Beratungsstelle geschlossen

«Die Gefahr für Luzerner, in eine Sekte zu geraten, ist grösser als früher»

Der Luzerner Bischofsvikar Hanspeter Wasmer beobachtet einen Wandel. (Bild: Adobe Stock/zvg)

Der Bischofsvikar sagt, die Gefahr, in eine Sekte zu geraten, sei grösser als früher. Ob es daran liegt, dass die Sektenberatungsstelle in Luzern vor elf Jahren schliessen musste?

«Er kam Tag für Tag auf mich zu, flüsterte mir ins Ohr, dass er mich liebte und mich begehrte. Das schreckte mich ab, ich lehnte seine Avancen mehrere Male ab. Aber auch seine Frauen und Freundinnen kamen auf mich zu, um mich davon zu überzeugen, wie wertvoll und ehrenvoll es sei, Sex mit [dem Guru] zu haben und von ihm geliebt zu werden. Es sei etwas Aussergewöhnliches, man sei quasi ‹auserwählt›.»

Diese Erinnerungen gehören Viola, die in Wahrheit anders heisst. Was ihr im Komaja-Zentrum in Istrien passiert ist, hat sie der Sektenberatungsstelle Infosekta erzählt. Gemäss der Fachstelle mit Sitz in Zürich verwende der Guru Makaja Sex zur «Befreiung von alten Mustern» und zur Überwindung des Egos. Während er sich selbst als Vertreter einer utopischen Gemeinschaftsidee verstehe, würden ihm Kritiker sektenhaftes Verhalten vorwerfen. Er selbst sieht das deutlich anders. Gegenüber der «Süddeutschen Zeitung» sagte er einmal: «Die Frauen jagen mich.»

«Ich war ein junges Mädchen vom Lande, neu in einer grossen Stadt, ohne Familie.»

Ehemaliges Mitglied der Komaja-Gemeinschaft

Im Jahr 1994 gründete der gebürtige Kroate in der Schwyzer Gemeinde Gersau die Komaja-Stiftung. Viola lernte ihn beim Mantrasingen kennen. Dass ihr der heute 70-Jährige Komplimente machte, fand sie merkwürdig, wie sie später sagen wird. Warum sie wiederkam? «Ich war ein junges Mädchen vom Lande, neu in einer grossen Stadt, ohne Familie.»

Schlussendlich reiste Viola in das kroatische Zentrum «Cherry Blossom». Und liess sich dort auf Sex mit dem Guru ein. «Das erste Mal (...) war abstossend und ekelerregend für mich (...)», erinnert sie sich in dem Bericht. Was Viola geschehen ist, scheint kein Einzelfall zu sein.

Kleine Sekten nehmen schweizweit zu

Rund 1000 Sekten sind in der Schweiz aktiv und werben um Anhänger. Infosekta, die schweizerische Fachstelle für Sektenfragen, spricht gar von einer «Pulverisierung des Weltanschauungsmarktes». Etliche Gruppen seien so klein, dass es im Internet kaum Informationen über sie gäbe. Männer würden sich zu Gurus stilisieren, geleitet vom Wunsch nach Macht, Anerkennung, Geld oder Sex, schrieb der Sektenkenner Hugo Stamm vor wenigen Wochen auf «Watson».

Etwa 300 solch kleine Gruppen verursachen zwei Drittel der Anfragen, die bei Infosekta eingehen. Rund die Hälfte davon sind dem christlichen und je ein Viertel dem esoterischen und säkularen Umfeld zuzuordnen. Auch nicht religiöse Bewegungen sind darunter. Wie etwa Multi-Level-Marketing-Systeme, bei denen Online-Coaches Erfolg und Geld versprechen, aber Abhängigkeiten schaffen. Insgesamt rund 3000 An­fragen hat die Beratungsstelle im Jahr 2022 beantwortet.

«Die Sektenberatungsstelle in der Zentralschweiz zu schliessen, war auf jeden Fall ein Fehler.»

Martin Scheidegger, ehemaliger Berater in Sektenfragen

Nicht selten kamen diese Anfragen auch aus der Zentralschweiz. Etwa 390-mal wurde Infosekta im vergangenen Jahr von hier kontaktiert. Die Region liegt damit hinter der Anzahl der Anfragen aus Zürich oder Bern, aber vor Basel und dem Aargau. Für Martin Scheidegger, der über 20 Jahre lang einen ähnlichen Beratungsdienst in Luzern angeboten hat, ist klar: «Die Sektenberatungsstelle in der Zentralschweiz zu schliessen, war auf jeden Fall ein Fehler.»

Sektenberatungsstelle in der Zentralschweiz

Von 1990 bis 2012 leitete der reformierte Pfarrer eine spezialisierte Sektenberatungsstelle für die Zentralschweiz. Finanziert wurde die ökumenische «Beratungsstelle religiöse Sondergruppen und Sekten» von allen drei Zentralschweizer Landeskirchen. «Unsere Hauptfunktion war, Menschen und Angehörige zu beraten und zu begleiten, die in eine sektenhafte Abhängigkeit geraten sind», erzählt er auf Anfrage von zentralplus. Doch mit der Ausbreitung des Internets veränderte sich der Beratungsdienst.

Martin Scheidegger hat die ehemalige Sektenberatungsstelle für die Zentralschweiz aufgebaut. (Bild: zvg)

«In den 1990er-Jahren kamen die Menschen noch zu uns ins Büro in Luzern. Später wurden diese Infrastrukturen weniger gebraucht», erinnert sich Scheidegger. Als die kirchlichen Träger im Jahr 2012 das Angebot einstellten, sei das «jammerschade» gewesen. Und auch diskussionswürdig: Denn damals waren die persönlichen Beratungen zwar deutlich zurückgegangen, die Zugriffe auf die Website der Fachstelle blieben aber stabil. «Unser Angebot wurde immer noch gebraucht», meint der ehemalige Leiter.

Heute lebt Martin Scheidegger im bernischen Ittigen und führt auf seiner Website das Angebot «auf freiwilliger Basis» weiter. Dass die Fachstelle in der Zentralschweiz eingestellt wurde, läge auch ein wenig am «Widerwillen der katholischen Kirche», sagt er. Grundsätzlich könne man sagen: «Das Verhältnis zwischen der Kirche und anderen religiösen Gruppen in der Zentralschweiz ist eher schwierig.»

Darum wurde die Sektenberatungsstelle eingestellt

Als die Beratungsstelle im Jahr 2012 aufgelöst wurde, war für die Zentralschweizer Landeskirchen und Kantonalkirchen klar, dass es eine Alternative braucht. Denn schon damals verlagerte sich das Geschehen von den «medienwirksamen klassischen Sekten» hin zu kleineren Gruppierungen, die Menschen abhängig machen, schrieben die Träger in einer Medienmitteilung.

Doch wie die Lücke gefüllt werden soll, war umstritten. Während die Reformierten für eine gesamtschweizerische Lösung eintraten, war die katholische Kirche unschlüssig. Das bestätigt der Luzerner Bischofsvikar Hanspeter Wasmer auf Anfrage von zentralplus: «Die katholische Kirche war damals noch unschlüssig, ob es eine regionale Arbeitsstelle braucht, entschied sich dann aber für die professionellen Stellen in Zürich und Basel.»

Der Bischofsvikar Hanspeter Wasmer ist einer der zwei Stellvertreter von Bischof Felix Gmür. (Bild: zvg)

Mit «professionellen Stellen» meint Wasmer zum einen Relinfo, die evangelische Informationsstelle für Kirchen, Sekten und Religionen im zürcherischen Rüti; ausserdem Inforel, einen unabhängigen Verein über Religion und Religionsgemeinschaften in der Region Basel; und die Fachstelle Infosekta. Pfarreien oder Kirchgemeinden auf der Suche nach fachlichem Rat können sich an diese Stellen wenden, sagt der Bischofsvikar.

Eine spezialisierte Stelle für die Zentralschweiz brauche es daher nicht mehr. «Die Beratung über die anderen Fachstellen funktioniert gut, und es wäre äusserst schwierig und sehr kostspielig, eine Zentralschweizer Stelle mit dem gleichen Wissensstand wieder zu errichten.»

Infosekta verzeichnet mehr Anfragen aus der Zentralschweiz

Susanne Schaaf, Geschäftsleiterin von Infosekta, sieht das in Teilen anders. Dass die Luzerner Stelle im Jahr 2012 abgeschafft wurde, bezeichnet sie gegenüber zentralplus als «rechten Skandal». Martin Scheidegger habe die Stelle «super» geführt. «Durch die Schliessung der Stelle von Herrn Scheidegger haben die Anfragen aus der Region zugenommen», sagt Susanne Schaaf.

«Durch die Schliessung der Stelle haben die Anfragen aus der Region zugenommen.»

Susanne Schaaf, Geschäftsleiterin von Infosekta

Die Frage, ob es wieder eine Beratungsstelle für die Zentralschweiz brauche, sei aber kompliziert.«Ich kann mir vorstellen, dass es sinnvoll wäre, wenn Herr Scheidegger die Arbeit vor Ort wieder aufnimmt», erzählt sie. Denn die Nähe zu den Personen, die Beratung brauchen, sei sehr hilfreich. Ausserdem hätten Relinfo und Infosekta «extrem viel zu tun».

Andererseits seien die Stellen seit Jahrzehnten tätig und hätten ein wichtiges Know-how aufgebaut. Falls es einen neuen Anlauf in der Zentralschweiz geben wird, sei es wichtig, «auf bestehenden Strukturen aufzubauen».

Können Menschen vor Sekten geschützt werden?

Ob das einmal nötig wird? Der Luzerner Bischofsvikar beobachtet schon jetzt einen Wandel in der Zentralschweiz. «Die Gefahr für Luzernerinnen und Luzerner, in eine Sekte zu geraten, ist grösser als früher.» Ein Grund sei, dass die kirchliche Bindung vielfach nicht mehr so stark sei, meint Hanspeter Wasmer.

Daran könne die Kirche nur bedingt etwas ändern. «Sicher wird die Kirche Menschen immer beraten, wenn sie mit diesbezüglichen Fragen kommen und bei Bedarf entsprechend warnen», erklärt Wasmer. «Es ist und bleibt aber der freie Entscheid eines jeden Menschen, wem oder welcher Ideologie er oder sie sich anschliesst.»

Verwendete Quellen
  • Schriftlicher Austausch mit Bischofsvikar Hanspeter Wasmer
  • Schriftlicher Austausch mit Martin Scheidegger
  • Telefonat mit Susanne Schaaf, Geschäftsleiterin von Infosekta
  • Artikel auf «kath.ch»
  • Artikel in der «Luzerner Zeitung»
  • Infosekta Jahresbericht 2022
  • Artikel im «Blick»
  • Eintrag im historischen Lexikon der Schweiz
  • Artikel im «Tagblatt»
  • Artikel auf «Watson»
  • Website der katholischen Kirche Luzern zu Hanspeter Wasmer
  • Artikel in der «Süddeutschen Zeitung»
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