Neues Buch «Zweiheimisch»

Zentralschweizer rücken stille Zugezogene in den Fokus

Haben die Geschichten von 12 zugewanderten Menschen in einem Buch festgehalten: Daniel Schriber und Rahel Lüönd mit ihrem Buch «Zweiheimisch». (Bild: ida)

Nicht wenige fühlen sich in mehreren Ländern heimisch. Das neue Buch der Schwyzerin Rahel Lüönd und des Luzerners Daniel Schriber bringt uns zwölf persönliche Geschichten von Zugezogenen näher. Von Zugezogenen, die sonst eher übersehen werden oder die in der Schweiz «ganz im Stillen heimisch» wurden.

Der 21. August 1968 hat sich ins Gedächtnis von Irena Pechous eingebrannt. Mitten in der Nacht schreckt sie auf, vom schrillen Klang ihres Telefons geweckt. «Weisst du es schon? Die Tschechoslowakei ist besetzt», hört sie durch die Telefonmuschel. Truppen des Warschauer Pakts sind einmarschiert, haben dem Prager Frühling und dem Versprechen, einen «Sozialismus mit menschlichem Antlitz» zu schaffen, ein harsches Ende bereitet.

«Für einen kurzen Moment stand unser kleines Land im Mittelpunkt des Weltgeschehens – und wurde danach wieder vergessen. Nur wir werden diese Bilder nicht vergessen», sagt Irena Pechous im Buch «Zweiheimisch».

1968 ist sie von der ehemaligen Tschechoslowakei in die Schweiz geflüchtet und lebt mittlerweile seit 52 Jahren hier. In Luzern hat sie ihr neues Zuhause gefunden. Regelmässig ist sie heute mit ihrem Elektrorollstuhl, den sie «Porsche» getauft hat, am Rotsee anzutreffen. Irena Pechous ist eine von zwölf Personen, deren Geschichte im neuen Buch «Zweiheimisch» Gehör finden. Es sind Menschen, die entweder selber in die Schweiz eingewandert oder als Kinder von Einwanderern hier aufgewachsen sind. Und somit eben mehr als eine Heimat haben.

Irena Pechous ist einer von 12 Menschen, deren Geschichte im Buch «Zweiheimisch» erzählt wird.

An zwei Orten heimisch sein

Die Geschichten haben Rahel Lüönd aus Schwyz und Daniel Schriber aus Luzern aufs Papier gebracht. Beide haben sich beruflich seit Jahren dem Text verschrieben und schreiben als Freischaffende Texte für Unternehmen, Organisationen und Zeitungen.

Die Erlebnisse in dem Buch handeln von Flucht, Aussicht und Hoffnung auf bessere Perspektiven, Neuanfang. Vom Optimismus und von den Schattenseiten. An gewissen Stellen lächelt man, an anderen gerät man als Lesende ins Nachdenken, muss leer schlucken, wird traurig. Wie an der Stelle, in der Safoura Bazrafshan erzählt, wie sie nach ihrer Flucht aus dem Iran in die Türkei mit anderen mittels Gummiboot vom Küstenort Çeşme nach Europa geflüchtet ist. Die ersten beiden Versuche scheiterten. Beide Boote sanken. Sie konnte sich retten, an Land zurückschwimmen. Beim ersten Mal konnten auch alle anderen gerettet werden. «Was beim zweiten Mal mit den anderen Leuten geschah, weiss ich nicht …»

«Uns war es wichtig, ganz normale Menschen zu zeigen.»

Rahel Lüönd, Initiantin und Autorin von «Zweiheimisch»

Allen Protagonistinnen wurden auch die Frage gestellt, wo sie sich heimisch fühlen. Was Heimat für sie bedeutet. Oder was Heimaten für sie bedeuten – das Gefühl, sich an mehr als zwei Orten heimisch zu fühlen. So ist für Irena Pechous die Schweiz «teilweise» zu ihrer Heimat geworden. Sie zieht einen Vergleich zu einer Pflanze, die an einen anderen Ort versetzt wird. «Sie wächst und gedeiht, aber der Samen wurde in einer anderen Erde zum Leben erweckt. So ist es auch bei mir. Meine Wurzeln sind und bleiben in Tschechien.»

Der Mensch als Individuum im Fokus

An diesem Dienstagabend fand in der Kornschütte Luzern die Vernissage des Buches statt. Rahel Lüönd, Initiantin und Autorin des Buches, sagte, dass sie möglichst viele verschiedene Menschen für das Buch zu gewinnen wollten. «Uns war es wichtig, ganz normale Menschen zu zeigen. Menschen, die echt sind, die nicht besonders schrill und auffällig sind.» Sie lasen sich durch Lokalzeitungen, führten Gespräche mit Organisationen, um die passenden Protagonisten zu finden. Das Ziel: Zu zeigen, wie Zweiheimische in der Schweiz leben. Die Menschen in den Fokus zu rücken. Als Individuen, so wie sie sind, wie sie fühlen und leben – und was sie zu dem gemacht hat, was sie heute sind.

«So unaufgeregt und bescheiden wie das Leben in der Schweiz ist, so geschieht auch das Heimischwerden von Zugezogenen oftmals im Stillen.»

Ylfete Fanaj, SP-Kantonsrätin

Wichtig war es Lüönd und Schriber auch: Menschen nicht auf ihren Migrationshintergrund zu reduzieren. Das Buch zeigt die Vielfalt von Biografien auf, die Geschichten von Menschen, dank denen man beim Lesen «mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede» erkennt, sagt Lüönd.

Diejenigen ins Licht rücken, die «dazwischen» sind

Das Buch zeigt die Geschichten von Zugezogenen, die hier ein ganz normales Leben führen. «So unaufgeregt und bescheiden wie das Leben in der Schweiz ist, so geschieht auch das Heimischwerden von Zugezogenen oftmals im Stillen», schreibt Ylfete Fanaj, Luzerner SP-Kantonsrätin. Sie hat das Vorwort des Buches geschrieben. «Sie passen sich dem Rhythmus der Schweiz an, ihre Aufstiege passieren einfach, ohne viel Aufhebens. Wenn den Schweizerinnen und Schweizern der Aufstieg auffällt, so gilt man oft als Ausnahme – wie auch ich selbst immer wieder erfahren musste.»

Fanaj amtete bis Anfang Sommer 2021 als höchste Luzernerin, als Kantonsratspräsidentin. Damit hat sie Geschichte geschrieben: Denn sie war die erste gebürtige Kosovarin, die in der Schweiz in ein so hohes Amt gewählt wurde (zentralplus berichtete). Wie die Politikerin im Vorwort schreibt, hört und liest man nur von (angeblichen) Ausnahmen oder von jenen Zugezogenen, die negativ auffallen. Alle anderen, die dazwischen sind, würden nur selten ins Licht der Öffentlichkeit geraten. Etwas, was dieses Buch ändert. Weil es genau solchen Geschichten Raum gibt.

Hinweis: «Zweiheimisch – Zwölf persönliche Geschichten aus dem Einwanderungsland Schweiz» wurde vom Verlag Edition De Caro diesen September herausgegeben. Die Texte sind von Rahel Lüönd und Daniel Schriber, die Fotografien von Paolo De Caro. Die Verlegerin ist Rachele De Caro. Das 184-seitige Buch ist für 49 Franken im Buchhandel erhältlich.

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