Judith Wegmann erhält Auszeichnung

Zuger Pianistin: «Das Klavier ist in mir»

Sie spielt Freejazz genauso sicher und gerne wie Klassik. Fühlt sich in der Improvisation und der zeitgenössischen Musik zu Hause. Die Pianistin Judith Wegmann ist eine eher leise Person, forscht an Klang und Zeit und spielt im Ausland vor vollen Sälen. Ihr Heimatkanton ehrte sie nun mit dem renommierten «Zuger Werkjahr 2021».

An heissen Sommertagen hört man sie von weitem. Feine Klänge. Musik. Sie schweben um die Köpfe, begleiten einen auf dem Gang durch die Bieler Altstadtgassen. Offene Fenster tragen die Töne der Übenden auf die Pflastersteine. Diese Klavierklänge gehören sommers in die Altstadt, fast wie die ununterbrochen plätschernden Brunnen. Es gibt einige Pianisten und Pianistinnen in der Altstadt. Eine davon ist Judith Wegmann.

Sie ist ein Arbeitstier. Seit sie sechs Jahre alt ist, verging kaum ein Tag, an dem sie nicht spielte. Als Kind zwei Stunden, später mindestens deren vier und vor Projekten und Konzerten gerne bis zu neun. Hört man ihre Klänge nicht, sitzt sie in ihrem Atelier in der Bieler Innenstadt.

Da ist sie dann jeweils ganz für sich. Ohne äussere Brunnen-, Kaffeetassen- und Stimmengeräusche. Ohne zuhörende Katze. Und ohne Computer, der stets mit Organisationsarbeit auf sie wartet. Denn Wegmann macht alles selber. «Ich bin meine eigene Managerin und mein eigenes Büro», sagt sie und lacht.

Immer und überall

Neben des Klavierspiels bedeutet dies: Projekte lancieren. Mitmusiker suchen. Kompositionsaufträge herausgeben. Dossiers schreiben. Tourneen organisieren. In Oberägeri im Kanton Zug 27 Schüler unterrichten. Buchhaltung. Geldakquise.

«Ich wünsche mir die Welt manchmal etwas langsamer.» 

Judith Wegmann, Pianistin

Seit 2015 ist sie zusätzlich Mitglied der «Werkstatt für Improvisierte Musik Bern», seit 2020 deren Präsidentin. «Ich komme locker auf Siebzigstundenwochen.» Für ein Projekt rechnet sie meistens mit einem Jahr Arbeit. Beginnt es endlich, koordiniert sie bereits das nächste. Sie ist bis zu drei Jahre im Voraus verplant, betreut und spielt bis zu fünf Projekte parallel.

Ferien? «Vielleicht dreimal in den letzten zwanzig Jahren.» Frei? «Etwa zwei bis drei Tage pro Jahr.» Und doch sieht man sie mal bei einem Kaffee sitzen oder auf einem Konzert. «Na, das sind meine Pausen.»

Stimme und Schutz

Sie kann nicht anders. «Das Klavier ist in mir», sagt sie. Es ist gleichzeitig ihre Stimme wie auch ihr Rückzugsort. Es ist weder ein Druck noch eine Sturheit, die sie nimmermüde vorantreibt. Sondern vielmehr ein Bedürfnis. «Mit Worten komm ich meistens viel weniger weit als mit der Musik.» Gefühle und Gedanken brauchen Raum. Und den bekommen sie bei Wegmann eben durch das Klavier.

Seit sie fünf war, wusste sie, dass sie Pianistin werden wollte. «Es war früh meine eigene Welt, mein Kokon», so Wegmann. Oft war sie lieber mit dem Instrument als mit anderen Kindern. Langjährige Freunde wissen, dass sie ihre Abtauchphasen noch heute braucht. Das hat nichts mit depressiven Stimmungen zu tun. Dann, dann ist sie schlicht hundert Prozent Musik.

Und dann taucht sie plötzlich wieder auf. Mit einer neuen Tournee. Mit einem neuen Projekt. Und man fragt sich einmal mehr, woher sie diese Energie, diese Kraft nimmt. «Ich glaube, ich habe einfach eine unglaublich hohe Belastungsgrenze», versucht sie es selbst zu erklären. «Das habe ich von meiner Mutter», sagt sie. Alleinerziehend im Kanton Zug verzichtete sie auf vieles, steckte zurück und arbeitete oft bis tief in die Nacht, um den beiden Mädchen beispielsweise Musikunterricht zu ermöglichen.

Ferien gab es schon damals kaum. «Es war nicht immer einfach. Aber ich bin ihr unglaublich dankbar.» Ohne sie wäre ganz vieles nicht möglich gewesen, da ist sich Wegmann sicher. «Sie lehrte mich, mit wenig Mittel viel zu erreichen.»

Judith Wegmann mäandert. Zwischen Freejazz, zeitgenössischer Musik, Klassik und Improvisation. Wie kaum eine zweite ist sie überall zu Hause. Und wie ihre stets schwarze Kleidung erahnen lässt, liebt sie auch Punk und Gothic. Zum einen ist diese schwarze Kleidung eine Art Schutzhülle für sie, als hochsensitive Person nimmt sie vieles ungefiltert auf.

Ins Kino geht sie deshalb nie. Das ist zu viel auf einmal. Mit Schwarz fühlt sie sich irgendwie geborgen. Und es hat auch eine praktische Seite: «Ich bin immer richtig angezogen», sagt sie lachend. «Ich spiele ein klassisches Konzert und kann danach gleich auf eine Gothic-Party.»

Raum und Ruhe

Es sind die Brüche, Umbrüche und Schnittstellen des Lebens, die sie interessieren und die sie in Musik verwandelt. Eine Grenzgängerin ist sie, die weder das Schöne, noch das Geradlinige sucht. So wusste sie schon als Jugendliche: «Klassiche Pianistin? Okay. Aber da gibt’s ja noch anderes ...»

Also landete sie als fünfzehnjährige Jungstudentin noch während der Schulzeit an der Jazzschule Luzern und Bern. Sechs Jahre. Dann ein Jahr Vorbereitung, bevor sie schliesslich das Klassikstudium mit Doppelmaster in Neuchatel und Basel absolvierte.

In Wegmanns Arbeit zieht sich auch das Thema «Zeit und Vergänglichkeit» wie ein roter Faden durch ihre Projekte. Solokonzerte dauern bei ihr oft mindestens zwei Stunden. Ohne Pause. Die Menschen dürfen sich dann manchmal auch hinlegen und gar einschlafen. Sie will Raum und Ruhe schaffen in einer viel zu schnellen Welt. Denn: «Ich wünsche mir, die Welt manchmal etwas langsamer», sagt sie.

Da habe ihr die Pandemie etwas in die Karten gespielt. Konzerte fielen weg, also unterrichtete sie online, arbeitete intensiv an fünf verschiedenen Albumaufnahmen für das internationale Label HatHut und an der Bewerbung für das Zuger Werkjahr und machte einen Selbstversuch: kein Klavierspiel für zwei Monate. «Das hat mir physisch weh getan. Das geht schlicht und einfach nicht.»

Freude und Tränen

Dann kam die gute Nachricht: Wegmann erhielt tatsächlich die Auszeichnung «Zuger Werkjahr 2021». «Man hofft natürlich darauf, wenn man sich bewirbt. Aber damit gerechnet? Nein.» Tränen flossen, als sie den Anruf bekam. Tränen der Erleichterung. Der Freude. «Da arbeitet man so viel, so lange», sagt sie, «dann ist eine solche Ehrung schlicht etwas Unglaubliches.»

Die 50’000 Schweizer Franken seien aber alle schon fast wieder verplant. Das meiste fliesse direkt in neue Projekte. Zum Beispiel in die Kon.Takte-Tournee 2022, ein aufwändiges langjähriges Klangforschungsprojekt mit bis zu hundert Schlaginstrumenten. Davor erscheinen noch zwei der fünf Alben aus der Corona-Zeit – ganz Wegmannisch – einmal Freejazz und einmal Klassik, seltene Werke von Eric Satie.

Doch ist der allernächste Termin Wegmanns ein ganz anderer: Diesen Mittwoch wird sie in Zug diesen Preis endlich entgegennehmen können.

Hinweis: Dieser Artikel ist zuerst im «Bieler Tagblatt» publiziert worden.

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