Was wir aus fremden Trauer-Ritualen lernen können

Zuger Archäologe: «Unsere Haltung in Bezug aufs Sterben ist nicht hilfreich»

Cris Violatti hat sich mit dem Tod in verschiedenen Kulturen auseinandergesetzt. (Bild: zvg)

Mit dem Tod tun wir uns schwer. Doch genau deshalb sollten wir uns mit Todesritualen befassen, die für uns befremdlich sind und uns vielleicht sogar abstossen. Dieser Überzeugung ist Archäologe Cris Violatti aus Zug. Unser Weg zu trauern müsse nicht zwingend der einzig richtige sein.

Am kommenden Donnerstag wird im Rahmen eines Anlasses von Palliativ Zug über ein Thema gesprochen, das vielen Menschen Unbehagen bereitet. Nicht nur redet der Zuger Archäologe Cris Violatti über den Tod an sich, sondern speziell über den Umgang des südamerikanischen Volksstamms Yanomami mit seinen Toten. Dass die Ausführungen des Archäologen und Geschichtsexperten wohl auf Unverständnis stossen dürfte, ist dem Unterägerer nicht nur bewusst, sondern es kommt ihm sogar ganz gelegen, wie er im Interview mit zentralplus verrät.

zentralplus: Herr Violatti, können Sie kurz erläutern, was es mit dem Totenritual der Yanomami auf sich hat?

Cris Violatti: Die indigene Volksgruppe der Yanomami praktiziert den sogenannten Endokannibalismus. Damit ist der Verzehr von Fleisch verstorbener Stammesgenossen gemeint. Stirbt jemand aus der Gemeinschaft, hat sie eine Arbeitskraft weniger. Den einzigen Weg, den toten Körper zu ehren, sieht der Stamm darin, dass dieser etwas für sie tut. Grundsätzlich messen die Yanomami dem Körper eine grosse Wichtigkeit zu. Der Körper des Toten wird zunächst verbrannt, die Asche wird später mit Honig und Bananen vermischt und von den Stammesmitgliedern gegessen. Die übrig gebliebene Asche des Leichnams wird verwendet, um den Boden zu düngen. Somit ist die verstorbene Person zwar nicht mehr physisch da, dennoch hat sie einen letzten Beitrag an die Gemeinschaft geleistet.

zentralplus: Das klingt zwar etwas befremdlich, aber auch sehr ökonomisch.

Violatti: Absolut. Ist man Teil dieses Volkes, würde man sich den Umgang mit der eigenen Leiche nicht anders wünschen. Im Gegenteil. Es wäre beleidigend, wenn man diesen letzten Beitrag nicht leisten dürfte. Abgesehen von den Yanomami gibt es weltweit einige andere Volksgruppen, die ähnliche Ansätze haben. Der Körper soll nicht verschwendet, sondern sinnvoll genutzt werden.

«Ich will nicht unbedingt Werbung für den Endokannibalismus machen.»

Cris Violatti, Historiker

zentralplus: Warum haben Sie für den Anlass, an dem Sie vor Palliativ Zug sprechen, gerade dieses Beispiel herausgepickt?

Violatti: Für uns ist das Konzept des Endokannibalismus sehr schwer nachzuvollziehen. Wenn man jedoch genauer darüber nachdenkt, steckt dahinter eine wichtige Lektion. Jede Gesellschaft hat ihre meist sehr strikten sozialen Regeln, wie man mit dem Tod und den Toten umgeht. Bei uns etwa wird erwartet, dass wir wenige Tage nach dem Tod eines Liebsten wieder zur Arbeit gehen. Auch ist es eine Erwartung der Gesellschaft, dass wir nicht zu offen weinen sollten. Ich glaube nicht, dass uns diese Regeln guttun. Die Geschichte der Yanomami zeigt uns auf, dass es im Umgang mit dem Tod verschiedene Wege gibt und dass unser Weg nicht der einzig richtige ist. Auch wenn ich nicht unbedingt Werbung für den Endokannibalismus machen will.

Die Yanomami leben in Brasilien und Venezuela. (Bild: Wikipedia/CC)

zentralplus: Haben Sie die Yanomami selber besucht?

Violatti: Nein, doch konnte ich mit mehreren Anthropologen sprechen, welche die Volksgruppe besucht und mit ihnen gearbeitet hatten.

zentralplus: Wenn man sich im Netz Informationen zum Totenritual der Yanomami anschaut, sind die Reaktionen der Leser oft verständnislos, ja gar entrüstet.

Violatti: Das glaube ich. Mir war es beim Zusammenstellen des Talks wichtig, dass ich die Menschen aus der Komfortzone hole. Es geht mir nicht darum, über das grausamste Ritual zu berichten, das ich gefunden habe. Da gibt es einige andere, die für unsere Gesellschaft deutlich grausamer wirken. Im Gegenteil, die Idee, dass jemand nach dem Tod zur Fruchtbarkeit des Bodens beiträgt, finde ich sehr schön. Vielmehr wollte ich eine Tradition beleuchten, die für uns möglichst fremd ist. Trotzdem lässt sich damit eine Brücke schlagen zu den bekannten Phasen der Trauerbewältigung.

zentralplus: Sie meinen die fünf Phasen, welche die Sterbeforscherin Elisabeth Kübler Ross definiert hat?

Violatti: Genau. Als erste Phase gilt das Leugnen, dann die Wut, die Verhandlungsphase, die Depression und letztlich die Akzeptanz. Der Umgang mit dem Tod, wie ihn die Yanomami handhaben, passt sehr gut ins Thema Akzeptanz. Bei anderen Kulturen herrschen andere Phasen vor. Es gibt beispielsweise verschiedene Kulturen, die sich intensiv mit dem ewigen Leben befasst haben, besonders in China. Das ist ein klassisches Beispiel des Leugnens. Die Toraja, ein Volk auf der Insel Sulawesi, behalten ihre Toten monatelang im Haus, besuchen sie und sprechen mit ihnen, als wären sie lebendig. In dieser Kultur wird so getan, als wären die Verstorbenen noch am Leben.

«Es geht mir darum, extreme kulturelle Formen zu zeigen, um die Leute aus ihrer Normalität zu holen.»

Cris Violatti

zentralplus: In der Schweiz ist der Tod ein Tabu. Dieses dürfte insofern verstärkt werden, als wir immer weniger mit dem Thema konfrontiert werden. Wollen Sie den Leuten mit ihrem Vortrag die Angst vor dem Tod nehmen?

Violatti: Es wäre wohl vermessen, dies zum Ziel zu haben. Dafür bin ich nicht qualifiziert. Vielmehr geht es mir darum, diese extremen kulturellen Formen zu zeigen, um die Leute aus ihrer Normalität zu holen. Ich will ihnen helfen, anders über den Tod zu denken. Die Haltung, die wir in Bezug auf das Sterben in unserer Gesellschaft haben, sind nicht unbedingt hilfreich. Wir trauen uns nicht, unsere Gefühle zu zeigen, und schämen uns dafür, traurig zu sein. Auch wagen wir oft nicht, uns Hilfe zu holen, egal ob wir nun selber von einer Krankheit betroffen sind oder jemanden verloren haben. Ich lade die Leute dazu ein, sich Gedanken über die gängigen Erwartungen zu machen. Dabei kann uns die Geschichte helfen.

zentralplus: Inwiefern?

Violatti: Wir leben nur dieses eine Leben. Humanwissenschaften wie Geschichte, Anthropologie und auch Philosophie können uns helfen, einen kleinen Einblick zu erhalten, wie es andere Kulturen machen. Das kann uns helfen, unseren eigenen Horizont zu öffnen.

Im Rahmen eines Anlasses von Palliativ Zug spricht der gebürtige Argentinier Cris Violatti über das Thema Tod in verschiedenen Kulturen und insbesondere über den Umgang mit dem Tod im Volksstamm der Yanomami. Der Anlass findet am Donnerstag, dem 10. Juni um 19 Uhr im Zugorama der V-Zug statt. Der Vortrag wird in englischer Sprache gehalten.

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5 Kommentare
  • Profilfoto von Marc Mingard
    Marc Mingard, 08.06.2021, 12:52 Uhr

    Der Artikel beginnt leider bereits allzu wertend: «Mit dem Tod tun wir uns schwer.»
    Besser wäre: «Es gibt Menschen die tun sich mit dem Tod schwer.»
    Oder: «Der Tod macht vielen Menschen Angst.»

    Der Umgang westlicher Gesellschaften mit dem Tod ist das Resultat mehrere Jahrhunderte Indoktrination durch die Kirche, die daraus auch lange Zeit ein Werkzeug der Unterdrückung (Paradies vs. Hölle) und Geschäft (Ablasshandel um ins Paradies eintreten zu dürfen) gemacht hat.

    Der aktuelle Gesundheit um jeden Preis sowie Selbstoptimierung via Apps und Tech Gadgets Hype hilft da auch nicht wirklich weiter.

    Mittlerweile treten aber immer mehr Menschen an mich heran, die durch selber denken und hinterfragen herausgefunden haben, dass dies eben nicht der Weg sein kann. Die Leben entspannter und befreiter, insgesamt angstfreier. Was gibt es befreienderes als sich der eigenen Endlichkeit bewusst zu sein und damit jeden verbliebenen Tag so gut zu nutzen wie es geht?

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    • Profilfoto von Roli Greter
      Roli Greter, 08.06.2021, 17:29 Uhr

      Sehr guter Kommentar Herr Mingard. Angstfrei lebt es sich am Schönsten, und wenn man sich bewusst ist dass jede Geburt auch ein Todesurteil ist gehts ganz leicht.

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  • Profilfoto von Andy Bürkler
    Andy Bürkler, 08.06.2021, 10:19 Uhr

    Für mich ist diese Betrachtung etwas zu undifferenziert.
    Unter «Tod» verstehe ich eher den Umgang mit der eigenen Endlichkeit und dem Vorgang des Sterbens, den sich wahrscheinlich niemand richtig vorstellen kann.
    Die Ängste und die Ungewissheit sind hier das Ausschlaggebende.

    Was hier beschrieben wird, betrifft doch eher die Gefühle der Hinterbliebenen und da ist wohl jedes Ritual hilfreich. Die Organisation der Beisetzung z.B. an dem sich die ganze Familie beteiligt, das Verfassen des Nachrufs, das Heraussuchen der würdevollsten Fotografie des Verstorbenen etc.
    Nach meiner Erfahrung, trägt das schon viel zur Verarbeitung des Geschehenen bei.
    Danach die Beisetzung und das Leidmahl mit möglichst vielen Leuten und schon hat man das Gefühl, etwas gearbeitet und verarbeitet zu haben.
    Was danach kommt ist natürlich individuell unterschiedlich (Falls der Partner Verstorben ist: Leeres Haus, Einsamkeit…) und hat vielleicht nicht mehr direkt mit dem Phänomen Tod zu tun.

    Generell sollt man den Tod etwas gelassener entgegensehen und nicht glauben, ein «Nanny Staat» könnte uns davor bewahren, wie das in der Coronazeit manchmal den Anschein machte.

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  • Profilfoto von danke
    danke, 08.06.2021, 09:29 Uhr

    super story

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  • Profilfoto von Stephan Michel
    Stephan Michel, 08.06.2021, 08:16 Uhr

    Gutes Beispiel mit den Indios, wie man mit dem Boden sinnvoll umgehen kann. Unsere Toten werden meistens verbrannt oder bei Erdbeszartungen nach 25 Jahren wieder ausgebuddelt. Im krassen Gegensatz dazu jüdische Friedhöfe, wo die Gräber überhaupt nie mehr angetastet werden dürfen. Welche Verschwendjng von Ressourcen weltweit.

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