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Englisch oder schweizerdeutsch sprechende Ware?

Die üble Nachrede vom angeblich unpopulären Schweizer Film

Ist der Schweizer Film unpopulär, weil er weniger Kinoeintritte bringt als eine Hollywood-Produktion? (Bild: Kurt Lussi)

Das Filmgesetz wurde kürzlich deutlicher angenommen als erwartet. Und dies, obwohl die Gegner behaupten, dass das Publikum lieber Hollywood-Produktionen sehen würde. Der Luzerner Filmemacher und Kulturblogger Edwin Beeler über die angebliche Unpopularität des Schweizer Films.

Die «No Billag»-Initiative wurde im März 2018 von Volk und Ständen abgelehnt, die Empfangsgebühr für Radio und Fernsehen nicht abgeschafft. Ich erinnere mich: Es war eine Zitterpartie. Genau wie vor rund zwei Wochen, als über das Filmgesetz abgestimmt und dieses mit höherer Zustimmung angenommen wurde, als prophezeit.

Beide Abstimmungen haben Gemeinsamkeiten. Die Gegner der Vorlagen stammen aus Kreisen der Jungfreisinnigen und der SVP. Argumentiert wurde stets mit dem «freien Markt», mit dem «freien Wettbewerb», mit angeblich «schlechten Schweizer Filmen» und staatlichem Medienmonopol.

Schmutziges Geheimnis hinter Schweizer Filmförderung?

Nach der für die Gegner verlorenen Filmgesetz-Abstimmung kommentierte die NZZ: «Lex Netflix»: Die geschickte Verpackung rettet den Ausbau des Film-Heimatschutzes. Hinter der Schweizer Filmförderung stecke ein schmutziges Geheimnis.

Woher weiss der Kommentator, dass man «lieber amerikanische Filme oder koreanische TV-Serien» schaut? Und dass Schweizer Filme «potenziell unpopulär» sein sollen? Meint er damit zum Beispiel den Film «Und morgen seid ihr tot» von Michael Steiner («Mein Name ist Eugen»)? Dieser Film hat tatsächlich allzu wenige Leute in die Kinos gelockt. Ich habe ihn gesehen. Er ist hervorragend. Hat ihn der Kommentator auch gesehen, oder hat er nur die Kinoeintrittsstatistiken studiert?

Und warum wurde zum Beispiel Peter Liechtis Film «The Sound Of Insects» 2013 mit dem Europäischen Filmpreis ausgezeichnet? Ein Film, der in der Schweiz nur 2317 Kinoeintritte verbuchen konnte? Liegt es am bescheidenen Werbebudget? Nach dieser abstrusen Logik sind Bücher von Peter Bichsel schlechter als Bücher von Rosamunde Pilcher. Deren Bücher verkaufen sich auf dem «Markt» insgesamt viel besser.

Hollywood liegt nicht in der Schweiz

Spider-Man: No Way Home war 2021 der erfolgreichste Kinokassenschlager mit total rund 541’000 Eintritten. Der Film hat rund 200 Millionen US-Dollar gekostet. An der Kinokasse hat er bisher rund 1,9 Milliarden US-Dollar eingespielt. Seine Werbekosten dürften die Kosten eines aufwändigen Schweizer Spielfilms um viele Millionen übersteigen.

Die gesamte jährliche Schweizer Filmförderung (Bund, Kantone/Regionen, Fernsehen, Stiftungen und Private) könnte niemals einen Film dieser Grössenordnung im Jahr herstellen. Auch nicht in Koproduktion mit anderen europäischen Ländern. Trotzdem vergleichen die Schlechtmacher von Schweizer Filmen unsere Produktions- und Marktverhältnisse häufig mit jenen von Hollywood, der Metapher für Blockbuster, Stars und Mainstream.

Identitätsbildung für 340 oder 5,3 Millionen Menschen?

Der Filmmarkt für englische Muttersprachler umfasst eine weltweite Bevölkerung von rund 340 Millionen Menschen. Schweizerdeutsch als Muttersprache sprechen nur 5,3 Millionen Menschen, also 64-mal weniger Leute. Die Produktion eines durchschnittlich teuren Schweizer Filmes kostet aber nicht 64-mal weniger als im englischsprachigen Teil der Welt.

Für die grossen Streaming-Anbieter, die meisten in den USA domiziliert, lohnt es sich also eher, englischsprachige Filme mit US-amerikanischem Hintergrund zu produzieren. Der Markt für diese Filme ist gross, und anderssprachige Filme mit Untertiteln in englischer Sprache guckt dort nur ein Nischenpublikum.

Schweizer Netflix-Konsumenten wissen Bescheid über die Probleme in den Ghettos amerikanischer Städte, erkennen die Skyline von Miami oder die bizarren Wüstenlandschaften von New Mexico; sie wissen, welche Konflikte in amerikanischen Familien ausgetragen werden, wie sich der Rassismus auswirkt oder wie schmutzig amerikanische Wahlkämpfe ablaufen können. Viele Netflix-Filmangebote tragen ihren Teil bei zur Bildung der nationalen Identität der USA und fördern indirekt meine Erkenntnisse (oder auch Klischeevorstellungen) darüber.

Welche Filmsprache spricht ein Schokoladen-Artikel?

Der NZZ-Kommentator meint, für die Rechtfertigung einer Subvention – die Reinvestitionspflicht ist keine Subvention, auch wenn es nach der verlorenen Abstimmung behauptet wird – brauche es «einen gesamtgesellschaftlichen Nutzen über den Eigennutzen der Subventionierten hinaus. Sonst müsste man jede andere Branche auch subventionieren». Er stellt die Frage, ob «Schweizer Filme die nationale Identität mehr als Schweizer Maschinen, Uhren, Dia­gnosegeräte, Schokolade, Medikamente, Beizen, Software-Entwicklungen und hundert andere Produkte» stärken würden.

Ich stelle mir umgekehrt die Frage, ob Schweizer Uhren, Schokolade, Medikamente und so weiter Englisch sprechen oder Schweizerdeutsch, und welche Geschichten sie erzählen. Also gucke ich mir eine Schokolade an und frage sie nach ihrer Geschichte; Hallo Nussschoggi, erzähl’ mir Deine Geschichte, und zwar in meiner Sprache. Welche Protagonistinnen und Protagonisten stecken in Deinem Kakao, und welche Konflikte lese ich an Deinen Nüssen ab?

Vielleicht lernen wir bald neue Schweizer Figuren und Orte kennen

Erzähl’ mir bitte die Geschichte von Heidi, von Walter Stürm, von Schweizer Spanienkämpfern, von Schweizer Bergbauern und Älplern, vom Monte Verità vom Kunstmaler Segantini oder vom Liedermacher Mani Matter. Doch die Schokolade schweigt, sie erzählt keine Geschichte. Sie bringt mich nicht zum Lachen oder Weinen, sie ist bloss eine leblose Ware. Auch eine Beiz allein erzählt keine Geschichte. Eine Beiz muss mit Gästen belebt werden. Sie erzählen dort Geschichten, Geschichten beispielsweise, die sie selber erlebt haben: in ihrer Nachbarschaft, während der Arbeit, in ihren Ferien, in ihrer Familie.

Was sie erzählen, sind keine Gebrauchsprodukte. Es sind ihre ureigenen, persönlichen Geschichten, erzählt in ihrer Muttersprache. Diese haben keinen Warencharakter. Vielleicht lerne ich dank der Reinvestitionspflicht auf Netflix bald mehr Figuren, Orte und Geschichten kennen, die zum Beispiel in Visp oder am Murtensee spielen und davon handeln, was uns hier beschäftigt, so, wie mir bisher Netflix-Filme spannende Geschichten aus Albuquerque in New Mexico angeboten hat. Doch davon wollen die Schweizerfilm-Gegner und Gratiskultur-Apologeten in ihrer geschichts- und erinnerungsfernen Haltung nichts wissen.

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