Lage auf Luzerner Intensivstationen ist prekär

Ethiker zur Triage: «Impfstatus darf kein Kriterium sein»

Andreas Fischer ist Arzt sowie Co-Leiter des Ethik-Forums am Kantonsspital Luzern. (Bild: ewi)

Im Interview mit zentralplus erklärt der Arzt und Ethiker Andreas Fischer vom Kantonsspital Luzern, was die Triage für die Betroffenen bedeutet. Und warum es das Konzept trotz des Leids, das es verursacht, dringend braucht.

Im Kanton Luzern sind die Intensivstationen in den Spitälern am Anschlag. An einer Medienkonferenz am Dienstag erklärte der Luzerner Gesundheitsdirektor Guido Graf deshalb, dass es absehbar sei, dass die Spitäler triagieren müssen (zentraplus berichtete). Was das konkret bedeutet und auf welche Kriterien sich die Ärztinnen dabei stützen, erklärt Andreas Fischer. Er ist Arzt sowie Co-Leiter des Ethik-Forums am Luzerner Kantonsspital.

zentralplus: Nach welchen Kriterien findet die Triage statt? Gibt es dafür einen Leitfaden?

Andreas Fischer: Dafür gibt es die Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW). Diese beschreiben ziemlich genau, nach welchen Kriterien bei einer Triage entschieden wird. Das wichtigste Kriterium dabei ist, wie sich die intensiv-medizinische Behandlung auf die kurzfristige Überlebensprognose eines Patienten auswirkt. Das ist das allerwichtigste Kriterium.

«Der Impfstatus eines Patienten darf kein Kriterium beim Triage-Entscheid sein.»

zentralplus: Und weitere Kriterien?

Fischer: Ein weiterer Faktor ist der medizinische und personelle Aufwand, der bei einem Patienten auf der Intensivstation zu erwarten ist. Ein Beispiel: Zwei Patientinnen auf der Intensivstation haben die gleichen Überlebenschancen dank der Intensivpflege. Doch die eine Patientin würde das Bett während drei Wochen in Anspruch nehmen. Die andere Patientin ist schon nach drei oder vier Tagen über dem Berg und kann auf eine andere Station verlegt werden. In diesem Fall erhält die zweite Patientin das letzte freie Bett, weil sie diese knappe Ressource weniger lang in Anspruch nimmt.

zentralplus: Fliesst der Impfstatus einer Patientin auch in die Entscheidung mit ein?

Fischer: Nein, der Impfstatus darf kein Kriterium sein. Ebenso wenig, ob es sich um einen Covid-Patienten handelt oder nicht. Bei der Triage gelten die vorher genannten Grundsätze. Ob sich eine Person im Vorfeld risikohaft oder unsolidarisch verhalten hat, spielt keine Rolle.

zentralplus: Der Triage-Entscheid beruht auf dem ethischen Grundsatz des «Utilitarismus». Was bedeutet das?

Fischer: Das bedeutet, dass man sich vor allem auf das Resultat einer medizinischen Behandlung konzentriert. Hier ist das oberste Ziel, dass die Spitäler so viele Leben wie möglich retten.

«Bei der Triage hat man nicht mehr den einzelnen Patienten im Fokus, sondern den gesamtgesellschaftlichen Nutzen. Dieser heisst: so viele Leute retten wie möglich.»

zentralplus: Ist das nicht immer das Ziel im Spital?

Fischer: Grundsätzlich schon. Aber die Triage unterscheidet sich von einer sogenannten Patienten-zentrierten Perspektive. Denn normalerweise ist das oberste medizinische Gebot, dass man für jeden einzelnen Patienten die maximalen Überlebenschancen garantieren will. Bei einer Triage hat man nicht mehr den einzelnen Patienten im Fokus, sondern den gesamtgesellschaftlichen Nutzen. Und dieser heisst: so viele Leute retten wie möglich.

zentralplus: Letztlich ist es aber immer ein Arzt, sprich ein Mensch, der die Triage-Entscheidung fällen muss. Erhalten diese Personen Unterstützung bei diesem Entscheid?

Fischer: Gemäss Definition ist es die ranghöchste medizinische Fachperson auf der Intensivstation, die den Entscheid fällt. Sie trägt die Verantwortung für den Entscheid. Aber sie trifft die Entscheidung nicht alleine. Die zuständige Ärztin soll zuerst das Team konsultieren und die Meinung der Teammitglieder einholen. Und neu bieten wir vom Ethik-Forum einen Pikett-Dienst an.

zentralplus: Wie funktioniert der?

Fischer: Die zuständigen Ärzte können dort jederzeit anrufen, wenn sie sich bei einer Entscheidung unsicher sind. Der Pikett-Dienst des Ethik-Forums gibt dann eine zusätzliche Meinung zu diesem spezifischen Fall ab. Wichtig ist, dass die verantwortliche Ärztin möglichst viel Unterstützung erhält. Das kann auch im Nachgang einer Entscheidung sein, zum Beispiel wenn ein Entscheid seelische Narben bei der Ärztin hinterlassen hat. Dann braucht sie vielleicht Seelsorge oder ähnliche psychologische Unterstützung.

Im Video beschreibt Andreas Fischer, was eine Triage ist und was das für die Spitäler konkret bedeutet:

zentralplus: Und wie ist das für Patienten oder deren Angehörige, die von einem negativen Triage-Entscheid betroffen sind?

Fischer: Das ist natürlich auch sehr, sehr schwierig. Wichtig ist, dass man vonseiten Spital die Entscheidung transparent kommuniziert. Man muss klar kommunizieren, dass der Entscheid aufgrund des mangelnden Platzes auf der Intensivstation getroffen wurde und nicht wegen der medizinischen Entwicklung des Patienten.

zentralplus: Zeigen die Angehörigen in solchen Fällen Verständnis?

Fischer: Wichtig ist vor allem auch, dass die Spitäler vorausschauend mit den Angehörigen sprechen. Man kann nicht zu den Angehörigen hingehen und erklären, dass die Patientin innerhalb der nächsten zwei Stunden auf eine andere Station verlegt wird, obwohl man seit zehn Tagen um ihr Überleben kämpft. Die Ärzte müssen frühzeitig auf die Angehörigen eines Patienten zugehen, wenn sie erkennen, dass dieser schon lange auf der Intensivstation liegt und nicht die besten Überlebenschancen hat.

«Die Triage ist für die Betroffenen zwar schwierig. Aber für uns als Gesellschaft ist es etwas sehr Nützliches.»

zentralplus: Die ganze Diskussion zu den Triage-Entscheiden weckt bei mir Erinnerungen an den Philosophie-Unterricht im Gymnasium. Dort gab es ein gängiges Gedankenspiel, dass eine Ärztin nur einen von zwei Patienten retten kann und nach welchen Kriterien sie sich entscheiden soll. Was löst das bei Ihnen für ein Gefühl aus, dass dieses Gedankenspiel bald schon Realität werden könnte?

Fischer: Das hinterlässt natürlich ein mulmiges Gefühl. Es ist für alle Beteiligten eine sehr belastende Situation. Doch ich will betonen, dass die Triage für die Betroffenen zwar schwierig ist. Aber für uns als Gesellschaft ist es etwas sehr Nützliches.

zentralplus: Inwiefern?

Fischer: Weil sowieso eine Triage durchgeführt wird, einfach eine stillschweigende. Das war in der zweiten Corona-Welle der Fall, als schwerkranke Bewohner von Altersheimen gar nicht mehr erst ins Spital gebracht wurden. Das ist viel schlimmer als das Konzept einer bewussten Triage, die nach klaren Richtlinien durchgeführt wird.

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