Ex-Nationalrätin Yvette Estermann im Interview

«‹Einfühlsame Domina› ist die beste Bezeichnung, die ich je erhalten habe»

Alt-Nationalrätin Yvette Estermann möchte nach ihrer politischen Karriere nun Pfarrerin werden. (Bild: zvg)

Vor knapp 30 Jahren nach Kriens gezogen, hat sich die gebürtige Slowakin Yvette Estermann zu einem nationalen SVP-Aushängeschild gemausert. Im Interview spricht sie über ihre nächsten Pläne, was sie sich für die SVP wünscht und wieso sie der Titel «einfühlsame Domina» nicht kränkt.

Sie gilt als «bunter Vogel» der SVP und hat eine beachtliche politische Karriere hingelegt: Fünf Jahre nach ihrer Ankunft in der Schweiz trat Yvette Estermann bereits der SVP Kriens bei. Nach fünf weiteren Jahren wurde sie als erste SVP-Frau in den damaligen Luzerner Grossen Rat (heute Kantonsrat) gewählt. Dort blieb sie jedoch nicht lange, denn nur zwei Jahre später, 2007, wurde sie bereits in den Nationalrat gewählt. Vier Legislaturen politisierte sie in Bern, wobei sie auch viele Anliegen vertrat, die aneckten oder belächelt wurden (zentralplus berichtete).

Kurz vor der ersten Session des neuen Parlaments lädt zentralplus Estermann zum Rücktrittsinterview ein. Die 56-Jährige erscheint mit Rucksack und schwarzem Béret auf dem Kopf.

Ab Januar ist Yvette Estermann als Armeeseelsorgerin tätig. (Bild: mik)

zentralplus: Kommen Sie gerade von Ihrer neuen Tätigkeit als Armeeseelsorgerin und liessen das Béret gerade auf?

Yvette Estermann: Nein, ich bin das Béret erst am Eintragen. Richtig tätig bin ich ab dem 1. Januar 2024.

zentralplus: Wie gefällt Ihnen diese neue Rolle?

Estermann: Sie gefällt mir sehr, ich habe eine wirklich gute Ausbildung gehabt. Jetzt konnte ich einige Tage mit Kollegen mitgehen, wobei ich ebenfalls einen sehr guten Eindruck erhielt. Ich bin bereit für die neue Rolle.

zentralplus: Armeeseelsorgerin wollen Sie aber nicht bleiben, sondern langfristig reformierte Pfarrerin werden.

Estermann: Armeeseelsorgerin bin ich nur 15 bis 20 Tage pro Jahr. Während den WKs gehe ich zu den Leuten, die ich betreue, und werde ab und zu in Notfällen aufgeboten. Für den Beruf als Pfarrerin brauche ich den Master in Theologie. Also muss ich zuerst mein Studium vorantreiben. Ziel wäre, ab 2027 als Pfarrerin anzufangen. Da ich nebenbei noch 50 Prozent arbeite, kann ich mich nicht vollständig dem Studium widmen.

zentralplus: Studieren, ein eigenes Unternehmen führen, politisieren und noch Zeit für Familie und Hobbys haben: In Ihrem Buch bezeichneten Sie Frauen, die so viel gleichzeitig schaffen, einst als «Superfrau». Wie schaffen Sie das?

Estermann: Mit sehr viel Verständnis meiner Familie. Das ginge definitiv nicht ohne die Unterstützung meines Partners. Zudem mit gutem Management. Ständig habe ich überprüft, wo es in meinem Terminkalender noch Lücken gibt. Ich bin gespannt, wie das nun ab Januar wird. Eigentlich möchte ich alle meine Tätigkeiten behalten. Je nachdem werde ich aber vor- und nachgeben müssen.

Die Krienserin ist für ihren Patriorismus bekannt und trägt auch gerne mal eine Tracht. (Bild: Archivbild: zvg)

zentralplus: Nun fokussieren Sie sich auf Ihre religiöse Karriere. Was ist Ihr Bezug zur Religion?

Estermann: Seit meiner Kindheit habe ich immer das Gefühl gehabt, gut aufgehoben und geborgen zu sein. Früher ging ich davon aus, dass andere das auch hätten. In der ersten Primarklasse habe ich jedoch festgestellt, dass das längst nicht alle fühlen. Damals dachte ich, es wäre schön, wenn andere Leute das auch spüren könnten. Als Jugendliche wollte ich entweder Medizin oder Theologie studieren. Geklappt hat dann die Aufnahme in die Medizin.

zentralplus: Und später gelang Ihnen der Einstieg in die Politik. Dort verfolgten Sie einen sehr eigenen Weg. So beispielsweise in Ihrem Kampf um den Erhalt von Glühlampen.

Estermann: Ich war von klein auf gewohnt, zu meinen Grundsätzen zu stehen. Die eigenen Überzeugungen sind mir wichtiger als das, was andere sagen. Damit war mein Weg zwar mühsamer, aber ich würde nie etwas anders machen.

zentralplus: Sie bezeichneten das Amt als Präsidentin der Luzerner SVP als Ihren «grössten politischen Fehler».

Estermann: Das habe ich auch gegen meine Überzeugung gemacht. Ich fand damals, ich wäre dazu nicht geeignet. Ich war frisch im Nationalrat und ziemlich engagiert. Gleichzeitig hatte ich auch noch meine Beratungsfirma. Das Parteipräsidium war einfach zu viel, vor allem weil ich damals keinen Vorstand oder ein Vizepräsidium hatte. Ich habe mich aber überzeugen lassen, weil ich der Partei helfen wollte.

«Wenn ich sehe, dass ich für meine Anliegen kaum noch Verbündete gewinnen kann, macht es wenig Sinn weiterzumachen.»

Yvette Estermann, Alt-SVP-Nationalrätin

zentralplus: Damals wollten Sie der SVP ein moderneres, kompromissfähigeres Image verleihen. Woran sind Sie gescheitert?

Estermann: (Lacht). Ich glaube, wegen des Widerstands der damaligen Personen in der Luzerner Parteileitung. Damals war es etwas zu früh.

zentralplus: Wäre denn jetzt die Zeit reif für einen Imagewechsel?

Estermann: Ja, jetzt wäre der Zeitpunkt, die Partei sanft zu modernisieren. Nun sind neue junge Leute in wichtigen Positionen, wie beispielsweise Jasmin Ursprung. Zudem suchen wir einen neuen Präsidenten. Ich bin neugierig, wie Angela Lütholds Nachfolger die Partei prägen und hoffentlich erfolgreich entwickeln wird.

zentralplus: Die Luzerner Politik liegt Ihnen also noch immer am Herzen. Wieso sind Sie zurückgetreten?

Estermann: Ich habe 16 Jahre in Bern politisiert. Nun ist es Zeit aufzuhören, damit neue Leute nach Bern kommen. Ich gehöre zu einer älteren Generation. Die politisierte noch aus Überzeugung und hat sich nicht zuerst Chancen oder Sympathien ausgerechnet. Gerade in den vergangenen vier krisengeprägten Jahren hat sich abgezeichnet, dass viele Leute anders denken.

Yvette Estermann wurde an der Wintersession 2023 aus dem Nationalrat verabschiedet. (Bild: © Parlamentsdienste / Tim Loosli)

zentralplus: Sie kommen also mit der neuen Politgeneration nicht klar?

Estermann: Das würde ich so nicht sagen. Dass sich in 16 Jahren das eine oder andere ändert, ist ganz normal. Ich war schon immer eine Einzelkämpferin und eine Nischenpolitikerin. Wenn ich sehe, dass ich für meine Anliegen kaum noch Verbündete gewinnen kann, macht es wenig Sinn weiterzumachen. Ich bin nur traurig, dass gewisse Themen nun nicht mehr angesprochen werden. Jetzt will ich zuerst abwarten. Vielleicht lassen sich auch die Neugewählten für Nischenthemen begeistern. An ihren Vorstössen wird sich zeigen, wie sie politisieren.

zentralplus: Welcher Vorstoss wäre exemplarisch für Ihr politisches Wirken?

Estermann: Das klingt zwar sehr banal, aber mein Kampf gegen die Sommerzeit. Das Umstellen der Zeit hat mich schon als Kind gestört. Seit Jahren sagen Ärztinnen, Lehrer und Chronobiologinnen, die Umstellung sei nicht gut für Menschen. Trotzdem ist es den Politikern egal. Dabei wäre es kein grosser Aufwand und würde auch kein Geld kosten. Ein Land, das keine kleinen Probleme löst, kann auch keine grossen Probleme lösen.

zentralplus: Mit dem Vorstoss waren Sie wenig erfolgreich. Ebenso mit Ihren Initiativen für schärfere Abtreibungsregeln. Was war Ihr grösster Erfolg?

Estermann: Die Bestätigung für meine Arbeit ist für mich der grösste Erfolg, auch wenn das vielleicht nicht jeder nachvollziehen kann. Ich wurde Nationalrätin, um die Bevölkerung von Luzern zu vertreten. Wenn ich unter Leuten war, habe ich sehr viele schöne Rückmeldungen erhalten. All die negativen Dinge, die ich als Politikerin erlebte, waren nichts gegen jemanden, der mir sagte: «Yvette, du machst das gut in Bern.» Das gab mir sehr viel Kraft.

zentralplus: Trotzdem wurden Sie für Ihre Vorstösse oft auch belächelt. Sie sagten mal gegenüber zentralplus, Sie geniessen es, eine Reizfigur zu sein. Ist das noch immer so?

Estermann: Ich habe mich stets für die Anliegen meiner Wähler ins Zeug gelegt. Wenn ich wegen meines Einsatzes für sie schlecht dargestellt worden bin, hat mich das nie gestört. Ich wusste, für wen ich mich einsetze. In dem Sinn stimmt das wohl noch immer.

zentralplus: Haben Sie negative Aussagen nie verletzt?

Estermann: Nein. Es schmerzt und ist sicher nicht angenehm. Um mich aber zu verletzen, muss man sich schon sehr anstrengen. Wurde ich mit negativer Kritik konfrontiert, bin ich jeweils im Wald spazieren oder im See schwimmen gegangen, danach ging es mir wieder besser. Das ist Psychohygiene, man muss seine Haare selbst aus dem Sumpf ziehen. Hätte ich das nicht geschafft, hätte ich den Bettel wohl früher hingeworfen.

Yvette Estermann kümmert sich gerne um ihren grossen Garten. (Bild: Archivbild: les)

zentralplus: «Einzelkämpferin», «Sorgenkind», «Reizfigur», in einem sehr frühen Porträt gar «liebevolle, einfühlsame Domina» – Sie haben von Medien viele Titel und Beschreibungen erhalten. Welche finden Sie am treffendsten?

Estermann: (Lacht). «Einfühlsame Domina» – das ist die beste Bezeichnung, die ich jemals erhalten habe. Beim Lesen des Artikels bin ich selbst darüber gestolpert. Ich musste die Stelle dreimal lesen. Mir gefällt, wenn Journalisten fantasievolle und nicht alltägliche Beschreibungen gebrauchen. Da merkt man, sie denken sich etwas dabei. Im Nachhinein muss ich sagen: Der Journalist hat mich damit sehr gut beschrieben. Als Homöopathin, Coach und Seelsorgerin bin ich sehr einfühlsam, kann aber auch sagen, wos langgeht.

zentralplus: Sie werden oft als «Frau der Widersprüche» hervorgestrichen. Als gebürtige Slowakin bei der ausländerkritischen SVP, Sie politisieren für die traditionelle Frau, machen aber selbst Karriere, plädieren dafür, dass niemand Millionen besitzen müsse, besitzen aber ein teures Auto und ein grosses Haus am Sonnenberg.

Estermann: Für gewisse Dinge kann ich etwas, gewisse Sachen ergeben sich. Ich bin schon ziemlich speziell. Das merke ich immer mehr, je älter ich werde. In mir sind sehr viele Eigenschaften vereint, weil ich schon so viel erlebt habe. Doch ich finde, das Gesamtbild Yvette passt. Wie ein Mosaik. Quasi Einigkeit in Widersprüchlichkeit. Ich hoffe, dass mein Mosaik noch nicht fertig ist.

zentralplus: Welche Steine fehlen noch in Ihrem Mosaik?

Estermann: Ich hoffe, ich werde noch intelligenter und weiser. Lebenslanges Lernen ist nicht nur ein Spruch, sondern für mich Realität. Ich habe einen sehr grossen Wissensdurst. Aufhören will ich erst, wenn ich tot bin. Zum Beispiel habe ich vor einer Woche Italienisch angefangen, auch mein Französisch will ich verbessern. Alte Sprachen wie biblisch-hebräisch oder neu-hebräisch interessieren mich ebenso. Mich interessiert einfach viel zu viel. Die «Wissensdurstige», das wäre doch ein passender Titel für mich.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Yvette Estermann, bis vor Kurzem Luzerner SVP-Nationalrätin
  • Vorstösse von Yvette Estermann im Nationalrat
  • Website von Yvette Estermann
  • SMD-Recherche
  • Medienarchiv zentralplus
  • Artikel in den «CH Media»-Zeitungen
  • Yvette Estermanns Biografie «Erfrischend anders»
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