Neue Formen der Nächstenliebe im Internet

Zu Hilfe ihr Zuger, zu Hilfe!

«Zuger helfen Zugern»: Hier werden bei Bedarf virtuelle Rettungsring ausgeworfen. (Bild: Fotolia)

Die Facebook-Plattform «Zuger helfen Zuger» hat Hochkonjunktur. Die Mitgliederzahl steigt rasant, fast für jedes Anliegen werden innert Stunden Lösungen geboten. Was steckt dahinter und weshalb wollen die alle helfen?

«Ich suche eine Katzen-Handpuppe von Ikea. Meine Tochter hatte seit ihrer Geburt eine solche Katze und hat sie am letzten Freitag verloren. Sie wie auch ich sind am Verzweifeln, hat jemand noch eine irgendwo rumliegen?», schreibt eine verzweifelte Mutter auf der Plattform «Zuger helfen Zugern». Und tatsächlich. Ein Gruppenmitglied hat zu Hause per Zufall eine identische Katzenpuppe herumliegen, die Kindertränen konnten nachhaltig getrocknet werden.

Von der Hornissenplage zur Lebensmittelnot

In der Facebook-Gruppe «Zuger helfen Zugern» geht es aber nicht nur darum, traurige Kinder zu trösten. Hier werden poppige 80er-Jahre-Skistöcke, gebrauchte Wasserkocher, nicht mehr ganz intakte Rührgeräte verschenkt, hier wird nach guten Steakhäusern, günstigen Wohnungen oder Tipps zur Hornissenbekämpfung gefragt. Und zwischendurch geht’s auch mal ans Eingemachte. Mütter, die all ihren Mut zusammengenommen haben, bitten öffentlich um Grundnahrungsmittel, weil das Konto Ende Monat leer wird.

«Ich verstehe, wenn jemand seine Würde nicht verlieren möchte, indem er sich zur Armut bekennt.»

Rosa Kolm, Gründerin der Plattform «Zuger helfen Zugern»

In solchen Fällen kommen die Reaktionen prompt. Oft vergehen nur Minuten nach einer Anfrage, und Hilfe in Form von Lebensmittelgutscheinen, Esswaren oder auch Bargeld wird angeboten. Doch öffentlich zur Armut bekennen müsse sich niemand, erklärt Rosa Kolm, die Gründerin von «Zuger helfen Zugern». «Es gibt zwar keinen Grund, sich deshalb zu schämen. Armut kann jeden treffen. Dennoch verstehe ich es, wenn jemand seine Würde nicht verlieren möchte, indem er sich zur Armut bekennt.» Darum können Bedürftige ihre Anliegen auch bei den Administratoren vorbringen, welche dann ihrerseits eine Anfrage veröffentlichen.

Verdoppelung der Mitgliederzahl seit Anfang Jahr

2439 Mitglieder zählt die Gruppe «Zuger helfen Zugern» heute. Mehr, als sich Rosa Kolm je erträumt hätte. Sie hat die Plattform vor eineinhalb Jahren aufgegleist – aus Gründen, die ihr selber unangenehm zu sein scheinen: «Ich bin alleinerziehend mit drei Kindern, unsere Situation war nicht immer einfach. Hilfsplattformen gab es zwar vor ‹Zuger helfen Zugern› schon, doch oft waren diese überregional. Für jemanden, der aufs Geld achten muss, lohnt es sich nicht, etwas in Bern abzuholen.»

Deshalb hat sich die Zugerin entschieden, eine kleine Plattform zu gründen, «zuerst nur unter Bekannten, im Sinne der Nächstenhilfe». Am Anfang sei es schleppend vorangegangen, doch zu Beginn dieses Jahres sei die Mitgliederzahl förmlich explodiert. «In den letzten vier Monaten verdoppelte sich die Zahl.»

Rosa Kolm führt die Gruppe mittlerweile gemeinsam mit Carmen Aeschbach Hassan und Melissa Sommerhalder. Alleine könne sie die vielen Anfragen und Einträge nicht mehr stemmen. «Ich bereue es zwar überhaupt nicht, die Gruppe gegründet zu haben, doch gibt es Tätigkeiten, die momentan tatsächlich zu kurz kommen. Beispielsweise habe ich keine Zeit mehr zum Lesen oder Handarbeiten.»

Streite schlichten gehört zum Job

Nicht alles darf man bei «Zuger helfen Zugern». Wo liegen die Grenzen der Gruppe? «Wenn jemand beispielsweise eine Wohnung für 3500 Franken im Monat anbietet, macht das in dieser Gruppe wenig Sinn. Solche Einträge löschen wir. Auch Beiträge, die nicht im angemessenen Umgangston sind. Und natürlich Kreditwerbungen. Zudem tolerieren wir auf der Seite keine Verkäufe mehr. Es dürfen nur Dinge oder Dienstleistungen verschenkt werden.» Und solche Angebote gibt es tatsächlich. Ein Elektriker etwa, der den Mitgliedern offeriert, kleinere Probleme zu lösen. «Natürlich gratis und nach seiner eigentlichen Arbeitszeit», so Kolm.

Der Verkauf von Waren wurde indes ausgelagert auf die neue Website, welche die Administratoren Anfang April gegründet hatten. Der zweite Grund für die Website sei, «dass es – man glaubt es kaum – Menschen gibt, die keinen Facebook-Account haben».

Halten sich Mitglieder nicht an die Regeln, werden sie innert Minuten von anderen Mitgliedern zurechtgewiesen – oft sind es immer wieder die gleichen User, die eine Art ungefragte Selbstjustiz ausüben. Und das nicht immer in angemessenem Ton. Schlussendlich liegt es an den Administratoren, Beiträge zu löschen und Keifereien zu schlichten. Auch das gehört offenbar zur Arbeit.

Und es gibt sie doch, die Armen

Diese Woche feierte die Facebook-Gruppe einen neuen Erfolg. «Zum ersten Mal durften wir von ‹Zuger helfen Zugern› beim Coop City abgelaufene Lebensmittel mitnehmen. Weil ich selber beim Coop gearbeitet habe und die entsprechenden Kontakte habe, konnte ich das mit dem Geschäftsführer so ausmachen. Einzig ein Haftungsausschluss musste dafür unterschrieben werden, damit Coop später nicht wegen Mängel belangt werden kann.»

«Es ist eine alte Frage, ob es selbstloses Handeln überhaupt gibt.»

Dirk Helbing, Soziologieprofessor an der ETH Zürich

Zug ist nicht gerade bekannt für seine Sozialbezüger und Armen. Ist es für Kolm ein seltsames Gefühl, gerade in diesem Kanton eine solche Plattform zu leiten? «Zug hat zwar ein sehr gutes Sozialsystem, das auch funktioniert.» Dennoch habe auch sie erstaunte Reaktionen erlebt: «Beispielsweise wunderten sich Leute aus der Nachbarschaft, dass es auch hier Menschen gibt, die sich nichts zu Essen leisten können. Das sagt ja auch niemand laut. Es gibt jedoch mehr Arme, als man denkt.»

Eine Plattform widerspricht der Idee des «Homo oeconomicus»

Die Facebook-Gruppe widerspricht gängigen Vorurteilen. Die Gesellschaft sei egoistisch, der «Homo oeconomicus» regiere die Welt, dieser ist selbstsüchtig und ein Opportunist. Der Soziologe Dirk Helbing sagt dazu: «Es ist eine alte Frage, ob es selbstloses Handeln überhaupt gibt. Dennoch gibt es immer wieder Beispiele dafür. Menschen helfen anderen, obwohl sie diese niemals wieder sehen. Jemand spendet viel Geld für einen guten Zweck und bleibt selbst anonym. All diese Dinge stellen die Theorie in Frage, dass der Mensch im Grunde egoistisch ist.»

«Auf solchen Plattformen können unglaubliche Dynamiken entstehen, weil hier Menschen selber mitgestalten können.»

Dirk Helbing, Soziologieprofessor an der ETH Zürich

Auch der Mikrokosmos «Zuger helfen Zugern» ist ein solches Beispiel. Denn helfen wollen viele. Aber wird hier tatsächlich selbstlos gehandelt oder geht es vor allem auch darum, sich ein gutes Gefühl zu verschaffen? Helbing erklärt: «Die meisten Menschen möchten ein sinnerfülltes Leben führen, gebraucht werden, zu etwas gut sein. Und das kann sehr befriedigend sein. Es gibt viele Probleme in der Welt, wo der Einzelne kaum etwas verbessern kann. Auf solchen Plattformen können erstaunliche soziale Dynamiken entstehen, weil die Menschen selber mitgestalten und die Welt um sich herum verbessern können. Mit den virtuellen Welten kommt dieses Thema nun immer mehr auf.»

 

Haben Sie selber bereits Erfahrungen gemacht mit der Plattform «Zuger helfen Zugern»? Teilen Sie diese in der Kommentarfunktion mit!

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