesicht. Und ich habe erfahren, wie ein Täter vorgeht. Wie er alle psychologischen Mechanismen einsetzt.

zentralplus: Was für Mechanismen?

Lang: Täter-Opfer-Umkehr zum Beispiel.

zentralplus: Was heisst das?

Lang: Das heisst, dass sich das Opfer als Täterin fühlt, die den Priester verführt hat.

zentralplus: Hat der Priester ihr das eingebläut?

Lang: Nicht eingebläut. Das Opfer ist selbst in diesem Mechanismus gelandet. Denn die Stellung des Priesters war in den 60er-, 70er-Jahren stark überhöht. Er war damals quasi Jesus Christus persönlich. 

zentralplus: Kam der Missbrauch zur Anzeige?

Lang: Nein. Nach dem Missbrauch wollte die Person keine Anzeige erstatten, obwohl es ihr damals geraten wurde. Später erfuhr sie, dass er noch mehr Opfer hatte und fühlte sich schuldig. Wie wir heute wissen, hätte wohl auch eine Anzeige den Täter in der damaligen Zeit nicht stoppen können. Als ich von dem Missbrauch erfuhr, war der Priester bereits verstorben.

zentralplus: Haben Sie sich für Ihre Kirche geschämt?

Lang: Nein, ich war betroffen. Für die Frau war es aber sehr schambehaftet.

«Wir können hier in Luzern nicht die Glaubwürdigkeit der ganzen katholischen Kirche auf die Reihe kriegen.»

zentralplus: Übernimmt die katholische Kirche genug Verantwortung für solche Missbräuche?

Lang: Momentan sieht es so aus. Die Studie der Universität Zürich zu den Missbräuchen wurde von den Bischöfen, Landeskirchen und den Ordensoberen beauftragt. Man will reinen Tisch machen, auch wenn viele Fälle heute staatlich verjährt sind. Auch, um den Opfern Genugtuung zu zahlen. Genugtuung, eigentlich mag ich dieses juristische Wort nicht. Es klingt, als könnte man zahlen und dann ist wieder alles gut. Es ist nie gut.

zentralplus: Wie ging es mit der älteren Frau weiter?

Lang: Ich habe sie an den Bischof vermittelt, weil es mir wichtig war, dass auch er konkrete Fälle kennt. Dass auch für ihn der Missbrauch ein Gesicht bekommt. Denn das hat mir geholfen, das Ganze zu verstehen.

zentralplus: Wie hat der Bischof Felix Gmür darauf reagiert?

Lang: Das weiss ich nicht im Detail. Aber er hat ein Gespräch mit der Person geführt.

zentralplus: Die Forscher der Universität Zürich bezeichnen die bisher bekannten 1002 Missbrauchs-Fälle als die Spitze des Eisbergs. In etwa drei Jahren werden weitere Ergebnisse veröffentlicht. Fürchten Sie den Tag?

Lang: Nein. Dass es aufgearbeitet wird, ist extrem wichtig für eine glaubwürdige Kirche. Aber es wird wahrscheinlich noch einmal ziemlich erdrückend.

zentralplus: Eine glaubwürdige katholische Kirche. Für viele ist das eine Worthülse.

Lang: Es ist schwierig. Wir können hier in Luzern nicht die Glaubwürdigkeit der ganzen katholischen Kirche auf die Reihe kriegen. Was wir können, ist Nähe-Distanz-Standards zu definieren. Ein Seelsorgegespräch findet beispielsweise nicht auf einem Sofa statt. Ausserdem schauen wir bei Vorstellungsgesprächen genau hin. Referenzauskünfte, Strafauszüge, Sonderprivatauszüge. Das machen wir seit über 15 Jahren.

zentralplus: Zurzeit treten Tausende aus der katholischen Kirche aus. Überzeugen Sie mich, einzutreten!

Lang: Die Kirche Stadt Luzern versucht schon seit Jahren eine aufgeschlossene Kirche zu sein, auch dank der Mitwirkung von fast 2‘000 Freiwilligen. Ich will aber niemanden überzeugen, einzutreten. Man muss sich selbst dafür entscheiden.

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