Rollerderby in Luzern

«Willst du meine blauen Flecken sehen?»

Die «Hellveticats» beim Training - hier beim blocken im «Pack». (Bild: Adrian Meyer)

Rollerderby boomt: Beim Rollschuh-Vollkontaktsport für Frauen wächst auch in der Schweiz die Zahl der «Rollergirls». Seit knapp einem Jahr trainiert mit den «Hellveticats» ein Team in Luzern. Sie wollen endlich, dass man ihren Sport ernst nimmt.

Natürlich fallen die Piercings im Gesicht sofort auf, die Arme voller Tattoos, die ausgefallen bestrumpften Beine. Ein Klischee sei das mittlerweile, wenn Medien über Rollerderby berichten, klagen die neun Frauen des Luzerner Teams «Hellveticats», die sich an diesem Sonntagabend in der Mehrzweckhalle Allmend zum Rollerderby-Training treffen. Das Klischee von kampflustigen Frauen in Netzstrümpfen und bunten Kostümen, die sich gegenseitig aus Spass zum Raufen auf Rollschuhen treffen.

Dieses Klischee nerve. Klar, die ganze Maskerade gehöre dazu und die Kampfnamen, die sich jedes Rollergirl gibt: Zippy Zaranoia, Kitty la Bang, Missy la Strange. Aber zu 90 Prozent gehe es ihnen beim Rollerderby um den Sport. Nicht ums Theater. Und die Rollergirls wollen, dass man diesen Sport endlich ernst nimmt. «Wir sind keine Freaks», sagen die «Hellveticats», noch bevor das wöchentliche Training beginnt. «Wir sind alle ganz normal: Mamis, Studenten, Pflegefachfrauen, Lehrerinnen zwischen 18 und 36 Jahren.» Nur Männer, die findet man beim Rollerderby kaum. Zwar gibt es vereinzelte Männerteams, sie sind Schiedsrichter oder Trainer, doch der Sport bleibt in Frauenhand.

Aus der Musikanlage der Turnhalle schrammelt alternative Rockmusik. Die Rollergirls verteilen sich auf dem Hallenboden, sie schnallen sich ratschend die Knie- und Armschoner um und schnüren ihre Rollschuhe. Einige sind verziert mit Sternchen und Leopardenmuster, die Rollen neonfarben. Inline-Skates sind verpönt, «peinlich» seien die. Zum Rollerderby gehören Rollschuhe, keine Diskussion. Helm auf, Mundschutz rein. Erste Runden drehen. Aufwärmen.

Stürze und blaue Flecken gehören zum Training

Während die «Hellveticats» erste Kampfmanöver üben, erklärt die Schiedsrichterin mit dem Derby-Namen «Lucy Cat Rolls» die Grundregeln des Spiels: Pro Team fahren jeweils fünf Spielerinnen ihre Runden auf einem ovalen Spielfeld. Jedes Team hat eine «Jammerin», die Punkte erzielen kann, und vier «Blockerinnen». Die Blockerinnen der beiden Teams fahren gemeinsam in einer Art Rudel (dem sogenannten «Pack») und versuchen, die Jammerinnen der Gegner mit vollem Körpereinsatz am Überholen zu hindern: mittels Blockattacken auf Schulter, Hüfte, Po. Denn für jede überholte Blockerin des gegnerischen Teams erzielt eine Jammerinnen einen Punkt. Das Grundprinzip ist einfach, doch die vielen einzelnen Regeln sind kompliziert: Das offizielle Spielreglement ist 68 Seiten lang. 

Das Blocken zu üben und richtig hinzufallen ist Teil des Trainings: Auf Kommando werfen sich die Spielerinnen der «Hellveticats» zu Boden, sie stossen in voller Fahrt ineinander und trainieren flinke Ausweichmanöver. Stürze gehören dazu, auch die ungewollten: Immer wieder fliegt ein Rollergirl aus der Bahn und landet unsanft auf Knien und Po. Bald zeichnen sich erste Schürfwunden und Flecken unter gerissenen Strümpfen ab. «Es ist wie beim Schwingen», sagt «Lucy Cat Rolls», «während eines Spiels sind wir Konkurrenten, danach verstehen wir uns wieder bestens.»

Wer bereits zweiachsige Rollschuhe an den Füssen hatte, weiss, wie anspruchsvoll es ist, mit hohem Tempo seine Runden zu drehen. «Das Schwierigste an diesem Sport ist es, dazu noch den Überblick über das Spiel zu behalten.», sagt Rollergirl «Kitty la Bang» in einer Trainingspause und lacht. Kitty ist eine der Gründerinnen der «Hellveticats». Sie trägt Nasenring, Strümpfe mit Leopardenmuster und ziemlich beeindruckende Tattoos an Arm und Oberkörper. Niemand nenne sich hier beim bürgerlichen Namen. «Von einigen weiss ich nicht einmal, wie sie mit richtigem Namen heissen», sagt Kitty. Die Aliase sind Teil der Rollergirl-Identität.

1200 Teams weltweit, vier in der Schweiz

Rollerderby ist ein Nischensport, zumindest in der Schweiz. Im Ursprungsland USA existieren eigene Ligen mit tausenden aktiven Rollergirls. Rollerderby gehört dort zu den am schnellsten wachsenden Sportarten. Über 200 Vereine sind bereits Teil des Rollerderby-Verband «Women’s Flat Track Derby Association». Es gab sogar Überlegungen, den Sport in die Olympischen Spiele 2020 aufzunehmen.

Bereits in den 40er Jahren war Rollerderby in den USA wegen seiner theatralischen Elemente beliebt, verschwand aber ab 1970 weitgehend in der Versenkung. Erst um die Jahrtausendwende erlebte der Sport durch eine Graswurzel-Bewegung mit Verbindungen zu Punk und Feminismus sein Revival. Mittlerweile existieren weltweit über 1200 Amateur-Teams. Vor vier Jahren gründeten einige Frauen in Zürich das erste Team der Schweiz. Heute spielen hierzulande vier Vereine in Zürich, Genf und Luzern.

Nach einem ersten Probetraining beim Zürcher Team diskutierten Kitty und einige Freunde in ihrer Luzerner Stammbeiz, der «Metzgerhalle», während langen Abenden über eine eigene Mannschaft. Per Facebook suchten sie Mitstreiterinnen – und organisierten bald die ersten Trainings. Mittlerweile dürfen elf Fahrerinnen an Wettkämpfen teilnehmen, 17 sind noch Anwärterinnen. Das erste Auswärtsspiel fand Ende Juni im französischen Besançon statt – «die haben uns ordentlich zusammengelegt» – das erste Luzerner Heimspiel im August. Im Dezember fliegen die «Hellveticats» für ihr nächstes Spiel nach Prag.

Eine trinkfeste Derby-Familie ohne Memmen

Was sind die Stärken der Luzerner Rollergirls? «Wir sehen gut aus. Wir sind trinkfest. Wir sind eine Derby-Familie. Und wir sind keine Memmen.» Aber eigentlich seien die «Hellveticats» erst noch daran, das Team aufzubauen, sagt Kitty und lacht: «Unsere Kampfstrategie ist momentan noch voll das Chaos.» 

In der Turnhalle geht es mittlerweile richtig zur Sache: Das Team übt den Wettkampf. Anpfiff, langsam setzt sich das «Pack» auf der Rundstrecke in Bewegung. Der Blick der Blockerinnen ist stets nach hinten auf die zwei Jammerinnen gerichtet, die sich sofort dem Rollschuh-Rudel nähern und versuchen, es als Erste zu durchbrechen. Hier ein Antäuschen, da eine Blockade, Geschubse, alles passiert auf einmal: Die Blockerinnen wehren die gegnerische Jammerin ab, sie reissen Schlupflöcher für die eigene Jammerin auf und versuchen gleichzeitig, sich auf den Rollschuhen zu halten. Da!, eine Möglichkeit, die eine Jammerin kämpft sich durch den Wust. Geschafft. Sie gibt Gas, flitzt um die Kurven, von der gegnerischen Jammerin verfolgt. Nach einer Runde trifft sie erneut auf die Wand aus Frauenkörpern, die ihr ordentlich eins reindonnern möchten. So geht das Runde für Runde.

Das zehrt an der Ausdauer: Einige Rollergirls liegen nach den eineinhalb Stunden Training klitschnass am Boden, die Köpfe rot, die Puste draussen, die Wasserflaschen leer. «Willst du meine blauen Flecken sehen?», das sei doch ein super Anmachspruch, witzeln sie. Habe man nach einem Spiel keine, sei das schon enttäuschend. «Ohne Rollerderby würde ich keinen Sport treiben», sagt Kitty. Sobald sie aber auf den Rollschuhen stehe, seien alle Sorgen vergessen.

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